Der Wechsel an der Ranglistenspitze birgt vor den ATP-Finals in London (ab Sonntag live auf DAZN und im LIVETICKER) eine besondere Brisanz. Novak Djokovic muss sein mentales Tief besiegen, wenn er den formstarken Andy Murray wieder vom Thron stoßen möchte. Gelingen wird das nicht. Beim ersten Saisonfinale seit 14 Jahren ohne Roger Federer oder Rafael Nadal wird es auf den Plätzen dahinter einige Verschiebungen geben.
8. Dominic Thiem(Gruppe Ivan Lendl)
Die österreichische Nummer eins ist von der ATP für den Award des "Most Improved Player 2016" nominiert worden - eine Ehre, die unter anderem auch Alexander Zverev zuteil wird. Und Thiem hat sich die Anerkennung für einen der Spieler, die sich dieses Jahr am stärksten entwickelt haben, redlich verdient.
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Der 23-Jährige hat sich vor allem durch ein überragendes erstes Halbjahr an und in die Top Ten der Weltrangliste hineingespielt. Während der Sandplatz-Saison sicherte er sich erst die Titel in Buenos Aires und Acapulco, erreichte in München das Finale und glänzte mit tollen Resultaten bei den Masters-Events. Als Krönung erreichte er bei den French Open das Halbfinale und unterlag erst dort dem späteren Sieger Novak Djokovic.
Nach einer durchschnittlichen Rasensaison und dem Achtelfinal-Aus bei den US Open überzeugte der Hardhitter nur noch beim Finaleinzug in Metz im September. Thiem hat extrem viel gespielt (27 Turniere). Dieses Engagement hat ihn - trotz Verletzungspechs einiger Topstars - zurecht nach London gebracht.
Um bei der ersten Finals-Teilnahme aber Akzente zu setzen, scheint der körperliche Akku nicht mehr ausreichend gefüllt - auch wenn sein Trainer Günter Bresnik dieser These zuletzt widersprach und betonte, die Tenniswelt werde in London einen konkurrenzfähigen Dominic Thiem erleben. Dennoch dürfte es maximal für einen Sieg gegen Milos Raonic reichen. Doch beim einzigen Duell dieses Jahr in Cincinnati hatte der Shootingstar noch (zu) große Probleme, die Varianten des kanadischen Aufschlagriesen zu lesen. Thiems Zeit wird kommen.
7. Kei Nishikori (Gruppe John McEnroe)
Der japanische Volksheld überzeugt mit einer brutalen Konstanz. Neben dem Sieg bei seinem Lieblingsturnier in Memphis stehen vier Finalteilnahmen zu Buche. Bronze bei den Olympischen Spielen sowie Topresultate bei den Masters Turnieren sprechen für die Nummer fünf der Welt.
Doch bei den Grand Slams steht dieses Jahr lediglich ein Halbfinale (US Open) in der Vita - auch, weil immer mal der Körper streikte. Doch der Hauptgrund ist bei aller Raffinesse und Grundschlägen wie ein Schweizer Uhrwerk, die er unter Michael Chang entwickelt hat, der zu oft fehlende K.o.-Schlag.
Ein Stan Wawrinka etwa ist nicht halb so konstant wie der 26-Jährige. Aber bei den großen Turnieren hat er mehrmals die Waffen ausgepackt, um Djokovic, Murray und Co. nicht nur zu ärgern, sondern auch zu besiegen.
Diesen Beweis wird der Wahlamerikaner aller Voraussicht nach auch in London schuldig bleiben. Zumal er mit Murray und Wawrinka die stärkere Gruppe erwischt hat. Gegen den formstarken Marin Cilic hat er zuletzt im Finale von Basel denkbar knapp verloren. Unwahrscheinlich, dass es für einen Einzelsieg reichen wird.
6. Milos Raonic (Gruppe Ivan Lendl)
Den Kanadier auf seine brutalen Aufschläge zu reduzieren, wird ihm schon lange nicht mehr gerecht. Raonic spult zwar oftmals seine Spielzüge ab. Mit der Eintönigkeit der Jahre 2013 oder 2014 hat das aber nicht mehr viel gemein. Zudem ist es mehr als respektabel, wie der Rechtshänder sein Volleyspiel nochmals präzisiert hat.
Der 25-Jährige arbeitet ungemein professionell, in den Augen einiger Experten übertreibt er die Detailversessenheit zuweilen sogar. Die bitteren Niederlagen im Halbfinale der Australian Open gegen Andy Murray und wenig später die Klatsche gegen Djokovic im Finale von Indian Wells dürfte seine Kritiker bestätigt haben.
