Laut wurde "Der Lange" oder auch "Der Mann mit der Mütze" nie. Das Cholerische, das vielen großen Trainern eine charismatische und autoritäre Aura verlieh, war ihm fremd. Schön hatte einen anderen Ansatz. Er schwieg und sah seine Spieler mit einem enttäuschten Blick an, die Stirn unter der Schirmmütze tief in Falten gezogen.
"Er nahm es der Mannschaft übel, dass sie verloren hatte - und sprach am nächsten Tag kein Wort mit uns. Dass er uns seine tiefe Enttäuschung auf diese Weise spüren ließ, anstatt uns eine Standpauke zu halten oder Strafen auszusprechen, war für alle höchst bedrückend", beschrieb Bernd Hölzenbein Schöns Strategie nach der Niederlage gegen die DDR 1974 im Interview mit 11 Freunde. "Das war ihm eigen. Helmut Schön motivierte nicht durch laute Ansprachen, er motivierte, indem er beleidigt war. Es fühlte sich an, als hätte man den eigenen Vater enttäuscht."
Und das war er, der Vater einer einzigartigen Ära. 14 Jahre leitete er als DFB-Trainer die Geschicke der deutschen Nationalmannschaft. Zwischen 1964 und 1978 stand er bei 139 Spielen an der Seitenlinie und holte 89 Siege. Er wurde 1972 Europa- und zwei Jahre später Weltmeister. Sein Schaffen hievte Deutschland in die Avantgarde der Fußball-Ästheten. "Helmut Schöns Mannschaft eröffnete einen neuen Zeitabschnitt im Fußball", schrieb etwa die Mailänder Corriere della Serra.
Schön stand dennoch immer im Schatten der großen Spieler wie Uwe Seeler, Gerd Müller, Sepp Maier, Paul Breitner, Wolfgang Overath und allen voran Franz Beckenbauer. Die aggressive Journaille um Springer und Co. attackierte ihn in Stunden des Misserfolgs scharf und brandmarkte ihn als "leblos", "ohne Charisma" und "zu weich" und sparte am Adeln seines Wirkens in den Stunden des Erfolgs.
Wider den "Firlefanz"
Der intellektuelle Schön gab sich nie volksnah wie Herberger. Er hielt Abstand zu allen, die nichts mit dem Kern der Nationalmannschaft zu tun hatten. Während man seinem Vorgänger kumpelhafte Spitznamen wie "Bundes-Sepp" oder "Muckl" verpasste, beschränkte man sich bei Schön auf Äußerliches: die Größe, das Schlaksige und eben die Mütze, die manchmal fast wie ein Schutzschild gegen all das Schlechte der Branche wirkte.
Das Schlechte war bei Schön die voranschreitende Kommerzialisierung des Fußballs. "Ich bin davon überzeugt, dass die überwältigende Mehrheit der treuen Zuschauer vor allem eines sehen will: guten, echten, spannenden, sportlichen Fußball - und keinen Firlefanz", glaubte er und verteufelte all jenen "Firlefanz" wie das Feilschen um Prämien, Saufgelage im Hotel und Prunksucht von jung zu Reichtum gekommenen Männern.
Der stille Beobachter
Er trat selten nach außen und füllte die Zeitungen nie mit markigen Aussagen. Er behielt viel für sich. Dann schwieg er wieder und in ihm rumorte und brodelte es. So war das schon als Spieler. Der gebürtige Dresdner hatte den Papiernen Mathias Sindelar zum Vorbild und war auf dem Platz ein Techniker mit grandiosem Auge, aber eben "sehr vorsichtig" (Mitspieler Hans Pesser). Ein stiller Spielmacher, der für seine feinen Pässe oder brillanten Pirouetten kein Lob wollte.
Im Gegenteil: Schön war es unangenehm im Fokus zu stehen, er wollte lieber Beobachter bleiben. Ein stiller Genießer mit scharfem Blick. Fußball-Pionier Jimmy Hogan war kurzzeitig Schöns Trainer beim SC. Der Engländer brachte das "Scheiberln" nach Deutschland. Er setzte auf Kombination, auf Pässe, auf Technik und nicht mehr auf rustikalen Fußball.
Kultur und "Schön k. v."
