Als die Celtics Brad Stevens als neuen Coach vorstellten, kannten wohl nur die wenigsten diesen schüchternen jungen Mann aus Indiana. Dabei liest sich die Vita des 36-Jährigen wie eine einzige Erfolgsstory. Wieso er bereits im Vorschulalter völlig basketballbesessen war, warum er fast als Kellner angeheuert hätte und welche Gefahren in der NBA auf den außergewöhnlichen Collegetrainer warten. Ein Porträt.
Um besser verstehen zu können, welcher Mensch Brad Stevens wirklich ist, muss man bis in seine frühesten Kindheitstage zurückreisen. Als Einzelkind eines orthopädischen Chirurgen und einer Collegelehrerin wuchs der kleine Brad im beschaulichen Zionsville, einem ruhigen Vorort von Indianapolis, auf.
Im traditionell basketballverrückten Indiana stellte Stevens keine Ausnahme dar und war bereits im Vorschulalter der orangenen Lederkugel verfallen. Stundenlang zockte er täglich mit den Nachbarschaftskindern in der Auffahrt.
Ließ das Wetter das aktive Spielen mal nicht zu, verkroch sich Brad entweder ins elterliche Wohnzimmer, um aufgezeichnete NBA-Partien zu studieren, oder besuchte gemeinsam mit seinem Vater Begegnungen der quasi vor seiner Haustür spielenden Hoosiers. "Wenn du aus Indiana stammst, ist es schier unmöglich, Basketball nicht zu lieben," hat Stevens später einmal selbst gesagt.
Ein Star an der High School
Trotz seiner relativ geringen Größe (1,83m) und seines schmächtigen Körperbaus war Stevens zwischen 1992 und 1995 der unangefochtene Star an der Zionsville Community High School. Noch heute hält der Point Guard, der in Anlehnung an sein Idol Reggie Miller die 31 trug, die Schulrekorde, was erzielte Punkte, Assists und Steals in einer Saison angeht.
Angesichts solcher Zahlen hätten viele Spieler bereits von einer großen Karriere geträumt, doch Stevens war clever genug, um frühzeitig zu erkennen, dass es für eine professionelle Laufbahn nicht reichen würde. Wohl bedacht wählte er das eher für seine Studien bekannte DePauw-College und legte in vier Jahren ordentliche 8 Punkte im Schnitt auf.
Nach seinem BWL-Abschluss 1999 kannte Stevens dann auch keinerlei Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Bei einem weltweit führenden Pharmaunternehmen arbeitete er als Analyst in der Finanz- und Statistikabteilung. Es war eine vielversprechende und gut bezahlte Stelle, doch zum ersten Mal in seinem Leben konnte Stevens seiner Leidenschaft nicht nachgehen.
"Die Entscheidung war ein Wagnis"
Nach nur einem Jahr schmiss er seinen Job und war fest entschlossen, eine ehrenamtliche Trainerstelle bei Butler anzutreten. Stevens war bereit, eine Zeit lang von seinen Ersparnissen zu leben und hatte sich sogar erfolgreich bei einer Diner-Kette als Kellner beworben.
Einen Tag bevor er seine neue Stelle im Gastronomiebereich antreten sollte, erhielt er die Zusage, dass man ihm bei Butler den Posten des Basketball-Direktors anbieten würde. 1500 Dollar Monatsgehalt waren zwar ein erheblicher Rückschritt, doch Stevens wollte sich die Chance nicht entgehen lassen.
"Im Nachhinein ist alles glatt gelaufen, aber die Entscheidung war zu der Zeit ein echtes Wagnis," gibt Stevens zu. Wie so oft bei Lebensentscheidungen war seine heutige Frau und damalige Freundin Tracy die treibende Kraft an seiner Seite: "Wir waren beide erst 23 und hatten eigentlich nicht viel zu verlieren. Wenn Brad noch einige Jahre gewartet hätte und Erfolg in seinem vorigen Job gehabt hätte, wäre ihm der Absprung sicherlich nicht so leicht gefallen."
Sensationeller Run mit Butler
Stevens' Zeit bei Butler kann man getrost als eine einzige Erfolgsgeschichte bezeichnen. Nachdem er sich sechs Jahre lang unter Todd Lickliter sämtliche Facetten des Trainerjobs angeeignet hatte und zudem bereits des Öfteren selbst ins Trainingsgeschehen eingreifen durfte, wurde er 2007 zum Head Coach befördert.
Unter Stevens legten die Bulldogs einen sensationellen Run hin, gewannen in sechs Spielzeiten 166 von 215 Spielen und standen 2010 und 2011 im NCAA-Finale. Für die relativ kleine Universität eine herausragende Leistung. Wie sehr Butler seinem Erfolgscoach vertraute, zeigt die Tatsache, dass er erst 2010 in Indiana einen Vertrag bis 2025 unterzeichnete.
Exemplarischer Trainer
Stevens als akribischen Taktiker zu bezeichnen grenzt wohl noch an eine maßlose Untertreibung. Viele ehemalige Spieler wie Utahs Gordon Hayward berichten, dass die Trainingseinheiten minutiös durchgeplant waren und sowohl körperlich als auch mental an die Substanz gingen.
