"Ich verspreche keinen Titel. Ich weiß, wie schwer es ist, den zu erreichen. Wir sind noch nicht bereit. Auf keinen Fall. Natürlich will ich in der nächsten Saison Erfolg haben, aber ich bin Realist. Es wird ein langer Prozess, viel länger als noch 2010."
Ob diese Passage aus LeBrons Statement, in dem er seine Rückkehr zu den Cavaliers bekanntgab, in den Front Offices der NBA nun wie Hohn klingt? Nach vier Jahren in Miami hat der vierfache MVP das sinkende Heat-Schiff verlassen und ist zurückgekehrt. Und mit der Bestätigung des Trades von Kevin Love ist klar, dass er das nächste "Superteam" um sich geschart hat. Ein jüngeres. Eines, das von seinen Teilen her noch idealer zueinander passt. Auch ein besseres? Das wird sich zeigen. Aber wer sich von James' Wechsel eine Art Auszeit in seiner Jagd nach Titeln versprochen hat, der wurde bitter enttäuscht.
"Im Nordosten Ohios wird einem nichts geschenkt. Man muss sich alles verdienen und erarbeiten."
Die Quote, dass die Cavaliers die Lottery 2011, 2013 UND 2014 gewinnen, lag bei genau 1:1927. Etwas mehr als 0,05 Prozent.
Alles Lamentieren hilft nicht. Noch 67 Tage und ein paar Stündchen, bis die NBA-Saison 2014/2015 beginnt. Von San Antonio über Los Angeles, Chicago und New York wird nun gegrübelt, wie man den Kavalieren aus Cleveland Herr werden kann. "Ich hoffe inbrünstig, dass wir [LeBron] so oft wie möglich den Hintern versohlen können", kündigte etwa Joakim Noah nach der Rückkehr des Superstars vollmundig an. Doch das wird alles andere als leicht.All you need is Love
Die Kombination aus James, Kyrie Irving und Super-Talent Andrew Wiggins wäre schon eindrucksvoll genug gewesen. Aber mit dem Trade für Love hat GM David Griffin im Aufbau eines Contenders womöglich gleich mehrere Jahre gespart. Nicht unerheblich in den Augen seines Superstars, der im Dezember 30 Jahre alt wird. Wer weiß, wie gut der Kanadier wirklich geworden wäre - und wie schnell? Wer weiß, ob sich Anthony Bennett je zu einem Star entwickelt? Dazu ein Firstrounder der Miami Heat, protected und ohnehin eher Nummer 15 aufwärts.
Das lässt sich verschmerzen, wenn man die beste Shooting/Rebounding-Kombination an Land zieht, die die NBA jemals gesehen hat. Und das ist nicht übertrieben: 26,5 Punkte, 12,5 Rebounds, 4,4 Assists, fast 38 Prozent von Downtown. Solche Zahlen hat seit 1975 niemand mehr aufgelegt. Die meisten Double-Doubles der Liga (65). Niemand war unter dem eigenen Korb stärker (9,6 Rebounds). Love kann sowohl im Post als auch von außen agieren. Kaum jemand wirft bessere Outlet-Pässe als er.
Mit gerade einmal 25 Jahren hat der Power Forward seine besten Jahre noch vor sich. Und er weiß, was er will: gewinnen. "Ich würde in Minnesota bleiben", soll er laut "Bleacher Report" gegenüber Freunden gesagt haben. "Wenn ich nur daran glauben könnte, dass dieses Team gewinnen kann." Aber nach sechs Jahren ohne Postseason ist die Geduld aufgebraucht.
Man kennt und schätzt sich
Man darf nicht vergessen: Das ist kein Experiment, bei dem die Cavs ins kalte Wasser springen. Love und James haben bei den Olympischen Spielen in London einen Monat im gleichen Team verbracht. Sie wissen, dass ihr Spiel harmoniert. "Die 26 und 12 sind mir egal, mir geht es um seinen Basketball-IQ", schwärmte LeBron vor einigen Wochen. Kaum vorstellbar, dass es zwischen den beiden ähnliche Probleme geben wird, wie sie Wade und James vor vier Jahren erlebten: Wie können wir harmonieren? Wer ist das Alpha-Tier?
