Der kleine Bruder des Krieges

Von Jan-Hendrik Böhmer
Auch beim Lacrosse-All-Star-Game in den USA wird mit vollem Körpereinsatz gespielt
© Getty

Es ist wieder Themenwochen-Zeit! Nachdem sich bisher immer alles um König Fußball drehte, kommt diesmal die große, bunte Welt des Sports zu ihrem Recht. SPOX hat sich außergewöhnlichen Sportarten angenommen, die nicht so im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Und weil Probieren ja bekanntlich über Studieren geht, haben die Redakteure Selbstversuche unternommen. Im letzten Teil der Themenwoche "SPOX in action" berichtet Jan-Hendrik Böhmer vom Lacrosse in München, American Pie und Indianern.

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Blut. Langsam läuft es den Zeigefinger herunter. Unbemerkt. Geradezu unspektakulär folgt es der Schwerkraft in Richtung Kunstrasen. Nur, um wenig später von einem übergroßen schwarzen Handschuh aufgesaugt zu werden. Meinem übergroßen schwarzen Handschuh.

Der sieht so aus, als würden ihn sonst nur Eishockey-Spieler tragen, ist eine Miniatur-Version der Hände des unglaublichen Hulk. Nur eben in schwarz. Und jetzt ein bisschen rot.

Video: die härtesten Lacrosse-Hits aus den USA

Jedenfalls bei mir, dem SPOX-Redakteur, der unbedingt den schnellsten Team-Sport der Welt ausprobieren wollte. Diese Mischung aus Basketball, Football, Eishockey und Fußball.

"So etwas passiert", sagt Chris Sedighi. "Schließlich ist das hier ein Kontakt-Sport." Chris, so steht es mit Edding auf dem Klebestreifen an seinem Helm, ist heute mein persönlicher Trainer. Normalerweise spielt er Bundesliga. Kurz: Er kennt sich aus, mit diesem Lacrosse. Auch mit Verletzungen: "Im letzten Spiel hat mein Daumen etwas abbekommen. Der war danach ordentlich blau."

Die richtige Haltung? Nein?

Mich hat niemand getroffen. Ich habe das ganz alleine geschafft. Durch bloßes Umklammern dieses nur wenige hundert Gramm schweren Schlägers. "Leg' dieses verdammte Ding nie wieder weg! Behalte es Tag und Nacht in der Hand. Dann wirst du ein guter Spieler", hatte mir Gary Gait im Interview erklärt. Und wenn einer Ahnung hat, dann er. Der Kanadier gilt als bester Lacrosse-Spieler aller Zeiten. Deshalb höre ich auf ihn. Immer wieder tasten meine Finger den Aluminium-Griff ab. Rutschen rauf und runter. Ist das die richtige Haltung? Offenbar nicht. Von den ersten zehn Pässen fange ich: keinen.

"Wir haben alle so angefangen", beruhigt mich Sascha Bruss. Sascha ist Nationalspieler und serviert mir den faustgroßen Hartgummi-Ball aus geschätzten fünf Metern. Mit dem "so angefangen" ist es bei ihm allerdings schon etwas her. Wie lange? Er kann sich nicht erinnern. "Anno domini", sagt er nur. An ihm kann das Nicht-Fangen also nicht liegen.

An mir schon. Ist schließlich mein erstes Training. Und dann gleich beim Tabellenführer der Bundesliga. Beim fünfmaligen deutschen Meister. Der Verein - mittlerweile mit dem lokalen Hockey-Klub zum HLC Rot-Weiß München fusioniert - ist einer der ältesten in Deutschland.

Da will man nicht versagen. Aber dieser Helm macht mich wahnsinnig. Noch bei keiner Sportart hatte ich so ein Ding auf. Das könnte ein Nachteil sein, heißt es gleich zu Beginn. Ist es. Ich bin irritiert. Fühle mich wie ein Pferd mit Scheuklappen. Auch das Beherrschen einer Schläger-Sportart würde die ersten Schritte erleichtern. Tennis? Nie probiert. Baseball? Am Fernseher.

