"Mehr als Kofferradios gab es nicht"

Christoph Köckeis
27. Dezember 201318:29
Jens Weißflog gewann in seiner Karriere viermal die Vierschanzentourneeimago
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Weder politische Systeme noch Technik-Revolutionen konnten ihn stoppen: Jens Weißflog. Über ein Jahrzehnt hielt sich der nunmehr 49-Jährige in der Weltspitze und avancierte zum erfolgreichsten DSV-Adler aller Zeiten. Vor der Vierschanzentournee (So., 16.30 Uhr im LIVE-TICKER) spricht der vierfache Triumphator über die "Sporthochburg" DDR, Ösi-Piefke-Rivalität, zeitgemäße Korrekturen und die deutschen Hoffnungen.

SPOX: Herr Weißflog, die Weihnachtszeit lockt alljährlich mit kulinarischen Verführungen. Widerstanden Sie diesen im Vorfeld einer Tournee?

Jens Weißflog: Für mich war es kein Problem, den Keksen in dieser Zeit abzuschwören. Meistens legten wir am 24. Dezember mittags noch eine letzte Einheit ein, danach versuchte ich etwas Abstand zu gewinnen. Was man bis Weihnachten nicht im Training realisieren konnte, ist bis Oberstdorf sowieso nicht mehr aufzuholen. Ich nutzte die Ruhe lieber, um aufzutanken.

SPOX: Für Ihren eisernen Willen werden die Adler bei der 62. Auflage mit einem Rekordpreisgeld entlohnt. Die Organisatoren schütten 315.000 Schweizer Franken aus. Womit wurde Ihr Premieren-Erfolg 1983/84 belohnt?

Weißflog: Lediglich mit Pokalen (lacht). Ich erhielt noch Sachpreise, deren Wert aber überschaubar war. Mehr als Kofferradios oder Fernseher gab es nicht zu holen. Von den heutigen Summen konnten wir nur träumen. Ein richtiges Preisgeld führte man übrigens erst 1992 ein. Zunächst bekamen wir Goldmünzen - ein Jahr später erstmals Geld.

SPOX: Heutzutage sahnt der Triumphator 20.000 Schweizer Franken ab. Anderen millionenschweren Sport-Superstars ringt dies höchstens ein müdes Lächeln ab. Warum hinkt man sportartenübergreifend derart hinterher?

Weißflog: Ich möchte nicht sagen, dass man zufrieden sein sollte, denn der Sport hat sich entwickelt. Nach oben bieten solche Vergleiche weiterhin ausreichend Spielraum. Nie vernachlässigen sollte man dabei den Zeitraum, in welchem Skispringen ausgeübt werden kann. Daher ist es keine Profisportart wie Tennis, sondern eine Nischenprodukt. Dort werden Rackets verkauft, die Stars und deren Ausrüstung vermarktet. Im Skispringen ist das nicht gegeben. Keiner läuft in den Laden und kauft Sprungskier, die nicht verwertbar sind. SPOX

SPOX: Fehlt die öffentliche Wertschätzung?

Weißflog: Die lässt sich keineswegs an Prämien festmachen, die kommt von den Menschen. Die Tournee ist eine Traditionsveranstaltung, wird von den Fans sowie Medien als solche angenommen. Nicht nur das Finanzielle, auch der Sport in seiner Außendarstellung hat sich verändert. Anders als früher wurde ich bei meinem letzten Auftritt 1996 etwa von den Kameras auf Schritt und Tritt verfolgt.

SPOX: Die Medienpräsenz potenzierte sich, die Tournee wird zum Produkt - wie gefällt Ihnen das?

Weißflog: Die Zuschauerzahlen an der Schanze konnten gar nicht steigen. Bereits zu meiner Zeit war der Andrang riesig, war es ein Massenspektakel. In der Wahrnehmung entwickelte sich die Tournee dagegen dem Zeitpunkt entsprechend. Heute sitzen mehr Fans an den Fernsehgeräten. Letztlich wurden die Rahmenbedingungen professioneller. Es ist nicht besser als früher, aber zeitgemäßer.

SPOX: Früher kamen die Fans bedeutend näher an ihre Helden heran, dem Hype konnte man sich kaum entziehen.

Weißflog: Sie standen beim Wachsen dabei, warteten auf uns vor der Umkleidekabine, um kurz vor dem Wettbewerb ein Autogramm zu ergattern - das war ganz normal. Nach meinem ersten Triumph bahnte ich mir den Weg durch die Massen zurück zum Hotel. Wir wurden nicht mit dem Auto gefahren. Als DDR-Springer wurde ich oft gefragt, ob sie überhaupt mit mir reden dürfen. Letztlich erforderte der Boom um Martin Schmitt und Sven Hannawald Korrekturen.

SPOX: Inwiefern?

