"Wenn ich ins Wasser springe, dann kann ich alles um mich vergessen", erklärt Yusra Mardini mit fröhlicher Miene. Die 18‑Jährige ist eine talentierte Schwimmerin aus Damaskus.
Mardini lernte schwimmen, als sie laufen lernte. Im Kreise einer Familie, die vom kühlen Nass begeistert war, verliebte sich das Mädchen schon früh in den Schwimmsport. Und wenn Mardini in gut zwei Wochen auf der größten Bühne der Welt antritt - bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio - dann wird ein Traum für sie wahr. Die Olympiateilnahme wird eine neue Herausforderung und eine große Chance für sie sein.
Herausforderungen sind nichts Neues für Mardini, die auf ihrem Weg nach Rio unzählige Hürden überwinden musste. Vor zwei Jahren, als der Bürgerkrieg in Syrien immer schlimmer wurde, flüchtete sie gemeinsam mit ihrer Familie aus Damaskus. Über Beirut und Istanbul gelangten sie in die türkische Küstenstadt Izmir, wo sie Glück hatten und es auf ein Boot schafften, das für die griechische Insel Lesbos bestimmt war.
Das Boot war in Wirklichkeit ein Schlauchboot und - wie viele Flüchtlingsboote - hoffnungslos überfüllt. Nach einer Stunde versagte der Motor, woraufhin Yusra gemeinsam mit ihrer Schwester Sarah und einem weiteren Passagier ins Wasser sprang und die restliche Strecke schwimmend zurücklegte. Mit vereinten Kräften zogen sie das Boot bis ans rettende Ufer von Lesbos. Mardini schwamm im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben.
Eine zehnköpfige Mannschaft, die für Millionen Menschen antritt
Aktuellen Statistiken zufolge wurden etwa 65,3 Millionen Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben; 21,3 Millionen von ihnen sind Flüchtlinge und mehr als die Hälfte unter 18. Bei den Olympischen Spielen in Rio nächsten Monat werden zehn staatenlose Athleten - darunter vier Frauen - unter der olympischen Flagge antreten, und zwar im Schwimmen, der Leichtathletik und im Judo.
Die ehemalige Langstreckenläuferin Tegla Loroupe, ihres Zeichens Mitglied der Laureus Academy, wurde von IOC-Präsident Thomas Bach mit der Rolle des Chef de Mission betraut und wird das Olympiateam der Flüchtlinge bei seiner historischen ersten Olympiateilnahme leiten.
Als jüngstes von 25 Kindern musste Loroupe von klein auf um jede Chance kämpfen. Sie lernte schon früh, dass sie jede Gelegenheit, die sich ihr bot, beim Schopf packen musste. Im Laufe ihrer sportlichen Karriere krönte sich Loroupe dreimal zur Weltmeisterin im Halbmarathon und gewann als erste afrikanische Athletin den New-York-City-Marathon - ein Rennen, das sie insgesamt zweimal für sich entschied. Durch den Sport lernte Loroupe siegen und verlieren, und dass Einsatz, harte Arbeit und Willenskraft zum Erfolg führen.
Tegla Loroupe führt Delegation an
"Im Sport sind alle gleichberechtigt", erklärt Loroupe. "Egal, ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß, mit oder ohne Behinderung - wenn man sich anstrengt und auf höchstem Niveau bei Wettkämpfen antritt, hat man die Chance, erfolgreich zu sein."
Loroupe, die sich seit dem Ende ihrer aktiven Karriere für die Bewältigung der Flüchtlingskrise einsetzt, ist sehr stolz auf die Rolle, die ihr in Rio 2016 zugedacht wurde. "Dadurch wird ein Traum für mich wahr", so das Mitglied der Laureus World Sports Academy. "Ich engagiere mich für den Frieden, damit wir eine Welt schaffen können, in der niemand aus Angst, getötet zu werden, aus seinem Zuhause flüchten muss."
