Felix Neureuther konnte selbst nicht so recht glauben, dass er soeben beim Saisonauftakt im Riesenslalom in Sölden auf den dritten Rang gefahren war. Es war eben auch ein ungewohntes Gefühl: Zum ersten Mal seit Jahren hatte er eine Vorbereitung auf die Saison, die den Namen Vorbereitung tatsächlich verdient. Fehlerfrei waren die ersten beiden Läufe zwar trotzdem nicht, "ich kann also noch schneller fahren", zeigte sich Neureuther nach dem Rennen selbst nicht ganz zufrieden.
Der dritte Platz soll aber ohnehin nicht das Ziel sein: Neureuther will noch mal ganz oben angreifen. Die Kristallkugel für den Sieger im Slalom-Weltcup ist das Ziel.
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Doch die Konkurrenz ist naturgemäß groß, allen voran mit Marcel Hirscher, dem großen Dominator der Ski-Szene. Auch Henrik Kristoffersen hat gezeigt, dass er ganz vorne mitfahren kann. Aber Neureuther hat in den letzten Jahren ebenfalls bewiesen, dass er immer wieder in der Lage ist, die beiden zu schlagen. Auch über eine lange Saison.
Im Februar steht zudem mit der WM in St. Moritz das Highlight der Saison an. Eine Medaille ist das erklärte Ziel des besten deutschen Skifahrers. Deshalb war die Vorbereitung auch darauf ausgelegt, "dass ich im Dezember in der Form bin, in der ich auch sein will", erklärte Neureuther. Diese Form will er dann über die Saison konstant steigern, um bei der WM schließlich bestens vorbereitet ins Rennen zu gehen.
"Kann mit Kristoffersen und Hirscher mithalten"
Zur Vorbereitung gehört aber nicht nur die körperliche Fitness, ausgiebige Arbeit am Material ist ebenfalls ein unabdingbarer Bestandteil. Ein Aspekt, den Neureuther aufgrund seiner wenigen Trainingstage in den letzten Jahren häufig vernachlässigen musste.
Dieses Mal jedoch ist es ein Faktor, der ihn optimistisch auf die kommende Saison blicken lässt - trotz der beiden namhaften Konkurrenten: "Die beiden hatten eine gigantische Saison. Aber sie hatten eben auch einen ganzen Sommer lang Zeit, Material zu testen. Im Winter waren sie topfit und konnten ans Limit gehen. Ich habe erst im Oktober begonnen, überhaupt Ski zu fahren. Zum Skitesten war gar keine Zeit. Wenn ich 2016 verletzungsfrei trainieren kann, bin ich mir sicher, dass ich mit Kristoffersen und Hirscher mithalten kann", zeigte er sich schon im April gegenüber der Badischen Zeitung selbstbewusst.
Neureuther ist mittlerweile 32 Jahre alt, das Karriereende am Horizont in Sicht. Bis zu den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang will er aber auf jeden Fall noch weitermachen - und aktuell gibt es gar keinen Grund, aufzuhören.
In der Anfangsphase der Karriere machte ihm oft der Kopf einen Strich durch die Rechnung, zahlreiche Ausfälle begleiteten seine frühen Jahre im Weltcup. Bei der WM 2007 schied er im Slalom im zweiten Durchgang auf Medaillenkurs aus, bei Olympia 2010 als Medaillenfavorit gestartet, gar im ersten Lauf. Als der Kopf dann langsam reifer wurde, wurde der Körper älter und sorgte für Probleme. Die vergangenen drei Jahre waren mit Abstand die besten seiner Karriere - von ungefähr kommen die vielen Verletzungen allerdings nicht.
Autounfall vor Olympia
"Ja, ich war schon sehr wild. Allein was das Ausreizen des körperlich Machbaren betrifft. Dafür zahle ich jetzt den Preis" sagte er der Augsburger Allgemeinen vor dem Saisonstart im August. "Wenn ich auf meinen Rücken oder meine Knie schaue, denke ich mir schon: Junge, hättest du das ein oder andere jetzt unbedingt machen müssen? Ich hab immer probiert, meine Grenzen auszureizen. Das mache ich heute auch noch, aber bedachter", bringt es Neureuther auf den Punkt.
Vor der Saison 2013/14 sorgte eine Sprunggelenks-Operation dafür, dass er einen großen Teil der Sommervorbereitung verpasste und erst ab September voll trainieren konnte. Trotzdem fuhr er gute Ergebnisse ein, zog nach dem Sieg im Slalom von Bormio in Sachen Weltcupsiegen mit seinem Vater gleich.
Den hat er mittlerweile überholt und darüber hinaus 2014 in Adelboden für den ersten deutschen Sieg im Riesenslalom seit 1973 gesorgt. Doch bezeichnend für Neureuthers Karriere: wenn die Form stimmte, kamen zuverlässig die Verletzungen. Diesmal in Form eines Schleudertraumas und einer Rippenprellung, erlitten bei einem Autounfall kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi.
Trotzdem reichte es zum achten Platz im Riesenslalom und einer guten Leistung im Slalom, wo Neureuther in Führung liegend ausschied, obwohl er nach eigener Aussage eigentlich "körperlich chancenlos" war.