Die meisten dieser Einheiten fanden ihren Ursprung jedoch nicht in seinem fensterlosen Büro am Campus, sondern in der nahe gelegenen "Broad Ripple Tavern". Mehrmals wöchentlich hat Stevens die rustikale College-Kneipe aufgesucht, um in einer ruhigen Ecke des Lokals, hinter einer ganzen Reihe von Billardtischen die anstehenden Trainingspläne durchzugehen.
"Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in 99 von 100 Partien das wesentlich besser vorbereitete Team waren," berichtet Guard Ronald Nored, der von 2010 bis 2012 unter Stevens agierte und nun bei den Celtics für die Spielerentwicklung im D-League-Team verantwortlich sein wird.
Exemplarischer Mensch
Wenn Leute den heute 36-Jährigen beschreiben müssen, fallen immer nur Worte wie aufrichtig, ehrlich, integer, loyal, vorbildlich.
Skeptiker würden wohl anführen, dass diese ganze Mister-Nice Guy-Geschichte unglaubwürdig erscheint, aber wie will man einem Mann böse sein, der in den vierundzwanzig Stunden zwischen seiner offiziellen Vorstellung bei den Celtics und dem Auftakt der Summer League in Orlando extra zurück nach Indiana eilt, um in Connersville an einer lokalen Parade teilzunehmen? Und der ganze Aufwand nur, weil er es dem Vater eines Ex-Spielers versprochen hatte.
"Er ist ein Meister, wenn es darum geht, Beziehungen aufzubauen. Brad ist ein authentischer Typ, der dich wirklich kennen lernen möchte und stets nur das Beste für einen will. Als Spieler hast du im Grunde genommen keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen und so hart wie möglich zu arbeiten," führt Nored weiter an.
Skepsis bei den Celtics-Fans
Angesichts dieses Lebenslaufes hätte man in Boston Jubelstürme erwarten können, als die Verpflichtung Anfang Juli bekannt gemacht wurde. Überraschenderweise gab es in weiten Teilen der Anhängerschaft große Zweifel: junger, erfolgreicher College-Coach... da war doch mal was.
In der Tat liegt der Vergleich zu Rick Pitino auf der Hand. Nach dem Titelgewinn mit den Kentucky Wildcats übernahm Pitino die Celtics 1997, nur um knapp vier Jahre später wieder entlassen zu werden.
Das Engagement wurde im Nachhinein stets als großes Missverständnis abgestempelt. Die mehr als nüchterne Bilanz (102-146-Bilanz) sowie vier verpasste Playoff-Teilnahmen lassen ein anderes Fazit auch nur schwierig zu. Hinzu kam, dass Pitino sich durch seine autoritäre und teils selbstverliebte Art nicht unbedingt viele Freunde gemacht hat.
"Der Gegenpol zu Pitino"
Die Nähe zu Pitino ist sicherlich präsent - jedoch nur auf den ersten Blick. Viele vergessen, dass Pitino zehn Jahre vor seiner Celtics-Zeit bereits erfolgreich bei den Knicks gearbeitet hatte. Hinzu kommt, dass Stevens und Pitino charakterlich nicht unterschiedlicher sein könnten.
"Er ist der absolute Gegenpol zu Rick Pitino oder auch zu einem John Calipari. Diese Typen dachten, dass sich alles um sie drehen würde. Brad tickt überhaupt nicht so und ist sich bewusst, dass die NBA eine Liga der Spieler und nicht der Coaches ist. Das wird ihm vieles erleichtern," glaubt Experte und Celtics-Fan Bill Simmons.
Umstellungen bei den Profis
Trotz aller Vorschusslorbeeren werden auf Stevens zweifelsfrei eine ganze Reihe größerer Umstellungen zukommen. Was die NBA-Erfahrung angeht, ist er nämlich genauso grün hinter den Ohren, wie das die Trikots seiner neuen Mannschaft sind.
Kultreporter Dick Vitale mahnt zu Recht, dass NBA und College, nicht nur hinsichtlich der Trainingsplanung, zwei völlig verschiedene Welten sind: "Brad muss vom ersten Tag an Geduld predigen. Die NBA ist ein Tagesgeschäft, aber Boston wird einige Zeit brauchen, bevor man wieder oben angreifen kann. Ich hoffe, dass man ihm diese Zeit gewähren wird."
Auch beim Umgang mit "älteren" Spielern und Stars muss sich Stevens anpassen. Vor allem der als schwierig geltende Rajon Rondo wurde von den Medien auf Anhieb als möglicher Königsmörder ausgemacht.
Um diesem aufgebauschten Thema schnellstens die Brisanz zu nehmen, war eine von Stevens' ersten Amtshandlungen ein mehrstündiges Gespräch mit dem Franchiseplayer.
"Er kann besonderes vollbringen"
Diese Episode illustriert mehr als deutlich, dass Stevens ganz genau weiß, worauf er sich eingelassen hat. Er hätte problemlos bei Butler in seiner Komfortzone bleiben können, doch hätte das wirklich in die Vita dieses außergewöhnlichen 36-jährigen Mannes gepasst?
"Ich bin der Meinung, dass die Celtics noch gar nicht genau wissen, wen sie da für die nächsten sechs Jahre unter Vertrag genommen haben. Brad ist ein Trainertalent, wie man es nur äußerst selten vorfindet. Ich kann mir vorstellen, dass er etwas ganz besonderes in Boston vollbringen kann." Nicht nur die Fans der Celtics werden hoffen, dass Mike Krzyzewski mit dieser Einschätzung richtig liegt.