Als das Gespräch auf die zehn Mitglieder ihrer Olympiamannschaft kommt, zeigt sich Loroupe stolz und etwas philosophisch über die Rolle der Flüchtlinge. Sie werden natürlich um Medaillen kämpfen, aber ihr Antreten bei den Olympischen Spielen hat eine viel größere Bedeutung als nur Wettkämpfe zu gewinnen und auf das Podest zu steigen.
Loroupe dazu: "Beim Begriff ‚Held' denken wir für gewöhnlich an Helden aus der Sportwelt, an Politiker oder berühmte Personen, aber die wahren Helden sind überall zu finden. Die Mitglieder unseres Flüchtlingsteams haben so viel durchgemacht. Ihr Durchhaltevermögen und ihre Widerstandskraft machen sie zu wahren Helden. Sie geben sehr vielen Menschen Hoffnung."
Man muss für seine Ziele kämpfen
Yusra Mardini kam im September letzten Jahres mit ihrer Familie nach Berlin und stieß zum Schwimmverein Wasserfreunde Spandau 04, wo sie von Trainer Sven Spannekrebs trainiert wird. Ihr Ziel war ursprünglich die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2020; sie verbesserte sich jedoch viel schneller als erwartet und schaffte über 200 Meter Freistil die Olympianorm für Rio.
Mardini findet, dass sie die Herausforderungen, denen sie bisher in ihrem Leben gegenüberstand, stärker gemacht haben. "Ich habe so viel erlebt, dass ich nie vergessen werde, woher ich komme. Die Ereignisse der letzten Monate sind ein Beispiel dafür, dass jeder seine Ziele erreichen kann. Man muss nur darum kämpfen."
Am Abend des 5. Augusts werden sich Loroupe, Mardini und ihre neun Teamkollegen zu den besten Athleten der Welt gesellen, wenn das Flüchtlingsteam bei der Eröffnungsfeier im Maracanã-Stadion direkt vor dem Gastgeberland Brasilien einmarschiert. Die Atmosphäre wird energiegeladen sein, die Party in Rio in vollem Gange und die Augen der Welt auf das Olympiateam der Flüchtlinge gerichtet.
Eine Botschaft der Hoffnung
Wenn sie vor ihrem Lauf über 200 Meter Freistil auf den Startblock steigt, wird Mardini wie vor jedem Wettkampf ihre übliche Routine absolvieren. Dieser Lauf wird jedoch nicht nur der wichtigste Wettkampf ihrer Karriere sein, sondern Mardini ist sich auch der wichtigen Rolle bewusst, die sie spielt: Sie sendet eine Botschaft an alle Vertriebenen rund um den Globus.
"Für mich persönlich wird ein Traum wahr", meint Mardini. "Aber ich weiß, was das olympische Flüchtlingsteam bedeutet. Wir möchten allen Flüchtlingen der Welt eine Botschaft der Hoffnung vermitteln. Und wir möchten der Welt zeigen, dass wir ganz normale Menschen sind, die wie alle anderen Olympiateilnehmer auch Sport treiben."
Die ganze Welt wird zuschauen. Mardini wird im Rampenlicht stehen, aber nicht als Hoffnungsträgerin einer Nation - sondern der Menschen, die keine Nation haben.
"Das ist das erste Mal, dass ein Flüchtlingsteam an den Olympischen Spielen teilnimmt. Wir alle hoffen, dass es auch das letzte Mal sein wird, da die Flüchtlingskrise hoffentlich ein Ende finden wird. Aber gleichzeitig wissen wir, dass es schwierig sein wird, die Welt in vier Jahren zu verändern. Es ist also etwas Besonderes. Wir wurden in verschiedenen Ländern geboren; wir haben unsere Heimatländer verlassen und sind nun Teil einer Mannschaft, die Millionen Flüchtlinge aus aller Welt vertritt."
Mardini wird ins Wasser springen, alles um sich herum vergessen und um ihr Leben schwimmen.