O Captain! My Captain!

Stefan Petri
14. Mai 201712:23
Derek Jeter (r.) bedankt sich bei den Yankee-Fans, neben ihm klatscht eine Legende Beifallgetty
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Am 28. September 2014 hat Derek Jeter sein letztes Spiel im Jersey der New York Yankees bestreiten. Danach war endgültig Schluss für "den Captain" - nach 20 Jahren, einer Menge unvergesslicher Highlights und nicht zuletzt fünf Titeln. An diesem Sonntag wird seine Nummer zwei von den Yankees in einer feierlichen Zeremonie in den Ruhestand versetzt. Ein Blick zurück auf die große Karriere des letzten verbliebenen Baseball-Superstars.

[Dieser Artikel wurde ursprünglich am 19. September 2014 veröffentlicht.]

Dreihundertzweiundvierzigtausend Mal.

So oft könnte Derek Jeter laut einer Schätzung der "New York Times" seinen charakteristischen Inside-Out-Schwung absolviert haben. Der vordere, linke Fuß hebt ab und tippt kurz auf, dann öffnet sich Jeters Körperhaltung, während der Schläger auf seiner rechten Schulter wie ein Pendel abwärts durch die Strikezone rauscht, nur um über der linken Schulter zur Ruhe zu kommen. 342.000 Mal im Laufe seiner Karriere, ob nun im Batting Cage, in der Offseason oder in der World Series.

3.453 dieser Schwünge haben in 20 Jahren Major League Baseball zu Hits geführt, das ist Nummer sechs der ewigen Bestenliste. Dazu kommen 200 in den Playoffs - Rekord. 260 führten zu Homeruns. Eine ganze Menge natürlich auch zu Strikeouts. Und etliche zu Standing Ovations, ob nun im altehrwürdigen oder im neuen Yankee Stadium.

Die Standing Ovations haben im Jahr 2014 noch einmal dramatisch zugelegt. Gerade auswärts. Denn Derek Jeter macht Schluss. Ein paar hundert Schwünge werden noch dazukommen. Dann ist die Karriere des langjährigen Shortstops der New York Yankees beendet. Der Captain geht von Bord.

Und mit ihm verlässt der vielleicht letzte Baseball-Superstar überhaupt die Bühne.

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Abschied überdeckt Seuchenjahr

Machen wir uns nichts vor: Die Saison der Bronx Bombers war eine einzige Enttäuschung. Trotz einer groß angelegten Einkaufstour wird man, wenn kein Wunder geschieht, zum zweiten Mal in Serie die Postseason verpassen. Die Gründe sind vielschichtig: Alternde Stars sind das Problem, eine verfehlte Kaderplanung, enttäuschende Neuzugänge. Dazu kommt desaströses Verletzungspech. Kurz und gut: Das einstige Evil Empire wird derzeit nur noch belächelt.

Da trifft es sich für die New Yorker Presse hervorragend, dass "DJ2" im Februar seinen Rücktritt ankündigte. Ein überraschendes Vorgehen für den sonst so öffentlichkeitsscheuen Infielder, der sich darüber im Klaren sein musste, dass ihm in den kommenden Monaten das "Mariano-Rivera-Paket" blühen würde.

Jeder letzte Auftritt in einem Ballpark wurde zum Happening hochstilisiert, mit Montagen, Abschiedsreden und natürlich ungemein kreativen Geschenken. Cowboystiefel gab es schon, Urlaubsreisen, ein Kajak, ein ... Lego-Mosaik.

Heißt: Selbst wenn die Yankees gegen einen mittelmäßigen Pitcher mal wieder alt aussahen und Jeter einen 0-for-4-Tag hinlegte, gab es etwas Positives zu berichten, schöne Bilder zu zeigen. Und der obligatorische Blick in die Vergangenheit. Glanz vergangener Tage.

Ein Glücksfall für Baseball

Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum sich der 40-Jährige, sonst ein Paradebeispiel für nichtssagende Pressekonferenzen und sorgfältig gepflegte Privatsphäre, diesem Medienrummel aussetzt. Noch einmal zurückschauen auf der Ehrenrunde: Auf fünf Championships, 14 All-Star-Nominierungen, eine Vielzahl an Preisen und Ehrungen.

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Auf die Tatsache, dass ein kleiner Junge aus Michigan seinen Traum verwirklicht und Shortstop bei den New York Yankees wird, dem größten und erfolgreichsten Baseball-Team der Welt. Dass er als Teil der "Core Four" - Jeter, Closer Rivera, Pitcher Andy Pettitte und Catcher Jorge Posada - den Sport für lange Zeit prägen wird. Dass er 1996 als Rookie of the Year seinen ersten Titel holt und in den ersten fünf Jahren gleich viermal Champion wird.

