Es konnte nichts mehr schief gehen bei diesem letzten Ball, der in Richtung der Spielhälfte von Nick Kyrgios und Thanasi Kokkinakis segelte. Ein letzter, scharf gespielter Rückhand-Volley und es war geschafft: Das vielleicht unkonventionellste Doppel der Tennis-Geschichte war Grand-Slam-Sieger.
Zugegeben: Es ist verlockend, den Bogen dieses Kommentars mit dem Junioren-Finale der Australian Open 2013 zu spannen. Damals schlug Nick Kyrgios seinen guten Buddy Thanasi Kokkinakis in zwei Sätzen und galt spätestens ab diesem Zeitpunkt als großes Versprechen für die Zukunft.
Dennoch gehen wir anfangs weg aus der hitzigen Rod Laver Arena in Melbourne und rein in einen stickigen Presse-Raum in den heiligen Hallen Wimbledons.
2019 saß dort der damals 24-jährige Kyrgios, nachdem er das Versprechen einer großen Zukunft wieder mal nicht einlösen konnte und beantwortete schlecht gelaunt die Fragen der von ihm weitestgehend verachteten Weltpresse. Kurz zuvor hatte der Australier in der zweiten Runde in vier umkämpften Sätzen gegen Rafael Nadal verloren und murmelte folgende bemerkenswerte Sätze in seinen Hoodie:
"Ich bin ein großartiger Tennisspieler, aber nicht gerade ein Musterprofi. Ich trainiere nicht jeden Tag wie ein Blöder und es gibt viele Dinge, die ich verbessern müsste, um auf das Level von Nadal, Federer und Djokovic zu kommen. Es hängt davon ab, wie sehr ich es will. Aber nein: Im Moment kann ich kein Grand-Slam-Turnier gewinnen."
Kyrgios nutzt sein Potenzial einfach nicht aus
Es waren Worte wie diese, die das gestörte Verhältnis der Tennis-Fans zum Bad Boy der Szene perfekt beschreiben. Da kommt ein Kerl, der laut Legende John McEnroe "das größte Talent der letzten 10 Jahre" ist und nutzt sein Potential einfach nicht. Wie oft wollte man ihn als Fan schütteln und zur Vernunft bringen: "Kapierst du denn nicht, wie gut du sein könntest?!"
Kyrgios war das aber egal. Hauptsache Show. Hauptsache Tweener, Ausraster und Zauberschläge. Hauptsache Chaos.
Genau das zeigte er auch während dieser denkwürdigen zwei Wochen in Melbourne zusammen mit seinem Kindheits-Kumpel Kokkinakis. Mit einer Ausnahme: Am Ende dürfen sich die beiden nun doch Grand-Slam-Sieger nennen.
Was war passiert? Hatte der 26-Jährige aus Canberra den Wechsel zum mustergültigen Gentleman-Profi vollzogen und sich der breiten, großteils eintönigen Tennis-Masse angepasst? Absolut nicht.
Der Weg der beiden "Ks" ins Finale war mit Kontroversen gepflastert. Die erbosten, weil geschlagenen Gegner beschwerten sich, dass die Fans regelrecht gegen sie aufgewiegelt worden seien. Ein gegnerischer Betreuer drohte den beiden sogar mit Prügel. Viele sprachen von einem "Zirkus". Der Deutsche Tim Pütz gab nach dem Aus im Viertelfinale zu Protokoll, "so etwas noch nie erlebt" zu haben. Sein Doppelpartner Michael Venus attestierte Kyrgios die geistige Reife "eines 10-Jährigen".
Kyrgios zeigt den Fans den Stinkefinger
Teilweise kann man die verbitterten Worte der Gegner nachvollziehen. Kyrgios traf im Halbfinale bei einem Wutschlag aus Versehen ein kleines Kind (schenkte dem aber danach einen Schläger), zerschmetterte sein Racquet und zeigte den Fans den Stinkefinger. Doch das alles tat der Popularität der "Special Ks" keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Getragen von einer Welle des Applaus und lauten Gröhlens, die sonst nur Rockstars bei Konzerten zu Teil wird, smashte das Aussi-Duo Kyrgios und Kokkinakis nacheinander die an Nummer eins, sechs und drei gesetzten Teams aus dem Turnier. Im teilweise spektakulären Finale hatten ihre Landsmänner Matthew Ebden und Max Purcell keine wirkliche Chance. Das alles schafft man nicht mal eben so, wenn man eigentlich nichts drauf hat.
Zum ersten Mal im Leben sei es den beiden Rowdies wichtig gewesen, tatsächlich zu gewinnen. "I want to win this f*cking thing", hatte Kyrgios nach dem Viertelfinal-Sieg über Pütz/Venus ins Mikrofon getönt. Jetzt haben er und Kokkinakis es tatsächlich getan. Die Arbeitsteilung während ihres Runs war klar verteilt: Kyrgios war für die Show zuständig und zog das Publikum auf ihre Seite, Kokkinakis war der Mann für die wichtigen Punkte.
Kyrgios hat die Argumente auf seiner Seite
Man kann alle Menschen verstehen, denen die Show des Duos zu viel war. Die besonders Kyrgios für seine Mätzchen kritisieren und ihn dafür teils sogar verachten. Die Angriffsfläche, die der 1,93 m Mann aus Canberra bietet ist zugegeben groß genug dafür.
Dennoch hat er die Argumente auf seiner Seite. Die Einschaltquoten während seiner Matches übertrafen den Standardwert um 45 Prozent! Es schalteten mehr Leute beim Doppel der verrückten Australier ein, als beim gleichzeitig spielenden Rafael Nadal, seines Zeichens 20-facher Grand-Slam-Sieger.
Darum sage ich: Lasst ihn provokativ Kaugummi kauen, Schläger zertrümmern und Tweener schlagen, bis zum geht nicht mehr. Solange es im Rahmen bleibt, ist Nick Kyrgios ein Segen für den Sport, der etwas anderes bietet, als die große Masse der viel zu braven Gentleman-Spieler: Chaos und Spektakel. Da kann ihm das Kopfschütteln der traditionellen Zuschauer egal sein.
Der Erfolg ist in diesen Tagen von Melbourne auf seiner Seite. Und wer weiß: Vielleicht löst er doch noch das Versprechen ein, die Zukunft des Tennis zu sein, wenn die "Big Three" in den Sonnenuntergang geritten sind. Wenn auch anders, als viele sich das erhofft hätten.