Lance Stephenson kann es nicht mehr hören. "Blow-Gate". Es ist der Moment, auf den er als Spieler reduziert wird. Von Reportern, von Fans. Von Rapper Drake, der die Geste bei den "ESPYs" mehrfach imitiert.
Der Moment, als er seinem Gegner LeBron James während der Eastern Conference Finals ins Ohr pustet, er wird noch lange im Gedächtnis bleiben. Allen voran Stephenson selbst, der sich bis heute zwar nicht wirklich entschuldigt hat, der aber auch gemerkt haben wird, wie sehr diese dumme Aktion seinem Image geschadet hat.
Experten nehmen an, dass ihn sein Verhalten in der Serie gegen Miami mindestens 3 Millionen Dollar jährlich gekostet hat. Schließlich galt er zuvor als einer der talentiertesten Free Agents auf dem Markt. Er sagt es selbst: "Es überschattet, was ich sonst auf dem Court mache. Ich kann mehr, als jemandem ins Ohr zu pusten."
Breakout-Year in Indiana
Die Indiana Pacers wollten "Born Ready" trotzdem gerne halten. Die meisten Triple Doubles in der abgelaufenen Saison, Career Highs in allen Statistiken, der kreativste Spieler in der sonst statischen Offense. Nicht zuletzt ist er erst 23 Jahre alt und spielt mit Shooting Guard eine Position, auf der sich Spieler mit All-Star-Kaliber derzeit nicht gerade tummeln.
Indiana bot ihm Berichten zufolge einen Fünfjahresvertrag über 44 Millionen Dollar, den er aber sofort ablehnte. Danach tat sich lange nichts, auch weil Pacers-Präsident Larry Bird hoffte, die besondere Beziehung zwischen ihm und Stephenson könnte sich als Trumpf erweisen, um den Free Agent doch noch vom Bleiben zu überzeugen.
Es war schließlich Bird, der Stephenson als Zweitrundenpick mit so viel Geduld und Fürsorge behandelte, dass dieser sich von einer bankdrückenden Labertasche, die nur durch ein "Choke-Sign" gegen - natürlich - LeBron auffiel, zum Fast-All-Star entwickelte. Noch während der vergangenen Playoffs saß Stephenson häufig nicht auf der Bank, sondern stellte sich zum Plausch mit Bird auf die Tribüne, wenn Coach Frank Vogel ihn vom Feld nahm.
MJ schreitet ein
Bird hatte jedoch nicht mit einem alten Rivalen gerechnet. Auch Michael Jordan, seines Zeichens Besitzer der Charlotte Hornets, ist in der vergangenen Saison dem Lance-Fanclub beigetreten.
Laut Stephenson gab MJ selbst in einem Gespräch den Ausschlag für seinen Wechsel nach Charlotte. "Er liebt mein Spiel. Er liebt, dass ich gut passen und meine Teammates einsetzen kann, und er liebt meine Aggressivität."
Natürlich haben die Hornets jedoch noch mehr Meinungen über Stephenson eingeholt, bevor sie ihm den Dreijahresvertrag über 27 Millionen Dollar angeboten haben, den er letztendlich unterschrieb. In Jahr drei besteht eine Team-Option, falls Stephenson doch wieder außer Kontrolle gerät, kann Charlotte ihn also schon nach zwei Jahren wieder loswerden.
Diese Gefahr ist allerdings minimal, wenn man dem Leader des Teams Glauben schenkt.
"Er wird großartig zu uns passen!"
Kemba Walker kommt nämlich genau wie Stephenson aus New York und ist nur vier Monate älter. Die Wege beider Spieler kreuzten sich schon an der High School mehrfach - sie haben schon "zu oft" gegeneinander gespielt, wie Walker dem "Charlotte Observer" verriet.
Als das Interesse der Hornets ernster wurde, riefen Coach Steve Clifford und GM Rich Cho daher ihren Point Guard an - und der gab seine Einschätzung ab: "Er wird großartig zu uns passen! Er kann einfach alles auf dem Court und hilft den Mitspielern. Solche Spieler braucht man."
Und "Blow-Gate"? "Jeder schaut nur auf sein Verhalten in den Playoffs. Er ist aber ein super Typ abseits des Courts, der mit jedem gut klar kommt und gerne Witze reißt. Es wird bei uns keine Probleme geben. Ich kenne ihn sehr gut."