Saisonhöhepunkt der momentanen Nummer vier der Welt war die Rasensaison. Hier wurde er sowohl beim Vorbereitungsturnier im Queen's Club als auch in Wimbledon in den Finals unsanft von Murray ausgebremst.
Raonics Traum - das hat er unlängst unterstrichen - ist es weiterhin, die Nummer eins zu werden. Stand November 2016 ist er jedoch weiterhin nicht variabel genug, um das zu realisieren und damit auch nicht bereit, ein ATP-Finale zu gewinnen.
Das Schlüsselspiel wird die Partie gegen Gael Monfils sein. Der Franzose führt im direkten Vergleich mit 3:2 und fügte dem Kanadier im Herbst vor heimischer Kulisse eine bittere Viertelfinalniederlage zu. Tendenz: Monfils' momentaner Mix hat die besseren Chancen auf das Erreichen der Vorschlussrunde.
5. Marin Cilic (Gruppe John McEnroe)
Der US-Open-Champion von 2014 hat seit dem Turniersieg von Cincinnati im August einen Selbstvertrauensschub erhalten und dem frühen Aus bei seinem Lieblingsturnier gegen Jack Sock getrotzt. Cilic legte einen goldenen Herbst hin, der zuletzt in einem Turniersieg in Basel mündete.
Der Kroate ist damit neben Murray der vielleicht formstärkste Akteur in London. Aber anders als bei den Frauen, wo die zuletzt überragenden Svetlana Kuznetsova und Dominika Cibulkova aus ihrer Form brutal Kapital schlugen, reicht das bei den ATP-Finals allein nicht fürs Halbfinale.
Der Grund: Stan Wawrinka, der zwar wesentlich schlechtere Ergebnisse vorzuweisen hatte zuletzt, aber in London glänzen wird. Erfolge bei Slams geben einfach noch mehr Vertrauen in die eigenen Waffen. Zumal der Schweizer im direkten Vergleich (10-2) klar führt. Damit wird es knapp nicht fürs Weiterkommen reichen. Das würde in der anderen Gruppe momentan anders aussehen.
4. Gael Monfils(Gruppe Ivan Lendl)
Die Zuschauer in London dürfen sich erstmals auf einen der besten Shotmaker und den vielleicht beeindruckendsten Athleten freuen, den der Tennissport je gesehen hat. Der Grund: Gael Monfils hat das beste Jahr seiner bewegten Karriere hingelegt. Gestartet ist er von Position 25 - in dieser Woche rangiert der Franzose auf Platz sechs.
Der Davis-Cup-Spieler sicherte sich in Washington seinen größten Individualtitel und erreichte in mOMACO sein erstes Masters-Finale seit sechs Jahren. Gegenüber der ATP bekannte er vor Wochenfrist: "Die Leute vergessen, dass wir irgendwann erwachsen werden. Ich bin jetzt 30 geworden und habe auf viele Dinge eine andere Sicht."
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Die weise Einsicht half seinem neuen Coach Mikael Tillström individuelle Abläufe in der Vor- und Nachbereitung von Turnieren zu verbessern. Zwar ist Monfils immer noch nicht besessen von Regeln. Aber die Einsicht im Alter half, den nächsten Schritt zu gehen.
Die Konsequenz war der Halbfinaleinzug bei den US Open. Und auch, wenn es im Herbst etwas ruhiger um den Franzosen wurde und er zuletzt wegen einer leichten Hüftverletzung pausieren musste, ist einiges von ihm zu erwarten. "Ich fühle, dass mein Spiel nicht weit von der Spitze entfernt ist und ich bin voller Hoffnung, das in London unter Beweis zu stellen", so Monfils. In der etwas leichteren Gruppe wird Monfils sich hinter dem Djoker durchsetzen.
3. Novak Djokovic (Gruppe Ivan Lendl)
Wer nach dem gewonnenen French-Open-Finale den weiteren Saisonverlauf des Serben skizziert hätte, wäre mit großer Wahrscheinlichkeit auf einheitliches Unverständnis gestoßen. Doch tatsächlich fiel der Djoker erst in ein mentales, dann in ein spielerisches Loch.
