17 Monate lang bestritt Nerlens Noel kein einziges Spiel. Die Reha des Philly-Big-Man war die längste, die es in der NBA nach einem Kreuzbandriss bisher gegeben hat. Dementsprechend heiß ist der 20-Jährige auf die neue Saison. Summer League und Preseason machen Hoffnung auf ein starkes Jahr, legen aber auch einige Schwächen offen - auch wenn die lange Pause für Noels Entwicklung ein Segen war.
"4-4-14" - dieses Datum postete Nerlens Noel am 9. März bei Twitter. Gegen Boston sollte es also soweit sein: Noels erster Einsatz in der NBA. Der US-Amerikaner mit haitianischen Wurzeln war in Everett, Massachusetts aufgewachsen, nur 15 Minuten vom TD Garden entfernt. Es war daher nicht verwunderlich, dass er sein Profi-Debüt in Beantown geben wollte. Doch es sollte anders kommen.
Am 4. April 2014 war Nerlens Noel nicht in der Halle - er war auch nicht mit dem Team nach Boston gereist. In Absprache mit den Verantwortlichen der 76ers wurde die lang ersehnte NBA-Premiere verschoben. Coach Brett Brown war das Mitgefühl für den 2,11-m-Mann fast anzusehen, als er sagte: "Nerlens ist einfach noch nicht bereit."
Stattdessen verbrachte Noel den Tag in Birmingham im Bundesstaat Alabama. Dort wohnte der Ex-Wildcat seit seiner Operation, um es nicht so weit zum Reha-Zentrum zu haben und sich komplett auf die Arbeit an seinem Comeback konzentrieren zu können.
Spielt er oder spielt er nicht? In der Endphase der Saison kamen immer wieder Gerüchte auf, Noel könnte noch zu seinem ersten Einsatz kommen. Aber auch im letzten Regular-Season-Game gegen die Miami Heat stand Noel nicht im Kader der Sixers. Das Rookie-Jahr des sechsten Picks im Draft 2013 war ohne eine einzige Minute auf dem Court zu Ende gegangen.
Hart, härter, Noel
In Birmingham standen für Noel täglich zwei Einheiten mit jeweils vier Stunden Training auf dem Programm. Stets an seiner Seite war Chef-Physiotherapeut Kevin Wilk, der als einer der besten der USA gilt. Er hatte zuvor unter anderem mit Scottie Pippen, Chris Webber und Vince Carter gearbeitet sowie Shaun Livingston nach dessen schwerer Knieverletzung zur Rückkehr in die NBA verholfen.
Am meisten war Wilk von Noels Einstellung begeistert: "Er ging jeden Tag wieder zum Konditionstraining und hätte den anderen Physios niemals gesagt, dass ihm irgendetwas weh tut. Ich versuchte ihn dazu zu bringen, ihnen wenigstens zu sagen, wenn er seine Arme kaum noch heben konnte. Aber er weigerte sich und meinte nur: 'Nein, ich werde meine Arbeit machen'. Und die hat er gemacht. Er hat niemals aufgesteckt, das sagt alles über seine Motivation und seine Denkweise."
Vorbildliche Arbeitseinstellung
Wilk berichtet, dass Noel in der gesamten Reha-Zeit nicht ein einziges Workout verpasste. Es kam auch niemals vor, dass er sich beklagte oder eine der geforderten Wiederholungen einer Übung nicht ausführte.
Doch auch der Physiotherapeut selbst war ein entscheidender Faktor des erfolgreichen Reha-Verlaufs: "Kevin hat mich immer auf Trab gehalten und dafür gesorgt, dass mein Training nie langweilig wurde", so der Rekonvaleszent. "Ich hatte immer eine gute Einstellung und wollte so hart arbeiten, wie es nur ging. Aber es gab auch Zeiten, da musste ich mich richtig zusammenreißen, um meinen Fokus nicht zu verlieren."
Aber Noel behielt den Fokus: Die Arbeitseinstellung und der Wille, auf den Court zurückzukehren, sind beispielhaft für das Denken des 20-Jährigen. An/aus - einen anderen Modus gibt es für ihn nicht, das Wort halbherzig fehlt in seinem Wortschatz.
Jede Niederlage seiner Sixers, die er vergangene Saison mit ansehen musste, verstärkte Noels Drang, endlich auf dem Parkett eingreifen zu können. "Nerlens Einstellung ist mehr als beeindruckend", so Coach Brett Brown: "Seine Teamkameraden so oft in dieser Saison verlieren zu sehen, hat in ihm etwas ausgelöst, es stachelt seinen Ehrgeiz an. Und zu wissen, dass er den Unterschied machen und uns helfen kann, wieder in die Spur zu finden, ist das Einzige, das für ihn zählt.
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Defense first
Der Unterschied, den sich die Sixers von ihrem "Neuzugang" erhoffen, betrifft vor allem die Verteidigung. 4,4 Blocks gelangen "The Nerlens Wall" im Schnitt in den 24 Spielen, die er für Kentucky bis zur Verletzung auf dem Parkett stand. "Defense steht bei mir an erster Stelle", so Noel: "Damit bin ich aufgewachsen und darauf bin ich stolz." Und mit einem Lächeln fügt er noch hinzu: "Defense wins Championships."