Herberger war es, der Schön 1937 in das Aufgebot der Nationalmannschaft berief. Beim 5:0 gegen Schweden erzielte Schön zwei Tore und glänzte im Zusammenspiel mit dem Schalker Fritz Szepan. In 16 Länderspielen schoss er 17 Tore , der Meniskus verhinderte seine Teilnahme an der WM 1938 und sorgte mit 27 Jahren für das Karriereende des immer über den Tellerrand hinaus blickenden Fußballers.
Schön hatte Abitur, als Sohn des Kunsthändlers Anton war Kultur fest verankert im Haushalt. Man hörte Opern und in den Regalen standen Goethe und Dostojewski. Er spielte 1939 bei Kriegsbeginn mit dem Gedanken die Fußballschuhe an den Nagel zu hängen und sich dem Medizin-Studium zu widmen, verwarf den Gedanken aber nach "kurzer Überlegung".
Schön blieb vom Kriegsdienst verschont und war nur wenige Wochen an der Front. Er wurde wegen eines "Knieschadens" vom Dienst befreit und DSC-Mitglied Karl Mehnert, ranghoher Wehrmacht-Angehöriger, sorgte dafür, dass die Spieler lange nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Als Folge wurde Schön bei Spielen als "Verweigerer" beschimpft und wurde bei Ballkontakten mit einem höhnischen "Schön k. v." (kriegsverwendungsfähig) bedacht.
Harmonie mit Herberger
Als der Krieg zu Ende war, sorgte Schön für seine 1943 geheiratete Frau Annelies und Sohn Stephan. Er spielte inzwischen beim FC St. Pauli und brachte in einem Lastwagen aus Hamburg diverse Waren mit, mit denen er ein florierendes Tauschgeschäft eröffnete. 1950 absolvierte Schön mit einer Sondergenehmigung unter Sepp Herberger seine Trainerausbildung, 1951 wurde er Trainer des SV Wiesbaden, 1952 Nationaltrainer des damals autonomen Saarlands. Nach beachtlichen Leistungen wurde er 1956 Assistenztrainer Herbergers bei Deutschland, nachdem das Saarland angegliedert worden war.
1958 in Schweden und 1962 in Chile war er bei der WM dabei. Er sorgte für ein gutes Klima im Team, war Ansprechpartner für die Spieler und sorgte für neue Impulse wie Theater-Besuche. Obwohl grundverschieden und trotz der Ausmusterung des Nationalspielers Schöns, weil der laut Herberger "zu wenig kämpferisch" gewesen war, harmonierten Herberger und Schön gut. Der Handwerker Herberger agierte autoritär und pragmatisch und hing seinen Gedanken auf langen Spaziergängen in der freien Natur nach. Schön dagegen ließ den Spielern viel Freiraum, hörte in der Stube Puccini oder Strauß und las Bücher, "so dick, dass ich ewig brauchen würd'" (Herberger).
Das Traineramt als wackliger Stuhl
1964 schied Herberger aus und Schön wurde Bundestrainer, obwohl man eigentlich den 54er Helden Fritz Walter installieren wollte. "Helmut Schön ist es aufgegeben, die Arbeit Herbergers fortzusetzen, der zweifellos zu der höchsten Rangstufe der Menschenführer unter den 'coaches' gehört. Im September, wenn es gegen Schweden geht, muß er sich bewähren", hieß es in der Zeit bei seinem Amtsantritt und nicht wenige prophezeiten das Aus in der Qualifikation für die WM 1966 in England gegen Schweden. Der zaudernd wirkende Schön saß auf einem wackligen Stuhl.
Doch es kam alles anders. Seeler erzielte gegen die Skandinavier den 2:1-Siegtreffer und Deutschland fuhr zur WM. Das Wembley-Tor verhinderte einen Triumph, aber Schön hatte sich Respekt verschafft, der nach der verpassten Qualifikation für die EM 1968 massiv bröckelte. "Verspielt der passive Schön Sepps Erbe?", hieß es in der Bild. Schön blieb im Amt und startete eine ästhetische Revolution.
Sein Ziel war es "eine Nationalmannschaft aus Talenten, Individualisten und Persönlichkeiten zu formen. Sie müssen ein Ensemble bilden und kein Kollektiv, das nach Schema F versucht, zum Erfolg zu kommen." 1970 in Mexiko zeigte Deutschland hohe Spielkunst, scheiterte aber in der Gluthitze von Mexiko-City.