American Pie, was sonst?

Genau daher stammen auch meine Lacrosse-Kenntnisse. Wenn in einem halbvollen Football-Stadion College-Teams spielen. Und aus American Pie.

American Pie, was sonst? Noch immer ist die Teenie-Komödie das Erste, was vielen zu Lacrosse einfällt - wenn ihnen dazu überhaupt etwas einfällt. Kein Wunder. Der Film hat eine Popkultur-Ikone erschaffen. Die einzige der Sportart. Seann William Scott alias Steve Stifler. Auch Chris saß damals im Kino. "Anschließend wollte ich unbedingt spielen", sagt der 25-Jährige.

Und das, obwohl der Weiberheld und Schul-Rüpel aus dem Film perfekt die Kritik verkörpert, der sich der Sport stellen muss. Die, dass er von einer reichen, weißen und ungehobelten Elite bewusst klein gehalten und durch Skandale in Verruf gebracht wird.

Skandale wie der an der renommierten Duke University, an der eine komplette Saison abgesagt werden musste, weil mehrere Spieler unter Vergewaltigungs-Verdacht standen und einer von ihnen angekündigt hatte, Stripperinnen umzubringen und ihnen anschließend die Haut abzuziehen.

Auf verlorenem Posten?

Das gibt es in München nicht. Der Sport hat es auch so schwer genug. "Das ist eine andere Welt", sagt Trainer Joe Kenworthy, der aus den USA nach Deutschland kam, um Entwicklungshilfe zu leisten. "An meiner Uni hatten wir sechs Trainer. Hier bin ich alleine."

College-Lacrosse ist in den USA besonders populär. Als es keine Profi-Ligen gab und sich nach dem Olympia-Aus niemand für den Sport interessierte, überlebte Lacrosse an den Universitäten der Ostküste. Lange hatte die in Football-Stadien ausgetragene Final-Serie sogar mehr Zuschauer als das Final Four beim Basketball.

In Deutschland verirren sich meist nicht mehr als 50 bis 100 Zuschauer zu den Spielen. Tribünen gibt es gar nicht erst.

Der Urvater des Lacrosse

Dabei ist Lacrosse viel älter als Football, Baseball und Basketball. Bereits im zwölften Jahrhundert spielten die Ureinwohner an der Ostküste der USA und Kanada und rund um die großen Seen den Urvater des Lacrosse. Als religiöses Ritual mit hunderten Teilnehmern. Die Spiele dauerten mehrere Tage und sollten die Krieger der Stämme auf die Schlacht vorbereiten. Sie nannten es: Den kleinen Bruder des Krieges. Nicht selten gab es Tote und Schwerverletzte.

The Little Brother Of War: Mehr über die Geschichte des Lacrosse (engl.)

Noch heute wagt sich niemand ohne Protektoren aufs Feld. Helm und Handschuhe sind bei den Herren Pflicht, Schulter-, Brust-, Rippen- und Ellenbogen-Schützer die Regel. "Und auf diesen hier verzichtet niemand", ruft ein Spieler beim Aufwärmen und entblößt seinen Tiefschutz. "Gute Investition. Kann sonst echt wehtun."

SWOOOOOOSSCCHHHH!

Das kann ich mir gut vorstellen. Bis zu 160 Stundenkilometer wird der Schuss eines Profis schnell. Da will man lieber keinen Körperteil in die Flugbahn halten.

Nur der Torhüter ist scheinbar schmerzfrei, trägt kaum Protektoren. "Ach was", sagt Chris, mit dem ich die Torschuss-Übugen aus vermeintlich sicherer Entfernung beobachte. "Der trägt im Training nie welche. Nur im Spiel. Wenn überhaupt."

