Weg mit dem Erfolgsrezept!

Von Jannik Schneider
Kaum ist sie ganz oben, will sie ihr Spiel ändern: Angelique Kerber
© getty

Für Angelique Kerber geraten die WTA-Finals in Singapur (ab Samstag, 23. Oktober live und auf Abruf auf DAZN) zu einer Art Grenzerfahrung - mental, aber vor allem körperlich. Keine Top-Spielerin hat 2016 mehr Einzel absolviert. Der Oberschenkel zwickt, die Schulter schmerzt. Dass sie sich den Status einer Vielspielerin nicht länger leisten kann, hat die Nummer eins der Welt jetzt selbst eingeräumt. Und das soll nicht die einzige Umstellung bleiben.

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Singapur, wird Angelique Kerber nicht müde zu betonen, ist ein besonderer Ort für die Kielerin. Hier endete bei der letztjährigen Auflage des Final-Turniers ein allem Anschein nach lang andauernder Lernprozess. Nur einen Satzgewinn benötigte die damalige Weltranglisten-Fünfte im letzten Gruppenspiel gegen die Tschechin Lucie Safarova, um das Halbfinale der inoffiziellen Tennis-WM 2015 zu erreichen.

Und wie schon so oft bei Großereignissen der Vergangenheit scheiterte sie an der öffentlichen sowie der eigenen Erwartungshaltung, verlor 3:6, 4:6: "Diesem Druck habe ich nicht standgehalten, ich war mental schwach. So bin ich in den Urlaub gestartet, das war kein schönes Gefühl. Und da wusste ich, das soll mir nie wieder passieren in meiner Karriere", erklärte Kerber rückblickend im Interview mit SPOX nach ihrem US-Open-Titel im September. Sie sei mit dem Vorsatz ins Jahr 2016 gestartet: "Wenn ich etwas erreichen will, dann muss ich selber den Schalter umlegen und versuchen, mutiger zu sein."

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Diesen Schalter, das hat die beste deutsche Spielerin seit Steffi Graf eindrucksvoll bewiesen, hat sie definitiv gefunden: Kerber hat sich in diesem Jahr das Selbstvertrauen und die mentale Stärke eines Champions erspielt. Sie hat sich selbst und der Öffentlichkeit bewiesen, dass sie sich während ihrer vierjährigen Zugehörigkeit zu den Top Ten weiterentwickelt und negative Erfahrungen in positive Energie umgewandelt hat.

Kerber lernt schnell

Selbst in diesem Jahr hat sie aus Niederlagen und nach neu erlebten Situationen kurzfristige Lehren gezogen: Etwa, dass eine Grand-Slam-Siegerin während eines riesigen Medienaufkommens nach einem großen Titel auch mal nein sagen darf und muss. Oder wie man sich in kürzester Zeit von einem unerwarteten Erstrundenaus auf der Asche von Roland Garros erholt und daraus gestärkt hervorgeht.

Mit dem selbst erarbeiteten Vorsatz von Singapur 2015 im Hinterkopf entstand Großes: die ersten beiden Grand-Slam-Titel in Australien und New York, die Finalteilnahme in Wimbledon und bei den olympischen Spielen von Rio, sowie der Heimsieg in Stuttgart. Es ist die mit Abstand beste Saison in der Karriere der 28-Jährigen, die das Jahr nach der verletzungsbedingten Absage von Serena Williams als Nummer eins abschließen wird - unabhängig von Erfolg oder Misserfolg in Singapur.

Und dennoch wird der Saisonabschluss, der mit sieben Millionen Dollar dotiert ist, nicht langweilig. Denn bereits im Vorfeld des Turniers hat das Team Kerber eine wichtige Erkenntnis dieses Jahres öffentlich gemacht: Stichwort "Turnierplanung 2017". In der Sport Bild gab Kerber diese Woche an, ihren Turnierkalender in der kommenden Saison ausdünnen zu wollen.

