Dürfte man sich den perfekten Point Guard schnitzen, legte man sicherlich erst einmal großen Wert darauf, dass er seine Mitspieler einzusetzen weiß, dass der Wurf der anderen stets Vorrang vor dem eigenen hat. Falls nötig, darf durchaus selbst gescort werden, allerdings lediglich zur Maximierung des Teamerfolgs. Dazu sollte er das Spiel lesen, es unaufgeregt dirigieren, nicht überdrehen. Turnover wären natürlich nicht allzu gern gesehen.
Chris Paul kommt dem Optimalfall in dieser Saison häufig gefährlich nahe. Rajon Rondo hat in der Vergangenheit ebenfalls bewiesen, dass er gerade in wichtigen Spielen diese Gradwanderung aus Ball verteilen und Verantwortung übernehmen herausragend beherrscht. Im Grunde sind die Boston Celtics auf der Eins also bestens besetzt - fiele Rondo mit einem Kreuzbandriss nicht seit Januar aus.
Die Verletzung des Playmakers hat in Beantown ein Vakuum hinterlassen, das zu schließen zur ersten Mammutaufgabe für Trainer-Rookie Brad Stevens wurde. Zu Saisonbeginn durfte sich erst einmal Avery Bradley, der bereits unter Doc Rivers zeitweise den Ballvortrag übernommen hatte, versuchen. Angesichts von vier Niederlagen aus den ersten vier Spielen besann sich Stevens jedoch einer Variante, die wohl nur die wenigsten für erfolgsversprechend gehalten hätten.
Gegen Utah erstmals in der Starting Five
Gegen die Utah Jazz startete einer auf der Eins, den man wahrscheinlich nicht einmal unter Androhung größter Schmerzen auch nur im Ansatz mit der Blaupause eines Point Guards in Verbindung bringen würde. Sein Name: Jordan Crawford. Jener Jordan Crawford, der während seiner Zeit bei den Wizards nicht gerade im Verdacht stand, uneigennützig den Wurf des besser postierten Mitspielers zu suchen.
In Washington war der 25-Jährige vielmehr als klassischer Volume Shooter verschrien. Als einer, der abdrückt, egal ob er nun gleich mehrere Hände im Gesicht oder überhaupt keine Balance hat. Scoren, so viel war klar, konnte und kann Crawford zwar, allerdings tat er dies auch ohne Rücksicht auf Verluste. Trotz überschaubarer Quoten von nur knapp über 40 Prozent legte er während seiner drei Spielzeiten bei den Wizards lediglich 3,4 Assists auf. Nicht gerade die Zahlen eines Playmakers.
Stevens: Gute Erinnerungen an Crawford
Allerdings hatte Stevens bereits Jahre zuvor Qualitäten beim Combo Guard erkannt, die die meisten wohl maximal vermutet hätten. Damals im März 2010 war Stevens' Butler Universität bereits für das Elite Eight qualifiziert. Genug Zeit also, einen Blick auf die Konkurrenz, in diesem Fall Kansas State und Crawfords Xavier, zu werfen.
"Das werde ich nie vergessen", sagt der Coach. "Sie haben sich einen der besten Shootouts geliefert, die ich je gesehen habe. Bis zu dem Punkt, an dem du dir Sorgen machst, egal wer von beiden dein nächster Gegner ist." Und gerade Crawford ließ Stevens' Sorgenfalten während des Spiels wohl noch ein Stück tiefer werden.
Kurz vor Ende der Verlängerung lag Xavier mit 3 Punkten zurück, als der damalige Sophomore aus knapp elf Metern hochstieg und das Spiel in die nächste Overtime schickte. "Es war, als könne man das Ausmaß dieses Wurfs niemals vergessen", erinnert sich Stevens. Trotz allem verlor Xavier am Ende, der gute Eindruck jedoch blieb.
Erfolgreiche Umstellung
Vielleicht erinnerte sich Stevens sogar an jenen Tag im März 2010 zurück, als er Crawford zum Starter beförderte - allerdings nicht primär als Shooter, der 25-Jährige sollte Bradley beim Ballvortrag unterstützen und tat dies äußerst erfolgreich. Mit Crawford in der ersten Fünf starteten die Celtics ihre erste kleine Serie der Saison, gewannen vier Spiele in Folge.
