Superstar Sven Kramer rammte wutentbrannt seinen Schlittschuh ins Eis, riss die Sportbrille vom Kopf und warf sie in Richtung seines Trainers. Gerard Kemkers senkte leichenblass den Kopf und wollte vor Scham am liebsten in der Eisbahn des Richmond Ovals versinken - das Kramer-Drama hatte seinen Höhepunkt erreicht.
Weil Kemkers durch einen verhängnisvollen Irrtum im 10. 000-m-Lauf einen Wechselfehler des Superstars verursacht hatte, wurde erstmals in der Geschichte der Winterspiele der eigentliche Sieger eines Eisschnelllauf-Wettkampfes disqualifiziert. Und ausgerechnet den Liebling der kufenverrückten Niederländer erwischte es.
Ganz Oranje stand unter Schock. "Ich bin gekommen, um ein Fest zu feiern. Jetzt weint mein Herz", sagte Kronprinz Willem Alexander, der das Unfassbare gemeinsam mit seiner Familie auf der Ehrentribüne erlebte. Bei Kilometer sieben passierte es. Kramer lief auf der Gegengeraden seinem Trainer entgegen und wollte korrekterweise auf die Außenbahn wechseln, doch Kemkers rief Kramer "Innen!" zu und wies ihn hektisch in die falsche Richtung.
Glücklicher Sieg für Lee
Der 23-Jährige wurde unsicher, vertraute seinem Coach und ließ sich aufs Glatteis führen. "Verdammt noch mal, was für ein Arschloch. Er weist mich in die falsche Kurve", sagte der völlig konsternierte Kramer kurz nach dem Zieleinlauf zu Oranje-Teamchef Henk Gemser, und Millonen an den Fernsehschirmen hörten mit.
Profiteur war der Südkoreaner Lee Seung-Hoon, der vier Sekunden langsamer gewesen war als Kramer und später das Offensichtliche aussprach: "Keine Frage, dieser Olympiasieg ist glücklich." Als sich Kramer etwas beruhigt hatte, beschrieb er den Verlauf der Dinge nach Kemkers´ Fehler aus seiner Sicht.
Etwa drei Runden vor Rennende habe er seine Freundin, die Hockey-Olympiasiegerin Naomi van As, auf der Tribüne entdeckt, das Gesicht in den Händen vergraben. "Da habe ich gedacht: Wahnsinn, hast du doch falsch gewechselt? Als ich dann im Ziel die Reaktion des Publikums sah, wusste ich endgültig, dass hier was nicht stimmt.
Vertrauen in Trainer beschädigt
Der schockierte Kemkers, der Kramer nach nur einer halben Runde Auslauf endgültig aufklärte, nahm sofort alle Schuld auf sich. "Für mich bricht eine Welt zusammen", sagte der Coach, der Kramer seit Herbst 2005 betreut: "Ich hatte noch ein Prozent Hoffnung, dass er nicht disqualifiziert würde. Deshalb habe ich ihn nicht aus dem Rennen genommen."
Zwei Stunden nach dem Lauf sprachen sich Kramer und Kemkers, 5000-m-Bronzegewinner 1988 in Calgary, im Hotel aus. "Ich hoffe, dass unsere Beziehung so stark ist, dass ich mir über eine Trennung keine Sorgen machen muss. Sven hat sich wie ein reifer Erwachsener verhalten", sagte Kemkers über das Gespräch.
"Das ist scheiße"
In Kramer hingegen brodelte es. "Ein verkehrter Wechsel im wichtigsten Rennen meines Lebens - das ist scheiße. Jeder kann mal Fehler machen, aber dieser hier ist sehr teuer. Ich will eigentlich nicht anderen Menschen die Schuld in die Schuhe schieben, aber ich kann nicht anders. Natürlich ist unsere Beziehung beschädigt", sagte Kramer und fügte dann doch wie unter Zwang hinzu: "Letztlich bin ich selbst verantwortlich."
Wechselfehler im Eisschnelllauf sind selten, kommen aber selbst bei den Besten vor. Gunda Niemann-Stirnemann unterlief einer bei der Mehrkampf-WM 2001 in Budapest, fünf Jahre später erwischte es US-Superstar Chad Hedrick beim WM-Vierkampf in Calgary. Aber einen Fauxpas unter diesen Umstände - zumal bei Olympia - hat es bislang nicht gegeben.
Trotz seines 5000-m-Olympiasieges in Richmond hat Kramer damit auch bei seinen zweiten Spielen viel zu hadern. 2006 in Turin war er im Teamrennen auf ein Begrenzungsklötzchen getreten und gestürzt. Der Anfängerfehler kostete Oranje das fest eingeplante Gold.