Video: Best of Lacrosse - die besten Spielzüge

Verrückt, denke ich, während neben uns einige Bälle im Maschendrahtzaun einschlagen. SWOOOOOOSSCCHHHH! Das Gerede vom brutalen und gefährlichen Sport sei ohnehin übertrieben, erklärt Chris. Natürlich gäbe es Verletzungen.

Wie zuletzt, als ein Verteidiger seinem Teamkollegen beim Cross-Check eine Rippe brach. Im Training. Aus Versehen. Auch gebrochene Finger würde es geben. Aber beim Lacrosse sei man darauf eingestellt. Heute stirbt niemand mehr.

"Ich muss kotzen"

Auch wenn es sich manchmal anders anhört. "Ich muss gleich kotzen!", ruft ein Spieler und schert aus der Sprint-Reihe aus. Wenig später stützt er sich bereits an der Bande ab. Die 50-Meter-Sprints waren einfach zu viel.

Kein Wunder, dass die Spieler hier nach drei Trainingseinheiten pro Woche nicht auch noch ins Fitnessstudio rennen. "Wir üben lieber den Umgang mit dem Schläger", sagt Chris. "Zuhause, vor dem Spiegel. Gutes Stick-Handling bringt dich viel weiter." Das hatte mir Lacrosse-Legende Gait auch erklärt: "Mit dem Stick kannst du vieles ausgleichen, wenn du etwa langsamer, kleiner oder schmächtiger bist."

Also gehe auch ich die Bewegungsabläufe durch. Nicht vor dem Spiegel, sondern auf dem Trainingsplatz. Vor den Augen des versammelten Bundesliga-Teams.

Als ich versuche, den Stick durch meine Hände gleiten zu lassen, verheddere ich mich komplett. "Irgendwann geht das von ganz alleine", sagt mein Nebenmann. Der heißt Harry und ist selbst noch nicht lange dabei. Dennoch kann ich bei der Geschwindigkeit, mit der er seine Aktionen ausführt, nicht erkennen, welche Hand gerade was macht.

Achtung, Querschläger!

Lassen wir das. Jetzt bin ich nämlich mit diesem SWOOOOSCHHH! dran. Helm und Handschuhe sind schließlich mittlerweile ein Teil von mir.

Doch als ich gerade loslegen will, höre ich: "Für jeden Ball, der zu den Mädels, die auf der anderen Seite des Feldes trainieren, fliegt, gehen wir laufen." Na toll. Wenn ich versage, dann blamiere ich mich also nicht nur, sondern muss auch noch Strafrunden drehen.

Soweit will ich es nicht kommen lassen. Mit dem linken Ellenbogen visiere ich das Ziel an. Hole aus. Und schwinge locker mit dem Schläger durch. Ganz so, wie es mir Chris vorgemacht hat. Und tatsächlich: ich treffe. Das Tor. Bei meinem ersten Schuss!

Gut, da stand jetzt kein Torhüter drin. War auch eher ein Kullerball. Aber: drin. Score! Und das sah gar nicht mal so lächerlich aus. Finde ich jedenfalls.

Da gibt es Muskeln?

"Später würden wir dann natürlich versuchen, nicht genau in die Mitte zu spielen", erklärt Chris. Das Tor wäre groß genug. "Und der Torhüter soll es ja möglichst schwer haben."

Doch dazu kommen wir nicht mehr. Das Training ist rum. Nach mehr als zwei Stunden. Und das ist gut so. Irgendwie. Trotz des Spaßes. Denn es gibt da in Rücken und Schulter wohl so einige Muskeln, die ich im Normalbetrieb eher selten gebrauche.

Auf dem Rückweg in die Umkleidekabine schaffe ich es gerade noch so, meine schwarzen Hulk-Handschuhe zurück ins plötzlich viel zu hohe Regal zu befördern. Die sind jetzt immerhin gekennzeichnet. Für das nächste Mal. Unbemerkt. Geradezu unspektakulär.

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