Und auf die Momente, die aus Jeter mehr machen als nur einen richtig guten Shortstop. "Man hätte kein besseres Drehbuch schreiben können. Er ist einfach bemerkenswert. Wie glücklich kann sich unser Sport schätzen, dass ein Derek Jeter die Ikone dieser Generation ist?" Worte von niemand Geringerem als Commissioner Bud Selig.

Unvergessene Momente

Da ist sein kontroverser Homerun in den Playoffs 1996 gegen die Baltimore Orioles, der das Auftaktspiel der ALCS herumreißt. Auch dank Jeter (.361 AVG) feiern die Yankees den ersten Titel seit 1978. Vier weitere sollen folgen.

Da ist die World Series 2001: In Spiel 4 gegen die Arizona Diamondbacks am 31. Oktober springen die Uhren im zehnten Inning um, zum ersten Mal überhaupt wird im November gespielt. Nur Sekunden später schwingt Derek Jeter gegen Byung-Hyun Kim, natürlich inside-out. Walk-off-Homerun! Jeter ist "Mr. November".

Da ist "The Dive": Gegen die Red Sox erreicht die Nummer zwei 2004 im Vollsprint einen Popup im Left Field - und stürzt kopfüber in die Zuschauer am Spielfeldrand. Als er kurz darauf wieder zum Vorschein kommt, ist sein Gesicht blutig zerschrammt, doch der Ball immer noch im Handschuh. Eine Aktion, die in den Augen der Yankee-Fans Jeters Mentalität perfekt umreißt: Für den Sport - und für sein Team - gibt er alles.

Da ist sein 3000. Hit. Es ist, wie sollte es auch anders sein, ein Homerun, und zwar nicht gegen irgendjemanden, sondern gegen Tampa Bays Ass David Price. Er beendet den Abend mit einer perfekten 5-for-5-Bilanz.

Da ist 2003 seine Ernennung zum Captain. Ein symbolisches Amt, mit dem ihn der mittlerweile verstorbene Besitzer George Steinbrenner adelt und in eine Reihe stellt mit den ganz Großen wie Gehrig oder "The Babe". Zuvor war das Amt acht Jahre vakant, jetzt kann Jeter die Fußstapfen ausfüllen.

Und da ist natürlich der magische Moment im Oakland Coliseum.

The Flip

Der Titelverteidiger aus New York hat die ersten beiden Spiele der Division Series gegen die Oakland A's verloren und muss die Serie auswärts irgendwie verlängern. Beim Stand von 1:0 für New York schlägt Oaklands Terrence Long ein Double in die rechte Ecke, Jeremy Giambi läuft von der ersten Base los, den Ausgleich und ein schnelles Ende der Serie vor Augen.

Als Right-Fielder Shane Spencer den Ball endlich ausgräbt, verfehlt sein Wurf nicht nur einen, sondern gleich beide Cut-Off-Optionen an der Seitenlinie, also die Relay-Stationen, die das Spielgerät an die Platte bringen sollen. Giambi ist so eigentlich nicht mehr zu stoppen.

Doch dann taucht plötzlich Jeter auf.

Der Shortstop, eigentlich am Mound postiert, schaltet blitzschnell, sprintet zwischen First Base und Home Plate, greift zu und flippt den Ball aus dem Handgelenk zu Posada. Ein perfekter Wurf, aus vollem Lauf - Giambi ist out! "Was macht er dort überhaupt", ruft Center Fielder Johnny Damon, und Oaklands Manager Art Howe fehlen die Worte: "Ich habe keine Ahnung, wie und warum er in diesen Spielzug überhaupt involviert ist. Das zeigt nur, was für ein Spieler er ist."

Jeters Aktion geht als "The Flip" in die Baseball-Geschichte ein. Dass die Yankees die Serie mit 3-2 für sich entscheiden, wird wohl niemanden verwundern.

Ruth, Gehrig, Jeter?

Derek Jeter als Lichtgestalt ist eine Kombination aus diesen unvergesslichen Momenten einerseits und seiner fast schon unheimlichen Konstanz andererseits. Von 1996 bis 2012 ist er immer für rund 200 Hits, 10-20 Homeruns, 30 Doubles und einen Average über .300 zu haben. Für einen MVP-Titel reicht es nicht, aber gleich achtmal für die Top Ten.

Dazu kommt, dass die Vorzeichen kaum besser sein könnten: Im Baseball-Mekka - und Medienzentrum! - New York wartet man verzweifelt auf einen Helden in der Tradition von Babe Ruth, Lou Gehrig oder Mickey Mantle.

Die Geschichte des Baseball: Von 1845 bis heute

Und natürlich auf den ersten Championship Ring seit 1978. Jeter ist seit seiner Kindheit Yankee-Fan, wird 1992 an sechster Stelle gedraftet und durchläuft das eigene Minor System. Er spielt gut, arbeitet hart, sieht gut aus - Jeter wird zum Gesicht der neuen Bronx-Bombers-Dynastie. Schon im Jahr 2000 ist seine Legende eigentlich geschrieben.

