Der Hammer kam zur Frühstückszeit, und er zerschmetterte die Mär von sauberen Olympischen Spielen in Tokio wohl nachhaltig: Nigerias Topsprinterin Blessing Okagbare bereitete sich gerade auf ihren großen Tag vor, als ihr das positive Ergebnis einer Dopingprobe präsentiert wurde. Stunden vor dem 100-m-Finale wurde die 32 Jahre alte Mitfavoritin vorerst gesperrt. Sollte die B-Probe das Ergebnis bestätigen, hätten die Spiele ihren ersten großen Dopingskandal.
"Die AIU hat Blessing Okagbare heute mit sofortiger Wirkung suspendiert, nachdem eine von der Sprinterin genommene Probe positiv auf Wachstumshormon ausgefallen ist", teilte die unabhängige Athletics Integrity Unit des Leichtathletik-Weltverbandes World Athletics mit.
Bombe platzt vor dem Halbfinale
Wachstumshormon, kurz HGH, wird oft mit Steroiden oder EPO kombiniert verwendet und soll eine Reihe gewünschter Wirkungen auslösen, vor allem Fettreduktion und Erhöhung der Muskelmasse. Wissenschaftlich ist der Effekt umstritten, dennoch gehört HGH zu den berüchtigteren und zudem schwer nachweisbaren Mitteln.
Die 32-jährige Okagbare fiel bei einer Trainingskontrolle am 19. Juli auf. Weil das Ergebnis der Probe erst am Freitagabend Tokioter Ortszeit vorlag, startete sie am Mittag noch im 100-m-Vorlauf, den sie in 11,05 Sekunden locker gewann. Vor dem Halbfinale am Samstag platzte dann die Bombe. Gold ging am Abend an ein von Elaine Thompson-Herah angeführtes Trio aus Jamaika.
Okagbare ist schon lange in der (erweiterten) Weltspitze unterwegs, war 2008 Olympiazweite im Weitsprung. Der Schritt in die allererste Liga wollte ihr aber lange nicht gelingen. Das meiste Aufsehen erregte die extravagante Athletin 2017, als ihr beim Diamond-League-Meeting in Oslo bei der Weitsprung-Landung die Perücke wegflog.
Wird Nigeria zum Problemfall?
Zuletzt machte sie einen erstaunlichen Leistungssprung, lief im Juni über 100 m bei leicht irregulärem Rückenwind 10,63 Sekunden. Schneller war bei regulären Bedingungen nur Weltrekordlerin Florence Griffith-Joyner, ehe Thompson-Herah am Samstag in Tokio 10,61 lief - bei 0,6 m/s Gegenwind.
Ein Vergleich mit alten Aufnahmen fällt ebenso erstaunlich aus: Gegenüber der Okagbare von 2015 wirkt die Okagbare von 2021 deutlich muskulöser, kantiger, männlicher. Die Okagbare-Affäre wirft zudem ein schlechtes Licht auf die Leistungsexplosion im Frauensprint der vergangenen Monate.
Vieles deutet darauf hin, dass es aber nicht nur ein Fall Okagbare ist, nach Russland und Kenia könnte Nigeria zum nächsten Problemfall werden. Am Mittwoch hatte die AIU zehn nigerianischen Leichtathleten und Leichtathletinnen den Olympia-Start untersagt, weil sie sich vor den Spielen keinem ausreichenden Testprogramm unterzogen hatten. Und nicht nur das: Trayvon Bromell, in Tokio US-Hoffnungsträger über die 100 m, gehört in Florida zu ihrer Trainingsgruppe.
Nigerias Verband gestand Nachlässigkeiten ein, die betroffenen Sportler protestierten vehement im Olympischen Dorf, die zunächst nicht betroffene Okagbare übte heftige Kritik an der Sportführung. "Das Sportsystem in Nigeria ist mangelhaft, und wir Sportler haben am Ende immer den Schaden", twitterte sie. Den hat sie nun tatsächlich, allerdings offenbar selbstverschuldet.