Vergangenes Jahr hatten die San Antonio Spurs bereits eine Hand der Larry O'Brien Trophy. Dann kam Ray Allen, riss die Texaner aus allen Träumen und kippte das Momentum zugunsten der Miami Heat. Ehe die Spurs im Rematch die Chance zur Revanche nutzen wollen, blickt SPOX zurück auf das legendäre Spiel 6 der Finals 2013.
All der Wahnsinn, den wir so sehr lieben, den gemeinhin auch der simple Ausdruck "Basketball" beschreibt, er findet im Juni 2013 seinen Höhepunkt. Die Heat wollen ihren Titel verteidigen, die Spurs sich Meisterschaft Nummer 5 sichern. Einlenken, aufgeben oder abschenken ist da schlicht keine Option. Weder für Miami noch für San Antonio. In der Konsequenz lieferten amtierender Champion und Herausforderer eine der engsten und aufregendsten Final-Serien der vergangenen Jahre, vielleicht Jahrzehnte.
Einzelne Spiele mögen deutlich gewesen sein. In der Summe bewegten sich beide Teams jedoch auf ähnlichem, unglaublich hohem Niveau. Die Finals 2013, sie wären wohl auch so in die Geschichte eingegangen. Ein dramatisches Element der Marke "Wie konnte das denn passieren?" war eigentlich nicht zwingend nötig. Bekommen haben es Heat, Spurs, Zuschauer, Coaches, Spieler, einfach jeder, der diese historische Serie verfolgte, dennoch.
28 Sekunden - eine Ewigkeit
28,2 Sekunden sind in Spiel 6 noch zu spielen. San Antonio führt mit 5 Punkten. Bringen die Spurs den Vorsprung über die Zeit, sie würden Miami tatsächlich den Titel entreißen. Die Heat, die 2010 angetreten waren, um eine neue Ära zu begründen, stehen unmittelbar vor der zweiten Finals-Pleite in drei Jahren.
Selbst die Larry O'Brien Trophy wird bereits auf dem Weg Richtung Innenraum der American Airlines Arena gebracht. Ordner bringen ein gelbes Absperrband, das die Meisterschaftsfeierlichkeiten der Spurs in geregelte Bahnen lenken soll, an. Alles ist bereit, einen neuen Champion zu krönen. Noch sind jedoch diese 28,2 Sekunden zu spielen. Miami benötigt ein kleines Wunder - und natürlich übernimmt der, der die Heat mit einem sensationellen letzten Viertel zuvor überhaupt erst im Spiel hielt.
Natürlich steigt LeBron James zum Dreier hoch. Natürlich... Moment! Der Ball klatscht an die Unterkante des Bretts. Backstein! Der eine oder andere mag sich seine Zeilen zu des Königs zittrigem Händchen in engen Situationen bereits zurechtlegen. Kawhi Leonard, dessen Rebounding Miami während der gesamten Serie vor Probleme gestellt hatte, macht sich bereit, den Abpraller aufzunehmen - und San Antonio damit den Titel zu sichern.
Ein mickriger Rebound fehlt den Spurs noch zur Meisterschaft, Leonard allerdings auch die entscheidenden Sekunden. Er bekommt den Ball nicht zu fassen. Dwyane Wade ebenfalls nicht. Der Spalding tänzelt durch die Luft. Manu Ginbobili, Leonard, Boris Diaw, Mike Miller, Ray Allen - alle versuchen sie irgendwie, den Ball zu fassen zu bekommen. Miller bringt ihn schließlich irgendwie zu LeBron, der erneut von draußen hochsteigt - drin! Nur zwei Punkte Rückstand! Und plötzlich erwacht auch die Arena, die bereits einige Zuschauer ärmer ist, zu neuem Leben. 8,1 Sekunden sind seit James' erstem, misslungenem Dreierversuch vergangen.
Unmenschlicher Druck
Timeout Spurs. Was auch immer Gregg Popovich geplant hatte, es bringt Kawhi Leonard Schlussendlich an die Freiwurflinie. Trifft er beide, sind die Spurs Champion. Endgültig. Unendlicher Druck muss auf Leonard lasten. Mit 21 Jahren. Im zweiten NBA-Jahr. Unmenschlich! Der erste Freiwurf geht unter lautstark zum Ausdruck gebrachtem Wohlwollen der Massen daneben. Leonard könnte nun zusammenbrechen. Könnte. Denn der Sophomore hat bei den ganz Großen offenbar ganz genau hingesehen und trifft den zweiten Versuch. Nicht selbstverständlich.
19 Sekunden zu spielen. Genug Zeit, das Spiel zumindest in die Verlängerung zu bringen. Erneut übernimmt LeBron Verantwortung. Erneut steigt er von jenseits der Dreierlinie hoch. Erneut findet der Ball jedoch nicht seinen Weg durch die Reuse. Allerdings hatte Popovich Tim Duncan, einen der besten Rebounder der Playoff-Geschichte, auch erneut auf der Bank gelassen. Im Nachhinein wohl einer der wenigen Fehler dieses Coaching-Genies, das die Liga Jahr für Jahr aufs Neue bereichert und in Staunen versetzt.
So landet der Rebound abermals in Händen der Heat, genauer: in jenen des Chris Bosh. Der schaltet schnell, bedient Ray Allen in der Ecke. Ausgerechnet den besten Schützen der NBA-Geschichte. Ein Schritt zurück. Allen steigt hoch. Plötzlich kulminiert eine ganze Serie, eine ganze Saison in einem einzigen Wurf. Trifft Allen, ist alles wieder offen, trifft er nicht, alles vorbei. NBA
Allen steigt hoch - "BANG!"
Stille. 1,4 Sekunden ist der Ball in der Luft. Nervosität. Unbehagen. Auf beiden Seiten. Und dann? "BANG!" "ESPN"-Kommentator Mike Breen findet exakt die richtigen Worte. Der ganze Wahnsinn dieser wunderbaren Sportart, zum Ausdruck gebracht in einer einzigen Aktion, in einem einzigen Wort.
Die Halle kocht. Miami feiert. Die Spurs lassen sich jedoch noch nicht hängen. 5 Sekunden bleiben immerhin. Machen sie das Spiel schnell, können sie ein freudetrunkenes Miami vielleicht überrumpeln. Doch dann: Review. Die Schiedsrichter wollen ganz sicher gehen, dass Allen auch wirklich keinen Fuß auf der Linie hatte. Hatte er natürlich nicht.
Das Momentum ist in diesem Augenblick längst gedreht. San Antonios letzter Angriff bringt nichts ein, das Spiel geht in die Verlängerung, die Serie schlussendlich ebenfalls. Miami gewinnt das Spiel, neuen Glauben in die eigene Stärke. Die Spurs verlieren den Titel dagegen auf unglaublich dramatische Art und Weise - wegen Ray Allens Wurf für die Ewigkeit.
Tim Duncan, der kurz vor Ende von Spiel 7 noch den eigentlich leichten Tip-In zum möglichen Ausgleich vergibt, spricht noch heute von bösen Erinnerungen und schlechtem Geschmack im Mund. Spiel 6 hat Spuren hinterlassen in San Antonio. Spuren, die sich nun jedoch binnen zwei Wochen zumindest teilweise auslöschen lassen. Den Spurs bietet sich ein Jahr später die historische Chance, ein historisches Trauma wenigstens zu Teilen vergessen zu machen. Der Wahnsinn geht weiter.