Die "Vielspielerin" denkt um

Eine wohl richtige Einsicht, die für die diesjährigen Finals etwas zu spät kommen könnte, allerdings langfristig die Haltbarkeitszeit als Nummer eins verlängern kann. Und klar ist auch: Mit der Anpassung hat das so erfolgreich arbeitende Team um den langjährigen Coach Torben Beltz und Physiotherapeutin Cathrin Junker auch für ein mögliches frühes Aus in Singapur und damit verbundener Kritik an der Planung der vergangenen Monate vorgesorgt.

Was bringt einem schließlich mentale Stärke, die sich Kerber ohne Zweifel hart erarbeitet hat, wenn die körperliche Verfassung beim fünften und letzten Saisonhöhepunkt nicht mehr passt? Die Linkshänderin als Vielspielerin zu bezeichnen, ist eine Untertreibung. Die US-Open-Championesse hat im laufenden Kalenderjahr 20 Turniere bestritten - das Olympiaturnier und die beiden Fed-Cup-Auftritte nicht eingerechnet. Mit Karolina Pliskova (21) und Dominika Cilbulkova (22) waren lediglich zwei Top-Ten-Spielerinnen noch länger auf Reisen.

Das Problem: Aufgrund des Erfolgs hat Kerber deutlich mehr Matches bestritten (76) als Pliskova (62) und Cilbulkova (69). Auch allen weiteren Top-Spielerinnen stecken - zum Teil deutlich - weniger Matches in den Knochen. Die Folge: Kerber ist mit 59 Einzelsiegen die erfolgreichste des Jahres (Radwanska folgt mit 51 auf Rang zwei).

Verletzungssorgen auf Asien-Tour - Kritik an Ballwahl

Andererseits traten aufgrund ihrer laufintensiven Spielweise trotz bester Voraussetzungen - Kerber gehört zweifelsfrei zu einer der fittesten Spielerinnen der WTA-Tour - zum Ende der Saison körperliche Probleme auf. Auf der Asien-Tour plagte sie sich in Peking bis zum Achtelfinal-Aus gegen Elina Svitolina zunächst mit Oberschenkelproblemen herum. Beim deutlichen Aus vor Wochenfrist in Hongkong gegen Daria Gavrilova klagte sie anschließend über Schmerzen in der Schulter.

Die Organisatoren kamen ihr dabei nicht unbedingt entgegen. Wie auch einige Stars auf der Herren-Tour (Andy Murray und Rafael Nadal) übte Kerber Anfang des Monats Kritik an der zunehmend diffuseren Bällewahl der ATP und WTA und gab die unterschiedlichen Ballsorten als einen Grund für ihre lädierte Schulter an. "Wir können nicht jede Woche mit neuen Bällen spielen. Für die Schulter ist das nicht gut", erklärte die Weltranglistenerste gegenüber tennisnet.com. Sie fordert wie viele andere den Einheitsball: "Vielleicht können wir auch zwischen zwei Bällen wechseln. Mehr aber nicht."

Der Einfluss Kerbers auf diese Entscheidung jedoch ist gering - und die Kielerin weiß, dass sie im Januar 29 Jahre alt wird und vor den WTA-Finals auf dem Zahnfleisch geht. Gut, dass sie für 2017 an der Stellschraube dreht, auf die sie selbst Einfluss hat.

Kerber will ihr Spiel verändern

Gedreht werden soll aber nicht nur am Kalender, sondern auch am eigenen Spiel. Künftig will die Linkshänderin schneller die Punkte im Match machen. Sie arbeite mit ihrem Trainer Torben Beltz im Training daran, ihr Spiel noch etwas effizienter und somit kraftsparender zu gestalten", sagte sie der Sport Bild.

Das dürfte allerdings ungleich schwerer sein, als den Turnierplan einzudampfen. Jahrelang widerstrebten Kerber kurze Ballwechsel komplett. Die jüngere Angie ließ sich weit hinter die Grundlinie treiben, flitzte von links nach rechts und zermürbte ihre Gegnerinnen oft genug in kräftezehrenden Dreisatz-Erfolgen.

