"Heat Nation, wir haben einen Sieg. Wir können uns jetzt alle wieder etwas abregen." LeBron James war sichtlich genervt, als er am Mittwoch nach dem Spiel gegen die Boston Celtics der Presse entgegentrat. Nach vier Niederlagen innerhalb von nur zehn Tagen wollte der amtierende Champion die von Medien und Fans hochstilisierte Panik schnellstmöglich wieder im Keim ersticken.
Doch der mit wenig Glanz erkämpfte Arbeitssieg über eines der schwächsten Teams der laufenden Saison konnte die Zweifel am besten NBA-Team der vergangenen zwei Jahre nicht einfach wegwischen.
Parallelen zum letzten Jahr
Dabei ist die Situation kaum eine andere als in der Meistersaison 2012/2013. Auch im vergangenen Jahr offenbarten die Heat eine überraschende Frühjahrsmüdigkeit und gewannen bis zum 14. Januar gerade mal vier ihrer zehn Begegnungen. Dennoch beginnt der seit Jahren sichere Thron des selbst ernannten Kings in dieser Saison offenbar ins Wanken zu geraten.
LeBron James coaste, spare sich seine Kräfte für die Post Season auf, vermutet so mancher Experte in den USA. "Ich kann überhaupt nicht coasten, da ich mir nicht sicher sein kann, ob mein nächstes Spiel nicht auch mein letzten sein könnte", wehrte sich der amtierende MVP gegen die Vorwürfe. "Wenn ich das Spielfeld betrete, dann gebe ich alles, was ich habe. Ich weiß nicht, woher diese Vermutungen kommen."
Saison für die Geschichtsbücher
Tatsächlich spielt der 29-Jährige eine Saison, die wohl die Ansprüche an jeden einzelnen NBA-Spieler erfüllen würde - mit einer Ausnahme: LeBron James. In einer Art und Weise, die viele Beobachter der NBA nicht für möglich gehalten hätten, hat der viermalige MVP es geschafft seine Feldwurfquote zum siebten Mal in Folge auszubauen. Als Small Forward, der mehr als drei Dreier pro Spiel nimmt, wirft James 58 Prozent aus dem Feld. In den letzten zehn Spielen traf er nur einmal weniger als die Hälfte seiner Versuche. Seine True Shooting Percentage steht bei 67 Prozent. Ein Wert, den in der Geschichte der NBA nie ein Spieler mit mehr als 15 Versuchen aus dem Feld pro Spiel erreichte.
Darüber hinaus ist James der zweitbeste Scorer der Liga, rangiert unter den Top-50 in Rebounds und Top-20 in Assists. Sein Player Efficiency Rating mag gegenüber der Vorsaison zwar ein wenig zurückgegangen sein, dass ein Spieler letztmals einen solchen Wert über eine volle Saison erreichen konnte, liegt allerdings bereits fünf Jahre zurück. Dennoch erwartet man von ihm scheinbar noch mehr. Schneller, größer, weiter - nichts scheint für einen LeBron James unmöglich zu sein.
Enttäuschung über verpassten Award
Die schier unmenschlichen Erwartungen an die eigene Person hat der selbst ernannte King in den vergangenen Playoffs selbst geschürt. Sowohl gegen die knüppelharte Defense der Indiana Pacers als auch die San Antonio Spurs zeigte James reihenweise Monster-Performances und ließ mit 27,2 Punkten, 9,7 Rebounds und 6,2 Assists pro Partie keinen Zweifel an seinem Status als weltbester Spieler aufkommen.
Einer der wenigen Makel war der verpasste Gewinn des Defensive Player of the Year Awards. Am Ende trennten James 63 Wertungspunkte vom Sieg und damit einem weiteren Meileinstein Michael Jordans: Dem Gewinn des MVP- und Defensive Player of the Year-Awards in ein und demselben Jahr. "Ich verteidige jeden Spieler auf dem gesamten Feld", zeigte sich der Forward nach der Wahl enttäuscht, "ich weiß nicht, ob es in der NBA jemals einen Spieler gegeben hat, der fünf Positionen verteidigt hat."
