Einer der besten Shooter aller Zeiten oder ein wurfgeiler Akteur mit ständigen "Ups and Downs" und Hang zu Ego-Trips auf dem Court. Ein zehnmaliger All-Star oder ein Profi, der noch nie zum Spiel der Besten eingeladen wurde. Es sind die gängigen Gedankenspiele. Doch welche Entwicklung darf man von McLemore wirklich erwarten?
Eine Frage der Konstanz
Fest steht: Sein Wurf ist - anders als bei vielen anderen Rookies - schon jetzt auf einem hervorragenden Niveau. Während sich in den meisten Fällen ein guter Schütze über Jahre entwickelt, ist der 20-Jährige ein geborener Shooter mit blitzsauberen "Mechanics".
In seiner einzigen College-Saison an der University of Kansas traf der Guard 49,5 Prozent aus dem Feld und 42,0 Prozent von der Dreierlinie. Beeindruckende Werte, mit denen er sich als "Next Ray Allen" in die Notizbücher der Scouts spielte und prompt als sicherer Top-Five-Pick gehandelt wurde. Letztlich rutschte McLemore beim Draft jedoch bis auf Rang sieben ab, wo ihn die Sacramento Kings pickten.
Der Grund: Bens NCAA-Performances glichen trotz 15,9 Punkten pro Partie einer Achterbahnfahrt. Mal nahm er Iowa State mit 33 Zählern bei zehn von zwölf Treffern aus dem Feld und sechs von sechs Dreiern auseinander.
Ein anderes Mal versagte er im Spotlight der zweiten Runde des NCAA-Tournaments gegen North Carolina und traf keinen seiner neun Würfe. Ein Stigma der Unkonstanz, das die Vergleiche mit J.R. Smith hervorrief und einige General Manager am Draft-Abend abschreckte.
Zu viele Dreier, zu wenig Drives
In der Tat vertraut McLemore in erster Linie auf seinen Wurf und sucht trotz seiner überragenden Athletik zu selten den Weg zum Korb. Magere 3,7 Freiwurfversuche erarbeitete sich Ben am College. Zum Vergleich: Er feuerte von der Dreierlinie einen Wurf pro Spiel mehr ab (4,7)!
Das Kreieren aus dem Dribbling heraus sowie die Penetration gehören also zweifellos zu seinen größten Schwächen. Schwächen, die in der vor Athletik nur so strotzenden NBA noch stärker ins Gewicht fallen als am College. Eine Erfahrung, die der Neu-King in der Summer League (15,8 PPS bei 33 Prozent Field Goals) und der Preseason (10,0 PPS; 42,8 Prozent) machen musste, wo er erneut mit schwankenden Leistungen auffiel.
Ben McLemore ist also noch nicht bereit, um auch in der NBA als Topscorer seines Teams zu glänzen. Die Zweifel bezüglich seiner Nervenstärke und Reife sind berechtigt und können nur mit souveränen Vorstellungen und harter Arbeit beseitigt werden. Ob ausgerechnet die Kings die richtige Adresse sind, um die eigene Entwicklung voranzutreiben, bleibt abzuwarten.
Fluch oder Segen?
Denn trotz guter Chancen auf viel Spielzeit ist McLemore von einer Chaos-Franchise gepickt worden, die jüngst um ein Haar von der NBA-Landkarte verschwunden wäre. Von einer Franchise ohne Veterans, ohne Hierarchie und ohne Identität.
Von einer Franchise, deren Go-to-Guy DeMarcus Cousins bisher nach Belieben den schwer erziehbaren Clown mimen konnte und in der mit Thomas Robinson ein anderer Ex-Jayhawk einst jegliche Entwicklung verpasste. Auch Bens Reifeprozess droht in diesem explosiven Umfeld ins Stocken zu geraten.
Doch es ist nicht das erste Mal, dass der 20-Jährige eine schwierige Situation zu meistern hat. Der bescheidene, schüchterne Youngster weiß, wie man sich durchbeißt. Er ist in armen Verhältnissen aufgewachsen. Gemeinsam mit seinen sechs Geschwistern wurde er im kleinen Ort Wellston in der Nähe von St. Louis von seiner alleinerziehenden Mutter Sandy aufgezogen.
Bens älterer Bruder Keith Scott wurde vor rund fünf Jahren wegen bewaffneten Raubüberfalls zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Dass "Big Ben" nicht ebenfalls kriminell wurde, ist vor allem dem orangen Leder zu verdanken. Basketball war stets sein Rettungsanker, der ihn letztlich auch zu den Kansas Jayhawks und von dort aus in die NBA führte.
Nummer 16 zu Ehren der Familie
Sein größtes Ziel, "seine Familie stolz zu machen" und finanziell abzusichern, hat er erreicht. In seiner neuen Heimat gibt sich der Guard daher gelöster denn je und hat große Pläne.
"Ich will hier ein Teil des Rebuilds und des neuen Clubs werden und kann Spiele notfalls im Alleingang entscheiden", gibt sich Ben selbstbewusst. In Gedenken an seine Familie (eine Mutter, sechs Geschwister) wählte er die Nummer 16 aus.
Wie sein Start in Sac-Town auch verlaufen mag, mit dem neuen Owner Vivek Ranadive hat Ben einen wichtigen Unterstützer an seiner Seite, der bereits Ähnliches durchmachte.
Ranadive ist McLemore-Fan
Der Inder kam einst mit weniger als 100 US-Dollar in die USA, um sich dort den Traum eines besseren Lebens zu erfüllen. "Bens Geschichte zeigt, dass harte Arbeit gegen alle Widerstände triumphiert", so Ranadive. "Aus diesem Stoff werden Legenden und Filme gemacht."
Ob der Film am Ende einen Ray Allen oder J.R. Smith in der Hauptrolle vorsieht, ist im Drehbuch noch nicht festgelegt. Schließlich hängt eine NBA-Karriere auch von Faktoren ab, die nicht im Scouting-Report auftauchen. Etwa vom Willen.
Ben McLemore muss beweisen, dass er eine tragende Rolle in der NBA spielen kann. Dass er noch nicht satt ist, obwohl er sein größtes Ziel erreicht hat. Sonst wird seine Karriere ähnlich wie sein Leben weiter wie eine Achterbahnfahrt verlaufen.
Scouting-Report
Stärken: Sehr athletisch, zudem mit einem stets gleichen Bilderbuchwurf ausgestattet. War in seiner Freshman-Saison treffsicherer als ein gewisser Stephen Curry. Schneller erster Schritt. Nutzt Screens sehr effektiv.
Schwächen: Es mangelt ihm zuweilen an Durchsetzungsvermögen, er spielt oft zu passiv. Wenn sein Wurf nicht fällt, taucht er ab. Zieht zu selten zum Korb, muss sein Ballhandling und seine Defense verbessern. Noch recht unreif.
Fazit
McLemore hat sein Schicksal selbst in der Hand. Er besitzt alle Anlagen, um ein All-Star zu werden, muss dafür aber hart an sich und seiner Einstellung arbeiten.
Der Artikel erscheint in BASKET 12/2013