Die bislang so heile Welt zwischen den Organisatoren der Olympischen Spiele in Sotschi und dem IOC hat Risse bekommen. Erstmals hat OK-Chef Dimitri Tschernyschenko den bisherigen Kuschelkurs verlassen und IOC-Präsident Thomas Bach öffentlich widersprochen. Streitpunkt ist die Frage, ob sich die Athleten während der Spiele zu politischen Themen äußern dürfen - und wo.
Bach hatte bei einer Telefonkonferenz Anfang der Woche gesagt, die Athleten hätten "Meinungsfreiheit" und dürften bei Pressekonferenzen auch über politische Themen reden. Strafen drohten einzig, sollten sich die Sportler während der Wettbewerbe oder bei den Medaillenvergaben entsprechend äußern.
Tschernyschenko widersprach - zumindest zunächst: "Meiner Meinung nach dürfen Athleten gemäß der IOC-Charta keine nicht-sportlichen Themen ansprechen."
Demonstrationszone eingerichtet
Sie könnten das in der eigens für solche Proteste eingeräumten Demonstrationszone tun, die der russische Präsident Wladimir Putin erst Anfang Januar per Dekret einrichten ließ. 18 Kilometer außerhalb des Zentrums von Sotschi werden hier unter strengen Auflagen und in bestimmten Zonen "freie" Protestaktionen ermöglicht.
Tschernyschenko verwies in seiner Aussage auf Regel 50 der Charta, die besagt, dass "auf dem Olympia-Gelände, den Austragungsorten und den Sportstätten keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassischer Propaganda" erlaubt ist.
Am Donnerstagabend versuchte das russische OK die Wogen zu glätten - Tschernyschenko sei lediglich falsch zitiert worden. Man stelle sich voll hinter die Linie des IOC. "Herr Tschernyschenko meinte, dass Athleten ihre Meinung bei Pressekonferenzen frei äußern dürfen. Aber sie können diese natürlich nicht zu Demonstrationen oder Protesten nutzen - so wie es in jeder olympischen Analage der Fall ist", hieß es in einer Stellungnahme.
Gefängnisstrafen drohen
Entsprechende Kontroversen könnten vor allem das russische Gesetz betreffen, das Propaganda homosexueller Menschen in Anwesenheit Minderjähriger unter Strafe stellt. Demnach könnten gar Gefängnisstrafen für jene drohen, die sich positiv über Homosexualität äußern.
Bislang hatte sich das IOC mit Kritik an den russischen Gastgebern zurückgehalten - obwohl es genug Ansätze gegeben hätte. Das gemeinsame Ziel, in jeder Hinsicht erfolgreiche Spiele zu feiern, überwog im Zweifelsfall andere Bedenken.
Denn für Bach und Putin steht viel auf dem Spiel. Der russische Präsident hat sich für Sotschi weit aus dem Fenster gelehnt und die erfolgreiche Ausrichtung zur Chefsache erklärt. Bach wiederum muss die politisch heiklen ersten Spiele seiner mindestens achtjährigen Amtszeit unbeschadet überstehen, um unbelastet und mit starker Hand seine ambitionierte Reformagenda 2020 vorantreiben zu können.
Einmischung steht IOC nicht zu
So verwies der Deutsche beim massiven Problem der Umweltverschmutzung mit illegalen Müllkippen, aus dem Boden gestampften Sportstätten und Luxus-Hotels sowie massiven Abholzungen für neue Verkehrs-Trassen stets nur darauf, dass für jeden gefällten Baum mehrere neue Bäume gepflanzt würden.
Wurde Bach auf die Menschenrechtsdefizite in Russland angesprochen und gefragt, was das IOC dagegen zu tun gedenke, hatte er betont, Einmischung in interne russische Angelegenheiten stünden ihm und dem IOC nicht zu. "Die Verantwortung und der Anspruch des IOC sind es, dass die Olympische Charta Anwendung findet", meint Bach: "Ich habe das mit Präsident Putin besprochen, und er hat es zugesichert."
Noch am Montag hatte er sich zuversichtlich gezeigt, dass die anhaltende weltweite Kritik an den russischen Organisatoren abebben wird. "Es wird immer klarer, dass die Spiele für die Athleten und den Sport da sind", hatte der Wirtschaftsanwalt aus Tauberbischofsheim bei einer Telefon-Pressekonferenz gesagt. Das könnte sich jetzt schnell wieder ändern.