Defense gerät mit James ins Wanken
So mancher Experte erwartete daher in der darauffolgenden Saison einen umso motivierteren LeBron James. Den Beweis, dass er auch defensiv der dominanteste Spieler der Welt sein kann, bleibt er in dieser Saison allerdings schuldig.
Ohne ihren Superstar auf dem Feld ließen die Heat in 100 Angriffen 7,6 Punkte weniger zu als mit ihm. Die 96 zugelassenen Punkte während James auf der Bank sitzt würden im ligaweiten Vergleich Rang zwei hinter den Indiana Pacers bedeuten. Als Gesamtwerk schafft es Miami allerdings nicht auf konstant hohem Niveau zu verteidigen. Über die letzten 20 Spiele ließ die Mannschaft von Erik Spoelstra mehr als 105 Punkte in 100 Angriffen zu - ein Wert, der sie auf eine Stufe mit Teams wie Milwaukee, Detroit und Dallas stellt.
Sinkende Defensivstatistiken
Auch individuell hinkt James dem eigenen Ruf hinterher. Zum ersten Mal in den letzten fünf Saisons sank seine Rebound-Rate, seine Steal- und Block-Rate sind sogar so niedrig wie nie zuvor in der elfjährigen NBA-Karriere des zweifachen Olympiasiegers.
Dass der wahrscheinlich athletischste Spieler der gesamten Liga in dieser Saison noch kein einziges Mal mehr als einen Block in einem Spiel verbuchen konnte, scheint kaum möglich zu sein. "Ich weiß nicht, wieso ich in dieser Saison nicht so viele Chase-down Blocks gehabt habe", zeigte sich James wenig beunruhigt, "Viele Spieler fordern mich gar nicht heraus. Ich meine, es gibt so manchen Spieler, der lieber wieder umdreht und den Ball zurück zum Perimeter dribbelt."
Die einfache Beobachtung des 29-Jährigen und der Vergleich zu den vorherigen Saisons zeigt aber, dass nicht nur der gestiegene Respekt vor der eigenen Person, sondern auch fehlendes Engagement für den zurückgegangenen Einfluss von James in der Defensive verantwortlich sind. Auch am anderen Ende des Courts wünscht sich so mancher Zuschauer eine gesteigerte Aggressivität des Kings.
"Realistisch gesehen 37 Punkte pro Spiel"
Der bewiesenermaßen effektivste Shooter der NBA liegt im ligaweiten Vergleich gerade mal auf Rang 19 der Spieler, die die meisten Angriffe ihres Teams selbst abschließen. Teams wie Oklahoma City und Sacramento haben gleich zwei Spieler in ihren Reihen, die öfter den eigenen Abschluss suchen als James bei den Heat. "Ich bin nicht wirklich ein Spieler, der den eigenen Wurf forcieren will", erklärte James, gab aber dennoch zu: "Manchmal gibt es schon Spiele, in denen ich gut treffe und mich am Ende frage 'Mann, wieso hast du nicht noch siebenmal öfter geworfen?'".
Auch Erik Spoelstra sieht bei seinem Superstar das Potenzial eines noch stärkeren Scorers. "Ich denke, er könnte realistisch gesehen 37 Punkte pro Spiel auflegen", erklärte der Heat-Coach gegenüber "ESPN". Der Zuschauer neigt allerdings dazu, zu vergessen, welchen Belastungen James Jahr für Jahr ausgesetzt ist. Seit er 2010 zu den Heat gestoßen ist, hat kein Spieler der Liga mehr Spiele oder mehr Spielminuten absolviert als die Nummer sechs Miamis. Ob bei einem solchen Pensum eine noch balldominantere und athletischere Spielweise überhaupt umzusetzen wäre, ist zumindest fraglich.