Weißflog: Zu dieser Zeit herrschten Extreme, da musste man das Springerdorf abgrenzen und die Zuschauer in die richtigen Bahnen leiten. Als Sportler benötigt man Freiraum, der war teilweise nicht mehr gegeben. Nun läuft dort eine Kamera herum. Aber man hat die Möglichkeit, sich dieser zu entziehen, indem man sich nicht ständig im Athletenbereich aufhält. Wir fanden auch Alternativen, gingen in den Wald, um alleine zu sein, sich zu sammeln. In Wahrheit sind es heute ähnliche Mechanismen, selbst wenn das Drumherum komplizierter anmutet.

SPOX: Mitunter prägt der nachbarliche Länderkampf diese Traditionsveranstaltung. Da hatten Sie vermutlich nicht nur Begegnungen der angenehmen Art.

Weißflog: Von einigen Verrückten musste ich mir Schimpfworte anhören - aber das hielt sich in Grenzen. Der Großteil konnte sich benehmen, pöbelte dich nicht an. Für sie stand der sportliche Wettstreit im Fokus, die Leistungen wurden anerkannt. Es geht nicht darum, Feindbilder aufzubauen. Mitte der 70er-Jahre war es dagegen extrem. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Innsbruck kämpften die DDR und Österreich erbittert gegeneinander, das wurde auf die Fans übertragen.

SPOX: Sind die Zuschauer fairer geworden?

Weißflog: Schwer zu beurteilen. Es war immer dann extrem, wenn Deutsche als auch Österreicher stark waren. Und diese Konkurrenz von DSV-Seite war zuletzt nicht so gegeben. Zu Hannawalds Zeiten wurde versucht, diese Befindlichkeiten zu relativieren. Medien und Veranstalter reagierten, starteten Aufrufe, damit es nicht zugeht wie in manchen Fußball-Stadien. Die Sportler dienten als Vorbild: Sie hatten nie Probleme. Das Persönliche hat niemals gelitten, da gab es keine Entgleisungen.

SPOX: Was macht für den Sportler den Mythos Vierschanzentournee aus?

Weißflog: Es ist eine Traditionsveranstaltung, besonders ob der Gesamtwertung und der Aneinanderreihung vieler Wettkämpfe innerhalb kürzester Zeit. Im Weltcup ist das eher unüblich, zumeist liegt eine Woche dazwischen, bei der Tournee sind es Tage. Beim Neujahrsspringen fiebern außerdem viele Menschen mit, die sonst nichts damit zu tun haben, weil sie nach Silvester nichts vorhaben. Und: Ein schwarzer Tag kann dich alles kosten, dich aus der Gesamtwertung kegeln. Außer die Konkurrenz spielt mit (lacht).

Teil 2: Weißflog über Nykänen, die DDR und Wellinger

SPOX: Sie rutschten erstmals 1980 in Garmisch-Partenkirchen ins neue Jahr: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Premieren-Auftritt?

Weißflog: (lacht) Es war sehr aufregend. Ich war nur bei zwei Springen dabei, in Oberstdorf und Garmisch. Danach durfte ich nicht mehr ran. Mitunter war es einer sehr kurzfristigen Regeländerung geschuldet. Wir mussten über Nacht die Höhe des Keils unter dem Schuh verändern. Mein Gefühl ging dadurch verloren. Für einen 16-Jährigen war das schwierig. Trotzdem erlebte ich erstmals den Mythos hautnah mit - es war eine überaus lehrreiche Erfahrung.

SPOX: In der Gesamtwertung belegten Sie den 110. Rang...

Weißflog: Mit so schlechten Leistungen hätte ich nicht gerechnet. Es war undenkbar, dass ich irgendwann vier Mal die Tournee gewinnen würde. Ich hätte jeden für verrückt gehalten, der mir das vorausgesagt hätte. Die erste erfolgreiche Teilnahme 1982/83 war prägend für mich.

SPOX: Plötzlich grinsten Sie mit den Stars der Szene um die Wette: Matti Nykänen war einer Ihrer schärfsten Widersacher - und Ihr Vorbild. Wie lässt sich das vereinbaren?

Weißflog: Aufgrund der sportlichen Präsenz wurde er zu einem großen Konkurrent. Was ihm gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit unwahrscheinlich viel zu gewinnen, war für mich beeindruckend. Bei jeder WM von 1982 bis 1989 eroberte er zumindest einmal Gold, zumal er im ersten Jahr in Oslo gleich Weltmeister wurde. Zuvor sprangen wir noch gemeinsam bei der Junioren-WM. Dennoch konnten wir am Ende des Tages mal auf ein Feierabend-Bier gehen. Obwohl die Verständigung problematisch war: Ich sprach kein Finnisch, er kaum Englisch.

SPOX: Die Tournee entschied Nykänen zwei Mal für sich, Ihre Vita schmücken vier Triumphe. Erstaunlich dabei: Sie konnten als einziger Skispringer vor und nach der Technik-Revolution 1990 siegen. Zahlreiche Athleten scheiterten an der Umstellung. Wie viel Arbeit steckte dahinter?