Endlich auf dem richtigen Weg
Walker, der seit 2011 in Charlotte spielt, war damit schon wieder entscheidend beteiligt an der Verpflichtung eines namhaften Free Agents. Erst letzten Sommer half er bei der Rekrutierung Al Jeffersons, mit dessen Hilfe er die Bobcats zum zweiten und letzten Mal überhaupt in ihrer Geschichte in die Playoffs führte.
Big Al empfahl sich dabei mit 21,8 Punkten und 10,8 Rebounds pro Spiel sogar für das All-NBA Third Team. Zwar konnte der Center in den Playoffs gegen Miami nicht beziehungsweise nur unter starken Schmerzen spielen, dennoch sah man sich in Charlotte nach Jahren der Belanglosigkeit endlich auf dem richtigen Weg.
Dieser wurde daher in diesem Sommer fortgesetzt. Noch vor den Gesprächen mit Stephenson einigte man sich mit Restricted Free Agent Gordon Hayward. Die Utah Jazz zogen erwartungsgemäß mit dem Angebot gleich und hielten Hayward, dennoch demonstrierte der Move die Aggressivität von Cho.
Talent und Upside
Der Personaler verfiel danach nicht in Panik und holte mit Stephenson einen Akteur, der deutlich weniger Geld bekommt und vielleicht sogar besser ist als Hayward. Charlotte verfügt nun über einen Kern, der einen guten Mix aus Erfahrung und Upside bietet.Man nehme die Position des Power Forwards: Der letztjährige Starter Josh McRoberts entschied sich für Miami, also wurde mit Marvin Williams ein adäquater Ersatz verpflichtet. Der 28-Jährige wird vermutlich direkt starten und den Youngstern Cody Zeller sowie No.9-Pick Noah Vonleh als Mentor dienen.
Auf der Drei wird der nächste Schritt von Michael Kidd-Gilchrist erwartet. Der geht zwar schon in seine dritte NBA-Saison, ist aber immer noch erst 20 Jahre alt. Die Hornets hoffen, dass sich der defensivstarke MKG in Sachen Sprungwurf den einen oder anderen Tipp von Stephenson oder Williams abholt.
Vorfreude auf die Zukunft
Glaubt man Walker, verlief die Offseason perfekt. "Brian Roberts war eine gute Verpflichtung. Er spielt hart, kann das Spiel organisieren und gut werfen. Marvin Williams kann die Defense mit seinem Wurf auseinanderziehen. MKG wird immer besser. Jeff Taylor sieht momentan richtig gut aus. Big Al ist wieder fit."
Dass sich die Stimmung in Charlotte verändert hat, ist dem Point Guard auch nicht entgangen. "Früher habe ich es nicht wirklich verstanden. Jetzt merke ich, was die Hornets für die Stadt bedeuten. Die Leute lieben die Hornets. Ich gehe durch die Stadt und sehe überall T-Shirts und Oldschool-Hornets-Trikots. Jeder freut sich auf die kommende Saison."
Osten offen wie nie
Die Aussichten in North Carolina sind in der Tat gut. Jefferson ist der vielleicht beste Lowpost-Spieler der Liga, Walker wird als Floor General jedes Jahr besser. Der Supporting Cast bietet sowohl Erfahrung als auch Potenzial. Vonleh etwa ist zwar noch sehr roh, könnte aber sofort als Shotblocker und Rebounder auf sich aufmerksam machen.
Das allein könnte im Osten schon für die Playoffs reichen. Nicht zu Unrecht formulierte "Grantland"-Kolumnist Zach Lowe vor kurzem folgenden Wahlspruch für die Eastern Conference 2014-15: "Wir sind nicht großartig, aber wir sind interessant!" Der Osten ist nach dem Zerfall der "Big Three" am South Beach offen wie lange nicht mehr.
Dazu hat man nun eben auch noch Stephenson. Wenn zurechnungsfähig, kann er allein den Unterschied zwischen Sweep in Runde eins und einem Angriff auf die Ost-Finals machen. Und zurechnungsfähig sollte er sein, es geht schließlich auch um seine Zukunft. Es war richtig für Charlotte, dieses Risiko einzugehen.