Dass er das Potenzial hat, nach ganz oben zu fahren, ist unstrittig. Wenn jetzt noch sein Körper mitspielt, sind die Chancen gut wie lange nicht.
Keine Flussbett-Autorennen mehr
Dabei fällt auf: Neureuther ist reifer geworden und achtet mittlerweile sehr darauf, wie er mit seinem Körper umzugehen hat. Damit er eben auch im "hohen" Alter von 32 noch in der Weltspitze mitfahren kann. Rennen in Schrottautos gegen seinen Kumpel und Weltcup-Konkurrenten Ted Ligety stehen heute beispielsweise nicht mehr auf dem Programm.
"Wir sind in einem ausgetrockneten Flussbett über Schanzen gerast, bis die Autos auseinandergefallen sind" blickt Neureuther zurück, weiß aber auch: "Für meinen Rücken war das natürlich nicht ganz optimal. Das würde ich wohl so heute nicht mehr machen."
Überhaupt war der Rücken das große Problem der vergangenen Jahre und sorgte vor der Saison 2015/2016 dafür, dass Neureuther eine monatelange Skipause einlegen musste. Die Schmerzen wurden immer größer, weshalb er quasi ohne Training in die Saison startete. Stolze vier Bandscheibenvorfälle hat Neureuther bereits im Lendenwirbelbereich erlitten, sogar ein mögliches Karriereende stand im Raum.
"Rücken eine große Baustelle"
Doch Neureuther gab nicht auf, sondern kämpfte sich zurück und war bis zum letzten Rennen Führender im Slalom-Weltcup. Bevor ihn - wieder einmal - Marcel Hirscher überholte. "Der Rücken ist eine große Baustelle, aber ich habe sie im Griff", kann er mittlerweile sagen. Auch weil er seit Beginn der vergangen Saison täglich mit seinem Physiotherapeuten Oliver Saringer daran arbeitet.
Vorbild und Stütze in dieser schweren Zeit war seine Freundin, die Biathletin Miriam Gössner, die sich nach ihrem Fahrradsturz ebenfalls von Verletzungen zurückkämpfen musste. Seit drei Jahren sind die beiden ein Paar und Neureuther kann sich sein "Umfeld mit allem Drum und Dran nicht schöner vorstellen".
Der Wandel vom jugendlichen Draufgänger hin zum Familienmenschen, an dem sicher auch Gössner ihren Anteil hat, scheint sich positiv auf seine Leistungen auf der Piste und auf seine Gesundheit auszuwirken. Am eigenen Anspruch, den nächsten, respektive letzten Schritt ganz nach vorne zu machen, hat sich nichts geändert. Mit 32 ist er gleichzeitig allerdings realistisch geworden und weiß, dass er ihn bald machen muss.
Der entscheidende Schritt fehlt noch
Die gute Vorbereitung macht sich bisher zumindest noch nicht in Form von Siegen bemerkbar. Auf den dritten Platz in Sölden folgte ein starker Auftritt beim Slalomauftakt in Levi, bei dem Neureuther das Podest nur um eine Zehntelsekunde verpasste. Die Weltspitze lag in Levi sehr nah zusammen, nur Marcel Hirscher enteilte der Konkurrenz um eineinhalb Sekunden und hat sowohl im Slalom-, als auch im Gesamtweltcup die Führung übernommen.
Beim zweiten Slalom der Saison in Val d'Isere schied Neureuther aus und mit Kristoffersen siegte sein zweiter Konkurrent im Kampf um die kleine Kristallkugel. Auch beim Nachtslalom in Madonna di Campiglio schied Neureuther früh aus. Für ihn jedoch kein Weltuntergang. "Hirscher und Kristoffersen haben aber heute auch nichts Besonderes gemacht, muss ich sagen. Das zeigt, dass jeder schlagbar ist. Ich denke schon, dass ich eine sehr gute Form habe. Ich muss es halt im neuen Jahr nur umsetzen", untermauerte Neureuther seine Ansprüche.
Seine Form scheint also trotz der Ausfälle zu stimmen, das haben auch die ersten Rennen der Saison gezeigt. Mit seiner skifahrerischen Klasse, seiner Erfahrung und einem gesunden Rücken, steht auch einem Angriff auf Hirscher nichts im Wege. Doch Neureuther weiß gleichzeitig, dass er sich steigern muss. Nach dem sechsten Platz im Riesenslalom von Alta Badia gab er offen selbstkritisch zu Protokoll: "Den Schweinehund noch ein bisschen zu überwinden, den nächsten Schritt zu machen: Es wird Zeit, dass das jetzt passiert".
Das ist tatsächlich notwendig, denn Hirscher zeigt sich gewohnt dominant und baut seinen Vorsprung im Weltcup konstant aus und auch Kristoffersen unterstrich seine Ambitionen in Madonna di Campiglio. Die zweite Saisonhälfte im Slalom verspricht also, eine spannende zu werden und Felix Neureuther will seinen Teil dazu beitragen. Dann muss er sich bald nicht mehr über dritte Plätze wundern - sondern kann sich über Siege freuen.