In diesem Zeitraum überraschte er mit mehreren Interviews, in denen er offene Einblicke in sein Seelenleben gewährte. Der Branchenprimus hat - wohlgemerkt auf extrem hohem Niveau - zeitweise seine Balance verloren, was dazu führte, dass er begann, alle Komponenten seines Umfelds zu hinterfragen. Dazu gehört auch, ob er im kommenden Jahr weiter mit Boris Becker arbeiten wird. Diese Überprüfungen helfen ihm kurzfristig bei den Finals allerdings gar nichts.
Die Halbfinalniederlage vor Wochenfrist in Paris gegen Marin Cilic und der Verlust der Nummer eins werden ihm langfristig neuen Ehrgeiz eingehaucht haben. Kurzfristig wird er sein Spiel aber nicht von 90 Prozent an die absolute Leistungsgrenze heben können. Dazu ist er nicht der Typ.
Der Djoker benötigt Balance, Stabilität, eine hohe Quote und das Selbstvertrauen, diese Eigenschaften mit einer Leichtigkeit fehlerfrei gegen jeden Gegner der Welt einsetzen zu können. Die fehlt ihm momentan und deswegen wird er spätestens in einem möglichen Halbfinale gegen Wawrinka Probleme bekommen.
Immerhin versprühte der Superstar unter der Woche wieder Optimismus. In den sozialen Medien postete er ein Trainingsfoto garniert mit den Worten: "Raus aus den Federn. Es ist Zeit für Rock'n'Roll". Doch bereits in der Vorrunde wird der Djoker Schwerstarbeit verrichten müssen.
2. Stan Wawrinka (Gruppe John McEnroe)
Bereits im Panel auf SPOX nach dem gewonnenen US-Open-Finale gegen Djokovic erklärte der Ex-Profi Alex Antonitsch: "Wawrinka ist einer der wenigen Spieler, vor dem jeder Respekt hat und der ein Schlagrepertoire besitzt, um einen Djokovic zu schlagen."
Zwei Monate später muss man diesen Satz auf Andy Murray ausdehnen. Als dreifacher Grand-Slam-Champion hat Stan alles, um auch die ATP-Finals erstmals zu gewinnen.
Der Schweizer ist einer der wenigen Akteure auf der Tour, bei dem die aktuelle Form eine etwas untergeordnete Rolle in der Bewertung spielen darf. Zugegeben: Seit dem Titel in New York wurde es etwas ruhig um die Nummer drei der Welt. In St. Petersburg erreichte er noch das Finale (Niederlage gegen Alexander Zverev). Danach folgten unerwartete Pleiten unter anderem gegen Mischa Zverev und zuletzt gegen Jan-Lennard Struff.
Doch Wawrinka liebt die große Bühne, auch, weil er sich über die Jahre mental konsequent gesteigert hat und mittlerweile über eine beeindruckende Final-Bilanz verfügt. Behält er gegen den formstarken Cilic in der Gruppe die Oberhand, ist das Halbfinale gebucht. Dann würde es wohl zum hochinteressanten Duell gegen Djokovic kommen. Der 31-Jährige hätte dabei beste Chancen, die Oberhand zu behalten.
1. Andy Murray(Gruppe John McEnroe)
Viele Fans von Roger Federer haben sich jahrelang über das angeblich limitierte Konterspiel des Schotten lustig gemacht, mit welchem er gegen Federer und Djokovic dauerhaft nicht konkurrenzfähig sei. Im November 2016 grüßt er von der Spitze der Weltrangliste.
Und das völlig zurecht: Murray hat seit dem verlorenen French-Open-Finale noch ganze zwei Einzel abgeben müssen (eines davon im Davis Cup). Zuletzt gewann er vier Turniere in Serie. Der 29-Jährige wirkt trotz der langen Saison mit vielen Spielen körperlich topfit, was dem Fitnessprogramm zuzuordnen ist, das Murray um den Jahreswechsel regelmäßig abspult. Tommy Haas bezeichnete die Umfänge und Intensität Murrays in der Vorbereitung einst als unmenschlich.
Doch Murray hat auch deswegen sein Spiel perfektioniert. Mental strotzt er naturgemäß in diesen Wochen vor Selbstvertrauen. Ein Gegner auf absoluter Augenhöhe stellt sich ihm unter normalen Umständen momentan nicht in den Weg.
Murray kann und wird das Turnier beherrschen und letztlich für sich entscheiden. Ein Schwächeln erscheint unrealistisch. Der Schotte wird seine neue Vormachtstellung zumindest bis zu den Australian Open zementieren.
Die ATP-Finals im Überblick