Doch es sind nicht nur die Yankees und deren Fans überall in den USA. Das ganze Land ist nach den Steroid-Skandalen um Mark McGwire, Sammy Sosa und Barry Bonds auf der Suche nach neuen Helden. "Chicks dig the long ball" gilt nicht mehr. Jeter dagegen ist skandalfrei, sympathisch, spielt das Spiel "the right way". Keine Moonshots, sondern harte Arbeit. Die Yankees werden geliebt oder gehasst, doch Jeter wird immer respektiert. Und irgendwann bewundert.

Zurückgezogener Herzensbrecher

Seine Partyjahre fallen darüber hinaus in eine Zeit, in der noch nicht jeder Fan mit Kamera und Twitter-Account ausgestattet ist. Als die sozialen Medien Fahrt aufnehmen, schottet er sich ab, verbringt die Zeit lieber auf seinem monströsen Anwesen in Florida als in den Clubs des Big Apple. Wenn er Interviews gibt, sind sie kalkuliert und vorsichtig formuliert. Nie bieten sie Munition für eine saftige Schlagzeile.

Und die Frauen? Über die Jahre geben sich in "St. Jetersburg" Supermodels und Schauspielerinnen die Klinke in die Hand. Jessica Alba, Jessica Biel, Adriana Lima, Scarlett Johansson, Minka Kelly, Mariah Carey, und wie sie alle heißen.

Kurzzeitige Bettgeschichten sollen Gerüchten zufolge mit einem Geschenkkorb voller Memorabilien abgespeist werden - aber kompromittierende Fotos oder gar schmutzige Wäsche? Fehlanzeige. So nimmt sein Legendenstatus keinen Schaden, ganz im Gegenteil.

Die Lücke ist groß

Wen stört es da, dass Jeters Defensivspiel fast durchgängig schlechter war als sein Ruf. Dass eine vergleichbare Karriere im Baseball-Niemandsland, also etwa in Kansas City oder Houston, ihren Weg in die Schlagzeilen sehr viel seltener gefunden hätte.

Oder dass sein stures Beharren darauf, bis zum bitteren Ende Shortstop zu spielen, für den Erfolg des Teams in den letzten Jahren vielleicht nicht immer förderlich war.

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Die Liga ganz bestimmt nicht - die hat genug Probleme: Die Spiele sind zu lang und bieten zu wenig Action, weshalb gerade die Jugend immer stärker das Interesse verliert.

Regional sind die Teams beliebt und die TV-Verträge robust, doch die landesweit übertragenen Duelle locken kaum noch jemanden an die Bildschirme. Seit Jahren werden die Playoffs im Oktober von der alles zermalmenden NFL in den Schatten gestellt, Ikonen wie LeBron James oder Peyton Manning hat der Sport nicht zu bieten.

Abschied gegen die Red Sox

Oder besser: Bald nicht mehr. So wird der letzte verbliebene Superstar zum Ausklang seiner Karriere durch die Nation gekarrt und den Fans ein letztes Mal präsentiert, selbst wenn ihn Manager Joe Girardi aufgrund seines schwachen Spiels (.249 AVG, nur drei Homeruns in 136 Spielen) hin und wieder auf der Bank lässt.

Jeter selbst trägt es mit Fassung, wie immer ganz Profi. Mittlerweile taut er sogar hin und wieder auf und lässt seine menschliche Seite durchblitzen - er hat seinen Frieden gemacht, auch mit der Tatsache, dass es mit einer letzten Postseason nichts werden wird.

Zehn Spiele bleiben. Ein Schwung hier, ein Hit da, vielleicht sogar noch ein Homerun. Ein letzter Curtain Call am 28. September gegen die Boston Red Sox. Und dann?

Ritterschlag von MJ

Die Hall of Fame ist ihm sicher. Jeter gehört zu den besten Shortstops aller Zeiten, zumindest offensiv. Seinen Platz unter den Yankee-Legenden wird ihm niemand nehmen, für einige ist er sogar der größte Yankee ever. Als das Team am 7. September - in der laufenden Saison - den "Derek Jeter Day" ausruft und den Captain ehrt, ist sogar Michael Jordan unter den Laudatoren.

MJ, der bisher noch mit jedem einen Streit vom Zaun brechen konnte, ist voll des Lobes. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand etwas Schlechtes über Derek Jeter sagen könnte."

Der Klub wird seine Lücke füllen, zumindest auf dem Diamond. Das Geld war schließlich noch nie ein Problem für die Steinbrenner-Familie. Und vielleicht ist es ja kein Abschied für immer: Sein Traum sei es, einmal eine Franchise zu besitzen, verriet die Pinstripes-Ikone einst. Da kommt eigentlich nur ein Team infrage.

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