In der Tendenz ist ihr Spiel zu dieser Saison ganz klar zielstrebiger und offensiver geworden. Anders wären die Erfolge auch gar nicht möglich gewesen. Eine erste Umstellung hat sie also hinbekommen. Eine noch offensivere Ausrichtung benötigt jedoch Zeit - Zeit, die sie nur bedingt hat. Denn die neue Taktik samt Schlagrepertoire müssen nicht nur im Training, sondern auch in Drucksituationen in der neuen Saison funktionieren. Das wird spannend zu beobachten sein.

Einen Turnierkalender auszudünnen, das geschieht auch nicht mal eben im Vorbeigehen. Fräulein Wunder steckt langfristig in einer Zwickmühle. Die Deutsche benötigt für ihren Erfolg zweifelsfrei eine gewisse Matchhärte, um den Rhythmus für ihr gefürchtetes Kontertennis zu finden. Dazu muss sie also verhältnismäßig viele Turniere vor den Saisonhighlights spielen - mehr als manch andere Topspielerin. Genau diese Vorgehensweise hat die Deutsche mit polnischen Wurzeln stark gemacht.

Weniger Matches nach den Grand Slams?

Im September schien es, als gebe Kerber die alte Fußballer-Weisheit "Never change a winning team" als Marschroute für ihren Turnierplan vor. Damals bestätigte sie dem sid, dass sie ihre Saison 2017 - wie im Jahr zuvor auch - mit dem Vorbereitungsturnier in Brisbane beginnen werde: "Man muss die Turniere spielen, die einen auf die großen Momente vorbereiten", lautete ihre Begründung. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, gerade weil es nur zwei Turniere vor dem ersten Grand Slam des Jahres gibt.

Um die Haltbarkeitszeit als Nummer eins selbstbestimmt so lange wie möglich auszudehnen, ist die Zeit zwischen den Grand Slams wichtiger. Hier könnte das Team Kerber geschickte Anpassungen vornehmen. Längere Pausen etwa (dieses Jahr waren es zwei Wochen) nach dem ersten Fed-Cup-Wochenende und nach Wimbledon. Immer unter der Prämisse: Wo hat sie Punkte zu verteidigen, wo kann sie sich rar machen?

Serena als Vorbild?

Dass sie wie Hauptrivalin Serena Williams zwischen den French Open und Wimbledon kein einziges Match unter Wettkampfbedingungen bestreitet , wäre wohl zu viel des Guten. Kerber benötigt den Rhythmus. Umso mehr noch, wenn der Belag wechselt. Doch an der langjährigen Herrscherin auf der WTA-Tour, die auch in verletzungsfreien Saisons im gestiegenen Alter lediglich 15 Turniere im Jahr absolvierte, kann sie sich etwas orientieren.

Denn ob die Auswahl der gesamten Asien-Tour im September und Oktober vor den Finals notwendig war und auch nächstes Jahr bleibt, darf zumindest hinterfragt werden.

Für die laufende gilt zumindest: Nach den vergangenen vier Wochen mit körperlichen Problemen und frühen Niederlagen hat Kerber die Favoritenrolle zwar immer noch inne. Stärker und fitter wirkt aber vor allem Agnieszka Radwanska, mit der sie unter der Woche noch auf Shopping-Tour in Singapur war. Die beiden Freundinnen hatten sichtlich Spaß.

Ob sie sich dabei auch über Vorsätze wie einen angepassten Turnierplan unterhalten haben, ist nicht überliefert. Doch Kerber weiß selbst genau: Vorsätze, die in Singapur dingfest gemacht werden, scheinen ihr Erfolg zu versprechen. So ließ sie im ARD-Morgenmagazin am Mittwoch zumindest schon mal durchblicken: "Nach Singapur werde ich irgendwo hinfliegen und Sonne, Strand und ganz viel Ruhe genießen. Dann werde ich auch das Jahr Revue passieren lassen."

Die wohl wichtigste Entscheidung haben sie und ihr Team aber schon jetzt getroffen.

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