Trotz aller vorschnellen und teilweise auch falschen Rückschlüsse, bleiben Zweifel in Bezug auf die Heat bestehen. Auf dem Papier mag die Franchise zwar auch mit der aktuellen Form Kurs auf solide 60 Siege in der Regular Season nehmen, die härtere Saisonhälfte dürfte die Heat aber erst noch erwarten. In der Strength-of-Schedule-Tabelle liegen nur die Chicago Bulls noch hinter dem amtierenden Champion, in den nächsten beiden Partien geht es gegen die zwei Schwergewichte der Western Conference, die San Antonio Spurs (So., 19.00 Uhr im LIVE-STREAM) und die Oklahoma City Thunder. Zudem erwarten Miami im Februar innerhalb von nur zwei Wochen Auswärtsspiele gegen die Clippers, Suns, Warriors, Mavericks und Thunder.
Miller als verschwundener Baustein?
Darüber hinaus scheint der Kader der Heat nicht so stark besetzt zu sein wie noch in den Meisterjahren. Mit Ray Allen, Shane Battier und Udonis Haslem zollen gleich drei wichtige Rollenspieler des Teams dem Alter mehr und mehr Tribut, Dwyane Wade kommt aufgrund von Verletzungsproblemen weiterhin nicht richtig in Tritt und legt pro Partie so wenige Punkte auf wie seit seiner Rookie-Saison nicht mehr.
Durch die Formschwächen und Verletzungssorgen im Backcourt und auf dem Flügel wirkt der Abgang von Mike Miller, den die Heat in der Off-Season per Amnesty-Klausel entließen, schwerer denn je. In Abwesenheit von Dwyane Wade gewannen die Heat bisher nur sieben ihrer 13 Spiele. In der vergangenen Saison, als Ray Allen dank Mike Miller in dieser Phase weiterhin von der Bank kommen konnte, fuhr Miami noch in elf der 13 Begegnungen Siege ein. "Mike Miller war eine ganze Weile in unserem System, sodass wir diese Lücke automatisch schließen konnten", gab auch James zu, "jetzt kriegen diese Gelegenheiten erstmal Spieler, die in diesem System noch nicht so viele Jahre spielen wie Miller."
Möglicher Abgang im Hinterkopf
Dabei ist der Erfolg der Heat auch aufgrund der problematischen Lage im Sommer besonders wichtig. Nach dieser Saison laufen die garantierten Verträge von Dwyane Wade, Chris Bosh und LeBron James aus. Noch hat der zehnfache All-Star seinen Verbleib in Florida nicht bestätigt. James will sich alle Optionen offen halten und sich erst nach dem Ende der Saison Gedanken machen.
Ob nun begründet oder unbegründet, den möglichen Abgang des besten Spielers der Liga immer im Hinterkopf, hat man in Miami umso mehr Angst vor einem möglichen vorzeitigen Ausscheiden in der Post Season. Die Situation mag nicht zu vergleichen sein mit seinem Status in Cleveland, als er die Cavaliers mitsamt seiner Talente in Richtung South Beach verließ, dennoch ist man sich bewusst, dass man the Chosen One eine Perspektive und Unterstützung bieten muss, die er selbst für ausreichend empfindet.
Dass James aus Dankbarkeit oder Heimatgefühl in Miami bleibt, ist ausgeschlossen. Der Small Forward misst sich selbst an den übermenschlichen Erwartungen, die Fans und Medien an ihn haben und nimmt den Kampf mit ihnen an. "Ihr meint, ich würde coasten?", fragte er vor einer Woche einen Reporter, "ihr werdet sehen, welche Nummern ich am Mittwoch auflegen werde. Seht nur hin." James beendete die Partie mit 25 Punkten, sieben Rebounds und acht Assists. Eine Statline, die in der gesamten Saison nur acht weitere Spieler erreicht hatten. Viele Kritiker waren dennoch enttäuscht. Von James hatte man sich einfach mehr erwartet.