Weißflog: Sehr viel (lacht). Ich hatte mit 28 Jahren derart viele Sprünge in den Beinen, dass ich die Technik komplett neu erlernen musste. Es war, wie wenn man als Rechtshänder plötzlich mit links schreiben muss. Die Bewegungsabläufe mussten durchbrochen werden. Meine Eigenart, parallel zu springen, erlaubte es mir zunächst nicht, in den V-Stil zu kommen. Die Umstellung dauerte daher länger als bei jungen Kollegen. Es war ein komplett neues Gefühl in der Luft.

SPOX: Ihnen glückte die Umstellung, bezeichnen Sie nicht zuletzt deshalb den Erfolg 1995/96 als Ihren emotionalsten?

Weißflog: Nein, das war unabhängig davon. 1994 hatte ich schon die Chance, die Tournee zum vierten Mal zu gewinnen. In diesem Jahr wollte ich eigentlich aufhören. Ich hängte zwei weitere Jahre dran, obwohl ein Gesamtsieg nicht zu planen ist. Im letzten Jahr war ich weit davon entfernt, als Favorit zu gelten. Die Erwartungshaltung wurde trotzdem geschürt. Dieser Druck war mit dem Scheitern 1994 ständig gegeben. Ich war heilfroh, als sich das in Luft auflöste und das Gerede aufhörte. Es war eine Erleichterung und der krönende Abschluss meiner Karriere.

SPOX: Für Sie war es der zweite Triumph nach der Wende: In der DDR wurden Sie als Held gefeiert. Wie lange dauerte es, sich diesen Status in der Bundesrepublik zu verdienen?

Weißflog: Eigentlich ging es nahtlos über. In den westlichen Bundesländern wurde ich sofort aufgenommen, da ich alle Erfolge fortan für Gesamt-Deutschland einfuhr. Die ersten Jahre nach dem Mauerfall waren geprägt durch eine gewisse Unsicherheit, wie es nun weitergeht.

SPOX: Wie ist das zu verstehen?

Weißflog: Für mich verfügte die DDR über das ideale Sportsystem, da wir voll unterstützt wurden. Danach plagten uns viele Fragen zu unserer Zukunft: Geht es überhaupt weiter oder nicht? Das alltägliche Leben veränderte sich. An einem Menschen geht so etwas nicht spurlos vorüber.

SPOX: In "Freiheit" ließ sich danach vieles mehr auskosten?

Weißflog: Nein, das würde ich nicht behaupten. Natürlich konnte man sich freier bewegen und mal etwas ausgelassener feiern. Die Freude über einen Gesamtsieg bei der Tournee war allerdings unabhängig vom politischen System. Immerhin ist es mit das Größte, was man als Skispringer erreichen kann.

SPOX: Seither hat sich die Tournee in ihren Grundfesten verändert - insbesondere die Schanzen betreffend. Sie entsprechen modernsten Standards, einzig die Naturanlage in Bischofshofen fällt aus dem Muster. Inwiefern litt darunter die Strahlkraft?

Weißflog: Die Tournee ist weiterhin ein Höhepunkt. Einfacher wird es durch die modernen Anlagen eher nicht. Warum sonst gelang in der Historie nur Sven Hannawald der Grand Slam. Mittlerweile entscheidet durch diese Ähnlichkeiten nicht mehr die Variabilität des Springers, dafür spielen andere Aspekte eine wesentliche Rolle. Das Skispringen wurde aufgrund der ausgereizten Ausrüstung windanfälliger. Man benötigt trotz neuer Regeln nicht nur eine bestechende Form, sondern auch absolutes Glück, um durchzukommen.

SPOX: Macht es das beinahe unmöglich, einen Siegertipp auszumachen?

Weißflog: Für mich gibt es momentan keinen Favoriten, weil sich das Feld zu stark durcheinander gemischt hat. Positiv aus deutscher Sicht waren Podest-Platzierungen durch vier verschiedene Athleten. Nur fehlt der Spitzenmann. Wobei im gesamten internationalen Feld aktuell die Stabilität fehlt. Einzig Kamil Stoch zeigt eine Tendenz zur Konstanz. Selbst Gregor Schlierenzauer kann heute gewinnen - und morgen auf dem 16. Platz landen.

SPOX: ÖSV-Cheftrainer Alexander Pointner erkor Andreas Wellinger im SPOX-Interview zum kommenden Superstar. Wie sieht Ihre Einschätzung aus?

Weißflog: Von den Ansätzen sehe ich Wellinger als stärksten Deutschen, wobei man Freund und Freitag nicht vergessen sollte. Jeder hat das Potenzial, auf das Podest zu springen. Zu Seriensiegen ist derzeit keiner in der Lage, allerdings kann sich das Bild schnell wenden. Plötzlich etablieren sich Talente, die man davor nicht auf der Rechnung hatte. Ein wichtiges Zeichen wäre, jemanden in der Gesamtwertung der Tournee auf das Podest zu bringen. Alle drei müssen stabil werden und lernen, die Form zum richtigen Zeitpunkt abzurufen. Auch eine Einzel-Medaille bei Olympia fehlte uns in den letzten Jahren.