In sechs Jahren Minneapolis hat Love nie mit einem weiteren All-Star zusammengespielt, oftmals nicht einmal annähernd. Andererseits hatte James in seiner ersten Cleveland-Episode niemanden im Team, der Love das Wasser reichen konnte. Sie werden sich mit offenen Armen empfangen.
Unbegrenzte Möglichkeiten
Wie die Kombination auf dem Hardwood in der Quicken Loans Arena aussehen wird, kann man sich bisher natürlich nur ausmalen. Aber allein der Gedanke dürfte den gepeinigten Cavs-Fans die Freudentränen in die Augen - und den gegnerischen Head Coaches die Schweißperlen auf die Stirn treiben.
Man muss sich das mal vorstellen: Kevin Love als Big Man im Pick'n'Roll ist eine ähnliche Bedrohung wie Dirk Nowitzki, und von den Mavs weiß man, dass die Defense aus Angst vor Dirk dem Guard beinahe einen roten Teppich zum Ring ausrollt. Ob nun mit Irving oder mit James, es wird eine furchterregende Kombination sein. Ganz zu schweigen vom Pick'n'Pop.
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Love als Kickout-Option auf der Weak Side wird den Ballführenden jede Menge Eins-gegen-Eins-Situationen ermöglichen. Das funktioniert übrigens auch mit James: Der traf im vergangenen Jahr über 55 Prozent seiner Corner Threes. Irving als Slasher für seine beiden Forwards im Post. Und als Highlight Full-Court-Pässe von Love zu LeBron, dem Fastbreak in Person, der endlich wieder nicht als Point Guard in Spe fungieren muss.
Wiedersehen mit alten Freunden
Um dieses Trio muss von GM Griffin das passende Team aufstellen. Bisher ist er auf dem richtigen Weg: Mit Mike Miller und James Jones hat er zwei langjährige Weggefährten von James nach Ohio gelotst, die vor allem dem im vergangenen Jahr schwächelnden Distanzangriff Abhilfe schaffen sollen. Ob Ray Allen noch einmal als Spieler in Erscheinung tritt, ist noch offen - aber über dessen Qualitäten muss man ja kein weiteres Wort verlieren.
Dazu kommt aller Voraussicht nach Shawn Marion, der nächste in einer Reihe Veteranen, die, vom Glanz eines möglichen Ringes angezogen, Abstriche auf dem Konto in Kauf nehmen. Er wird der Defense einen Schub geben. Das Ende der Fahnenstange muss damit nicht erreicht sein.
Dion Waiters und Tristan Thompson wollen unter LeBrons Anleitung in ihrer Karriere den nächsten Schritt machen - eine Tatsache, der sich der 29-Jährige in seinem Aufsatz in der "Sports Illustrated" bewusst war. Anderson Varejao sorgt unter dem Korb für Defense und in der Kabine für gute Stimmung. Reicht das zum Titel? Es ist zumindest ein sehr, sehr guter Anfang.
Wieder ein Rookie-Coach
Der Mann, der dazu auserkoren wurde, aus diesen Einzelteilen eine funktionierende Maschinerie zu schmieden, ist David Blatt. Dem einen oder anderen NBA-Fan noch unbekannt, aber in der Basketballszene ein hochangesehener Übungsleiter, ganz besonders auf der anderen Seite des Atlantik. Seit über 20 Jahren coacht der 55-Jährige Weltenbummler in ganz Europa und hat unter anderem Titel in Russland, Italien und Israel gesammelt. 2014 kam mit Maccabi Tel Aviv die Euroleague dazu, jetzt soll der Sprung in die NBA ähnlich erfolgreich werden.