Dabei offenbarte der Guard zunächst noch altbekannte Schwächen beim Shooting, bewies jedoch gleichzeitig, dass er durchaus in der Lage ist, seine Mitspieler gewinnbringend einzusetzen. Vorläufiger Höhepunkt war die Double-Double-Vorstellung beim Sieg gegen Orlando als Crawford neben 16 Punkten (7/12 FG) 10 Assists gelangen.
"Fühle mich als Point Guard"
"Ich fühle mich als Point Guard. Es waren immer die anderen, die in mir einen Shooting Guard gesehen haben", sagt er inzwischen. Tatsächlich stellt er seine überdurchschnittlichen Qualitäten als Playmaker derzeit immer häufiger unter Beweis. Stichwort: Courtvision. Crawford besitzt die Fähigkeit, das Spiel zu lesen und seine Mitspieler in Szene zu setzen. So profitiert nicht zuletzt Bradley von seinem neuen Partner im Backcourt und hat sich neben Crawford zu einer verlässlichen Offensivoption entwickelt.
"Er macht einen großartigen Job", lobt auch Coach Stevens. "Er hat viel Selbstvertrauen. Das hatte er immer, womit ich aber wirklich zufrieden bin, ist seine Konstanz. Wenn du ein guter Point Guard sein willst, ist das extrem wichtig. Schließlich müssen sich deine Teamkollegen immer auf dich verlassen können." Und das können sie, anders als früher die Wizards, tatsächlich.
Crawford bewegt sich in beinahe alle Kategorien auf zuvor nie dagewesenem Niveau. Nie traf er besser aus dem Feld oder von jenseits des Perimeter (45,7 Prozent FG, 38,6 Prozent 3FG), nie verteilte er mehr Assists (5,3), auch das Player Efficiency Rating bewegt sich in bislang unbekannten Sphären (18,93).
Inzwischen weiß er sogar an schwächeren Shooting-Abenden durch Effektivität zu glänzen. Als gegen die Cavs der Wurf nicht fallen wollte (28,6 Prozent FG), legte Crawford dennoch ein Triple Double auf (11 Punkte, 11 Rebounds, 10 Assists). Am Ende gewann Boston mit 103:86.
Schwächen nicht ganz abgestellt
Auf der anderen Seite belegen solche Abende, dass der Combo Guard weiterhin Gefahr läuft, in alte Muster zu verfallen. Hin und wieder kommt der alte Jordan durch, der nur ungern die Shot Clock komplett ausnutzt, dafür seine Vorliebe für schwere Würfe am Mann pflegt. Auch die Defense zählt immer noch nicht zur Paradedisziplin.
Allerdings scheint er sich mittlerweile tatsächlich besser im Griff zu haben. Während der letzten beiden Siege gegen Denver und Milwaukee traf Crawford insgesamt starke 63 Prozent seiner Würfe für 25 respektive 22 Punkte und assistierte zudem bei gesammelt 13 erfolgreichen Würfen seiner Teamkollegen.
Green: "Er ist erwachsener"
"Ich denke, er ist erwachsener geworden", sagt deshalb auch Jeff Green. "Als er von den Wizards kam, hatte er einen schlechten Ruf. Jetzt lernt er das Spiel immer mehr, spielt an beiden Enden des Courts. Er ist größer als die meisten Guards und kann deshalb über sie hinwegwerfen. Zudem kann er jeder Zeit den Schalter umlegen."
So diktiert Crawford Bostons Offense und ist deshalb mit dafür verantwortlich, dass etwaige Tanking-Träume des keltischen Front Office womöglich nicht in Erfüllung gehen - die Celtics führen die in dieser Saison so miese Atlantic Division mit einer 9-12-Bilanz momentan sogar an. Ob Crawford eines Tages alles mitbringen wird, um ein Point Guard im klassischen, im "perfekten" Sinne zu werden, sei einmal dahingestellt. Vielleicht ist das aber auch gar nicht nötig.