SPOX: Herr Weißflog, die Weihnachtszeit lockt alljährlich mit kulinarischen Verführungen. Widerstanden Sie diesen im Vorfeld einer Tournee?
Jens Weißflog: Für mich war es kein Problem, den Keksen in dieser Zeit abzuschwören. Meistens legten wir am 24. Dezember mittags noch eine letzte Einheit ein, danach versuchte ich etwas Abstand zu gewinnen. Was man bis Weihnachten nicht im Training realisieren konnte, ist bis Oberstdorf sowieso nicht mehr aufzuholen. Ich nutzte die Ruhe lieber, um aufzutanken.
SPOX: Für Ihren eisernen Willen werden die Adler bei der 62. Auflage mit einem Rekordpreisgeld entlohnt. Die Organisatoren schütten 315.000 Schweizer Franken aus. Womit wurde Ihr Premieren-Erfolg 1983/84 belohnt?
Weißflog: Lediglich mit Pokalen (lacht). Ich erhielt noch Sachpreise, deren Wert aber überschaubar war. Mehr als Kofferradios oder Fernseher gab es nicht zu holen. Von den heutigen Summen konnten wir nur träumen. Ein richtiges Preisgeld führte man übrigens erst 1992 ein. Zunächst bekamen wir Goldmünzen - ein Jahr später erstmals Geld.
SPOX: Heutzutage sahnt der Triumphator 20.000 Schweizer Franken ab. Anderen millionenschweren Sport-Superstars ringt dies höchstens ein müdes Lächeln ab. Warum hinkt man sportartenübergreifend derart hinterher?
Weißflog: Ich möchte nicht sagen, dass man zufrieden sein sollte, denn der Sport hat sich entwickelt. Nach oben bieten solche Vergleiche weiterhin ausreichend Spielraum. Nie vernachlässigen sollte man dabei den Zeitraum, in welchem Skispringen ausgeübt werden kann. Daher ist es keine Profisportart wie Tennis, sondern eine Nischenprodukt. Dort werden Rackets verkauft, die Stars und deren Ausrüstung vermarktet. Im Skispringen ist das nicht gegeben. Keiner läuft in den Laden und kauft Sprungskier, die nicht verwertbar sind.
SPOX: Fehlt die öffentliche Wertschätzung?
Weißflog: Die lässt sich keineswegs an Prämien festmachen, die kommt von den Menschen. Die Tournee ist eine Traditionsveranstaltung, wird von den Fans sowie Medien als solche angenommen. Nicht nur das Finanzielle, auch der Sport in seiner Außendarstellung hat sich verändert. Anders als früher wurde ich bei meinem letzten Auftritt 1996 etwa von den Kameras auf Schritt und Tritt verfolgt.
SPOX: Die Medienpräsenz potenzierte sich, die Tournee wird zum Produkt - wie gefällt Ihnen das?
Weißflog: Die Zuschauerzahlen an der Schanze konnten gar nicht steigen. Bereits zu meiner Zeit war der Andrang riesig, war es ein Massenspektakel. In der Wahrnehmung entwickelte sich die Tournee dagegen dem Zeitpunkt entsprechend. Heute sitzen mehr Fans an den Fernsehgeräten. Letztlich wurden die Rahmenbedingungen professioneller. Es ist nicht besser als früher, aber zeitgemäßer.
SPOX: Früher kamen die Fans bedeutend näher an ihre Helden heran, dem Hype konnte man sich kaum entziehen.
Weißflog: Sie standen beim Wachsen dabei, warteten auf uns vor der Umkleidekabine, um kurz vor dem Wettbewerb ein Autogramm zu ergattern - das war ganz normal. Nach meinem ersten Triumph bahnte ich mir den Weg durch die Massen zurück zum Hotel. Wir wurden nicht mit dem Auto gefahren. Als DDR-Springer wurde ich oft gefragt, ob sie überhaupt mit mir reden dürfen. Letztlich erforderte der Boom um Martin Schmitt und Sven Hannawald Korrekturen.
SPOX: Inwiefern?
Weißflog: Zu dieser Zeit herrschten Extreme, da musste man das Springerdorf abgrenzen und die Zuschauer in die richtigen Bahnen leiten. Als Sportler benötigt man Freiraum, der war teilweise nicht mehr gegeben. Nun läuft dort eine Kamera herum. Aber man hat die Möglichkeit, sich dieser zu entziehen, indem man sich nicht ständig im Athletenbereich aufhält. Wir fanden auch Alternativen, gingen in den Wald, um alleine zu sein, sich zu sammeln. In Wahrheit sind es heute ähnliche Mechanismen, selbst wenn das Drumherum komplizierter anmutet.
SPOX: Mitunter prägt der nachbarliche Länderkampf diese Traditionsveranstaltung. Da hatten Sie vermutlich nicht nur Begegnungen der angenehmen Art.
Weißflog: Von einigen Verrückten musste ich mir Schimpfworte anhören - aber das hielt sich in Grenzen. Der Großteil konnte sich benehmen, pöbelte dich nicht an. Für sie stand der sportliche Wettstreit im Fokus, die Leistungen wurden anerkannt. Es geht nicht darum, Feindbilder aufzubauen. Mitte der 70er-Jahre war es dagegen extrem. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Innsbruck kämpften die DDR und Österreich erbittert gegeneinander, das wurde auf die Fans übertragen.
SPOX: Sind die Zuschauer fairer geworden?
Weißflog: Schwer zu beurteilen. Es war immer dann extrem, wenn Deutsche als auch Österreicher stark waren. Und diese Konkurrenz von DSV-Seite war zuletzt nicht so gegeben. Zu Hannawalds Zeiten wurde versucht, diese Befindlichkeiten zu relativieren. Medien und Veranstalter reagierten, starteten Aufrufe, damit es nicht zugeht wie in manchen Fußball-Stadien. Die Sportler dienten als Vorbild: Sie hatten nie Probleme. Das Persönliche hat niemals gelitten, da gab es keine Entgleisungen.
SPOX: Was macht für den Sportler den Mythos Vierschanzentournee aus?
Weißflog: Es ist eine Traditionsveranstaltung, besonders ob der Gesamtwertung und der Aneinanderreihung vieler Wettkämpfe innerhalb kürzester Zeit. Im Weltcup ist das eher unüblich, zumeist liegt eine Woche dazwischen, bei der Tournee sind es Tage. Beim Neujahrsspringen fiebern außerdem viele Menschen mit, die sonst nichts damit zu tun haben, weil sie nach Silvester nichts vorhaben. Und: Ein schwarzer Tag kann dich alles kosten, dich aus der Gesamtwertung kegeln. Außer die Konkurrenz spielt mit (lacht).