Der Erfolg kam, die Kritik blieb
1972 bauten sie sich und Schön dann ein Denkmal. Beckenbauer, Netzer und Co. zauberten Offensivfußball vom Feinsten auf den Rasen. Schön genoss das Spiel seines Teams im Stillen. "Wir müssen von den Deutschen lernen. Sie haben Spielzüge, die in keinem Lehrbuch stehen", gestand der sowjetische Nationaltrainer Ponomarjow, während die französische L'Équipe Günter Netzer als "den besten Spieler unseres Erdteils" bezeichnete. 1974 folgte die endgültige Krönung in München.
Deutschland wurde gegen Cruyff und Holland zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister und Schöns breites Lächeln unter seiner Mütze ging um die Welt. Er hatte sich in beeindruckender Weise vom großen Sepp losgesagt, dem Team spielerisch eine neue Stufe der Qualität eingeimpft und hielt den goldenen Pokal in den Händen - und trotzdem blieb die Kritik. Glück habe er gehabt, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Glück, Trainer einiger der größten Spieler aller Zeiten gewesen zu sein.
Der größte Pädagoge
Dabei war er es, der die Stars zusammenhielt. Er einte Spieler wie den exzentrischen Breitner, den charismatischen Netzer und den vergnügt-autoritären Beckenbauer. Er machte sie alle zu einem Team, er fungierte weniger als Taktik-Großmeister, denn als Sport-Psychologe. Er ist der größte Pädagoge in der Geschichte des DFB. "Ein Mensch, den jeder akzeptierte, den jeder gerne hatte. Als Bundestrainer schaffte er eine Atmosphäre, die dazu führte, dass jeder gerne zur Nationalmannschaft fuhr. Das ist auch der Grund für seine enormen Erfolge", sagte Kapitän Beckenbauer. Die Mär von der Entmachtung Schöns in Malente nach der Pleite gegen die DDR sei "Quatsch", wie Hölzenbein bestätigt.
Schön organisierte Bootsfahrten, ging mit seinen Spielern in den Zoo und in die Kneipe, bevor sie nachts auf eigene Faust ausbüchsten. Er erkannte sie als Menschen, sprach mit Breitner über Mao und ließ ihnen die Freiheit, die Revoluzzer zu bleiben, die sie waren. Obwohl ihn eine Vielzahl von Zuschriften erreichte, die "das Ende des Afrika-Looks" auf den Köpfen der Spieler forderten oder die Ausmusterung der "undeutschen" Legionäre im Kader, beließ Schön alles so wie es war. Um der Harmonie willen. Ganz anders als Herberger eben.
Der Mann mit dem "Löwenherz"
Der stille Ästhet vereinte in sich einige Eigenschaften, die zum Amt eines Nationaltrainers eigentlich nicht passten. Er war sensibel, vorsichtig, empfindlich und still. Dennoch war er der Kommandeur der Spieler - und wenn er dafür schweigen musste. "Der Nationaltrainer schwebt über allem wie der große Guru. Als Vereinstrainer, glaube ich, wäre Helmut Schön vor die Hunde gegangen", schrieb der große Max Merkel in einer Kolumne für den Spiegel.
Und wahrscheinlich hat er Recht. "Ein direkter Löwe ist er ja nicht", hieß es in Schöns Dresdner Jugendtagen. Aber er sei immer einer mit einem Löwenherz gewesen, stellte Zeit-Journalist Aloys Behler passend fest. Nachdem er 1978 zurück trat, zog er sich aus dem Fußballgeschäft zurück. Er verließ die große Bühne, auf der er eigentlich nie hatte stehen wollen, und fand sein Glück im Stillen. Opern, die Familie, Wein, Blumen, Literatur. Schön fand in seinen späten Jahren die Zeit, die er vorher nie hatte.
Fast unbemerkt erkrankte er in den Neunzigern an Alzheimer und starb nach langer Krankheit am 23. Februar 1996 im Alter von 80 Jahren in Wiesbaden. Inzwischen ist er Mitglied der DFB-Hall-of-Fame, es gibt einen Helmut-Schön-Sportpark und eine Helmut-Schön-Allee und heute ist klar, was zu Lebzeiten nicht entsprechend gewürdigt wurde: Helmut Schön ist eine der größten Persönlichkeiten der Fußball-Geschichte. Ein ruhiger Mann mit Löwenherz, der eine solche Kraft entwickeln konnte, indem er das Gegenteil von all den lauten und auffallenden Protagonisten der Fußball-Branche tat: indem er nichts sagte. Indem er schwieg.