Der in Boston geborene Coach, der nach drei Jahren in Princeton ungedraftet blieb und dann in Israel spielte, wird das "Read-and-React"-System seines Colleges implementieren: Nicht zu viele angesagte Spielzüge, dafür jede Menge Pässe und Bewegung. "Er ist wie ein Navy SEAL", staunte ein Scout unlängst, "er passt sich immer und überall den Stärken seiner Spieler an, ohne ein spezifisches System zu predigen."
Feuer mit Feuer bekämpfen
LeBron James hat in den Finals 2011 und 2014 am eigenen Leib erfahren, wie zerstörerisch das richtige Spielsystem sein kann. Sein Ziel ist es, in einem ähnlichen System zu spielen. Kann Blatt einem Rick Carlisle oder einem Greg Popovich das Wasser reichen? "Ich habe schon viele Teams in Europa so spielen sehen", betont Blatt. "Das ist die Essenz des europäischen Stils und vom Basketball Marke San Antonio, das macht es so attraktiv."
Das sei auch mit einem Jahrhunderttalent wie James problemlos umzusetzen, schließlich sei der ein Teamplayer. Aber der "Rookie-Coach" weiß auch, dass er sich anpassen muss. "Ich bin mit dem Spruch 'There is no I in team' aufgewachsen. Aber ich habe auch Michael Jordan gehört, der sagte: 'Yeah, but there is in win.'" Auf gut Deutsch: Im Team ist kein Platz für Egoismus - aber für Erfolg braucht es eben auch gute Individualisten.
Nicht ohne Schwachpunkte
Es gibt also gute Gründe dafür, warum die Cavaliers in den Wettbüros von Las Vegas als Titelfavorit gehandelt werden. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass es ein Spaziergang wird. Oder gar, dass das Team keine Schwächen hat. Unter dem Korb und auf der Point-Guard-Situation ist die Personaldecke vergleichsweise dünn. Irving, Love und gerade Varejao sind immer wieder für eine Verletzung gut. Mit Brendan Haywood als Starting Center will man anno 2014 nicht unbedingt in die Schlacht ziehen.
Die Offense wird überragen, dafür muss man kein Prophet sein. Hinter der Defense stehen allerdings Fragezeichen, LeBron mal ausgenommen. Love und besonders Irving sind auf ihren Positionen Schwachpunkte in der Verteidigung, das hatte ihnen die Kombination aus Wade und Chris Bosh klar voraus. Und viele der erfahrenen Zugänge sind nun mal nicht mehr die Jüngsten.
Kann David Blatt ein System implementieren, das diesen offenen Punkten in der Cavs-Rüstung Rechnung trägt? Zumal er sich selbst erst einmal in der NBA zurecht finden muss, in der er weder gespielt noch jemals gecoacht hat. Mit Larry Drew und Tyronn Lue, der bei Doc Rivers in die Lehre ging, hat er vielversprechende Assistenten, aber die eine oder andere Kinderkrankheit wird es geben, soviel ist sicher.
Miami 2.0?
Es sind die Hindernisse, denen sich auch die Heat im ersten Jahr stellen mussten: Ein unerfahrerer Coach, ein neues Team, ein neues System. Playoff-Erfahrung bringt von den Stars nur LeBron mit. Damit wäre man in der Postseason gegen die Bulls, Spurs oder Clippers nicht der Favorit. Und irgendwo ganz hinten ist diese Stimme im Cavs-Fan, die ihm sagt, dass James und Love in einem Jahr schon wieder in einer anderen Stadt spielen könnten. Loves Vertrag läuft aus, James hat die entsprechende Klausel.
Dazu sei gesagt: Im Zweifel für den Angeklagten. Für den vierfachen MVP, zweifachen Champion und vielleicht besten Forward aller Zeiten. Es war kein Zufall, dass die Namen Wiggins und Bennett im "Homecoming"-Brief von James fehlten, dass alte Kollegen in Cleveland anheuern, dass ein Coach der neuen internationalen Schule nun in Cleveland am Ruder steht. Irving, Love, James - es ist ein Langzeitprojekt. Nur eine Frage der Zeit, bis es meisterlich glänzt? Vielleicht ist man doch schon bereit.