Von der Meisterschaft ist Philly momentan aber weiter entfernt als Joel Embiid von einer Hochzeit mit Rihanna. Vergangene Saison gewann das Team aus der Stadt der brüderlichen Liebe lediglich 19 Spiele. Es ist daher nicht schwierig zu prophezeien, dass die 76ers mehr brauchen werden als nur Noels Rim Protection. Die offensiven Fähigkeiten des 20-Jährigen sind noch ziemlich roh - für gestandene NBA-Frontlines stellt er keine allzu große Gefahr dar.
Head Coach Brown übernahm persönlich die Aufgabe, mit Noel nach der Reha an seinen Skills zu arbeiten. Der Big Man muss vor allem lernen, seine Athletik und seine Schnelligkeit zu nutzen. Gegen die zumeist kräftigeren Power Forwards wird es Noel ansonsten schwer haben. Einzig im Fastbreak zahlt sich seine Sprint-Fähigkeit bislang aus.
Ein Segen für die Technik
Auch was den Wurf angeht, ist bei Noel noch viel Verbesserungspotenzial vorhanden: Über den Sommer musste er eine komplett neue Technik lernen. Brown ging sogar so weit und bezeichnete die lange Pause als Segen, weil sie Noel ermöglichte, sich vor dem Einstieg in die Liga eine vernünftige Wurfbewegung anzueignen.
In jedem Training ließ er seinen Schützling nur mit der rechten Hand werfen, schnürte sogar regelmäßig selbst die Schuhe und spielte gegen Noel One-Handed-Horse. Und die Herangehensweise scheint Erfolg zu haben: Noel erweiterte seine Range um rund einen Meter und traf in der Preseason schon den einen oder anderen 15-Footer.
Auch mehrere Hookshot-Varianten hat der Big Man inzwischen in seinem Repertoire. "Coach Brown hat mit mir im vergangenen Jahr so viel gearbeitet, ich habe definitiv eine Menge gelernt", sagte Noel: "All diese Übungen haben mir geholfen, meinen Wurf enorm zu verbessern."
Die zweite große Baustelle in diesem Sommer war Noels Freiwurf. Am College versenkte er nur jeden zweiten Versuch, daher ließ ihn Brown tausend und abertausend Mal an die Linie gehen. Eine Quote von 60 Prozent ist das Ziel für die Rookie-Saison. Erste Anzeichen des Trainingserfolgs sind auch hier zu erkennen: Zum Start der Summer League traf Noel elf Freiwürfe in Serie.
Die Wundertüte
Die ersten zwei Spiele der Preseason gaben aber auch schon einmal einen kleinen Vorgeschmack darauf, was die Fans kommende Saison von Noel erwarten können - oder auch nicht. Denn momentan ist der 20-Jährige noch eine ziemliche Wundertüte. Gegen Boston erzielte er 4 Punkte und holte 6 Rebounds, leistete sich aber auch 4 Turnover und 6 Fouls.
Gegen die Charlotte Hornets zeigte er dagegen mit 10 Punkten, 9 Rebounds, 3 Assists und 3 Blocks eine starke Vorstellung - ohne ein Foul zu begehen oder einen Turnover zu produzieren.
Wohin die Reise geht, kann selbst Brett Brown nicht wirklich einschätzen: "Es ist schwer vorherzusagen, was Nerlens diese Saison erreichen kann. Seine athletischen Fähigkeiten bringen mich immer wieder zum Staunen, aber bei manchen Aktionen kann man einfach nur den Kopf schütteln. Da merkt man, wie jung er noch ist."
Die Entwicklung von Noel ist dem Coach aber wichtiger als eine gute Saison 2014/15: "Es ist mir egal, wie oft er wegen der Drei-Sekunden-Regel zurückgepfiffen wird. Wirklich egal. Wir wollen ihm jegliche Freiheit geben, seine Athletik zur Entfaltung kommen zu lassen. An den Feinheiten können wir arbeiten, wenn er älter wird und das Spiel ein wenig besser lesen kann."
Die Verletzung als Chance
So scheint sich doch noch alles zum Positiven zu wenden. Mehr als eineinhalb Jahre nach seinem Kreuzbandriss im Spiel gegen die Florida Gators. Denn noch kratzt Noel nur an der Oberfläche seines Potenzials, das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht.
Sogar im Zusammenhang mit der Wahl zum Rookie of the Year taucht der Name Nerlens Noel dieser Tage immer wieder auf. Nicht zuletzt, weil er gegenüber den anderen Neulingen einen Vorteil hat: Er ist ein Rookie 2.0. Das Upgrade fand in den 17 Monaten abseits des Courts statt. Die Verletzung - sofern sie keine weiteren Folgen hat - könnte somit eine besondere Chance für den Big Man darstellen.
"Dieses Jahr wird etwas Besonderes. Jeder sollte sich anschnallen und sich bereit machen. Er wird vor unser aller Augen heranwachsen", so Brown. Und das Datum für den Beginn der wilden Fahrt steht auch schon fest: 29-10-14. Auch wenn es dieses Mal niemand getwittert hat.