Der Ball ist im Post, das Double Team kommt. Außen steht Tyler Ulis völlig frei zum Wurf. Doch Karl-Anthony Towns passt nicht. Er versucht es allein gegen beide Verteidiger - und bekommt das Offensivfoul gepfiffen.
Es ist das kritische vierte in einem Spiel, das Kentucky unbedingt gewinnen will. Die Saison-Bilanz von 30-0 ist zum Greifen nah, doch gegen die Georgia Bulldogs liegt das Team von John Calipari fünf Minuten vor Spielende mit vier Punkten hinten. Der Coach beordert Towns auf die Bank. Dann macht er ihm in unmissverständlichem Ton klar, was er von dessen Aktion hält.
KAT schließt die Augen. Er zieht sich in sich zurück und konsultiert seinen besten Freund. Seit Kindertagen ist Karlito an seiner Seite. Die imaginäre Figur ist Towns härtester Kritiker und zugleich sein größter Unterstützer. Gemeinsam gehen sie den Fehler durch, dann baut der kleine Karlito den 2,11-Meter-Center wieder auf. Towns öffnet die Augen. Und als Calipari in der Crunchtime seinen Namen ruft, ist er bereit.
Wieder auf dem Court zeigt Towns unbändigen Willen. Erst vollendet er ein Dreipunktspiel zur Führung, dann lässt er einen Layup folgen. Zwei getroffene Freiwürfe später ist der Comeback-Sieg perfekt. Sieben Punkte in den letzten dreieinhalb Minuten. Gestatten, Karl-Anthony Towns, Nummer eins Pick der Minnesota Timberwolves.
Mit Papa beim Training
Als Sohn eines US-Amerikaners und einer dominikanischen Mutter wuchs Towns in Piscataway, New Jersey auf. Und sein Weg war gewissermaßen vorgezeichnet: Karl Senior arbeitete als Basketball-Coach an der örtlichen High School und nahm den Junior ab dem Alter von drei Jahren mit in die Halle. Jeden einzelnen Tag.
Nach anfänglichen Spezial-Aufgaben an der Seitenlinie trainierte er ab der fünften Klasse mit der zweiten Trainingsgruppe seines Dads, doch bald war er auch dafür zu gut. War die Schule vorbei - er ging auf die nahe gelegene St. Joseph High - nahm Towns täglich 1000 Jumpshots. Samstags stand trotz der schon früh beachtlichen Größe Schnelligkeits- und Beweglichkeitstraining auf dem Programm.
"In allem der Beste"
"Ich war schon immer ehrgeizig und wollte immer in allem der Beste sein", so Towns gegenüber der New York Times: "Der beste Dribbler, der beste Shooter, der beste Post-Spieler, der beste Verteidiger. Ich kann als traditioneller Big Man spielen, aber auch als Stretch Four oder Five. Und wenn man es von mir verlangt, kann ich auch beides in einem Spiel sein."
Und KAT hielt Wort. An der High School tat er sich zusätzlich zu seinem imposanten Spiel unter dem Korb auch als Distanzschütze hervor, war er doch mit 127 getroffenen Dreiern der beste Shooter des Teams. Bereits als Freshman führte er die Falcons zur State Championship, es folgte der Repeat, dann der Threepeat. Zwei Quadruble Doubles hinterließ er ebenfalls in den Geschichtsbüchern der Schule - der Vergleich mit seinem Idol Len Bias kam unweigerlich auf.
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Talent mit Köpfchen
Den schulischen Leistungen tat Towns' Ehrgeiz auf dem Court keinen Abbruch. Denn noch mehr Wert als auf Basketball legten seine Eltern auf eine gute Ausbildung. Und Karl Junior war ein Talent mit Köpfchen. Die High School durchflog er im Eiltempo, schon nach drei Jahren hatte er alle Kurse bestanden und verließ St. Joseph mit einem Einser-Abschluss.
Wo unsereiner mit Basketball und Lernen vermutlich schon überfordert gewesen wäre, hatte Towns noch immer genug Kapazitäten für den Blick über den Tellerrand. Er lernte Klavier, spielte Golf und Ultimate Frisbee - sogar das Backen wurde zu einer Leidenschaft.
Towns war ein Musterschüler. Er engagierte sich als Klassensprecher und in der Schülervertretung, traf Religionslehrer in der Freizeit zu Glaubens-Diskussionen. Auch für einen Beitrag zum Familienleben blieb noch Zeit:. Er perfektionierte ein System zum Einsatz von Wertcoupons aus den Zeitungen, um seine Eltern finanziell zu unterstützen.
Die nächste Umstellung
Mit reichlich Vorschusslorbeeren als zukünftiger Top-Pick ging er ans College nach Kentucky. Dort spielte er unter John Calipari, den er als Coach des dominikanischen Nationalteams kennengelernt hatte. Und wieder kam ihm seine Vielseitigkeit zu Gute.
Die Devise für Big Men bei den Wildcats heißt: Jeder Abschluss direkt am Ring. Dementsprechend nahm Towns in der gesamten Saison lediglich acht Dreier, dabei trifft der Mann mit Schuhgröße 56 den Longball schon jetzt ohne Probleme aus der NBA-Distanz.
Dr. Towns
Am College führte Towns sein hartes Extra-Training fort, Basketball 24/7 war aber immer noch nichts für ihn. Sein Studium der Bewegungswissenschaften nahm er äußerst ernst. Dass er das College nach nur einem Jahr verließ, um in die NBA zu wechseln, tut seinem Ziel, später als Arzt zu arbeiten, keinen Abbruch.
Zwei Tage vor dem Draft schrieb er sich in Kentucky für Online-Kurse in Anatomie, Kinesiologie und Wirtschaft ein. Bei den Anforderungen, die an den Rookie in Minnesota gestellt werden, ist das keine kleine Herausforderung.
"Ich war schon immer der Ansicht, das Gesamtbild ist das, was wirklich zählt", so Towns: "Egal was passiert, versuche immer ein besserer Mensch zu werden. Das lässt dich jede Widrigkeit meistern."
Lehrmeister Garnett
Bei den Wolves trifft Towns nicht nur auf ein junges, hungriges Team um Andrew Wiggins, Ricky Rubio und Zach LaVine, sondern auch auf einen der besten Big Man der letzten 20 Jahre: Kevin Garnett.
Der Heimkehrer soll KAT unter seine Fittiche nehmen und dem Top-Pick helfen, die Wolves aus der Bedeutungslosigkeit zu führen. Die elfjährige Playoff-Abstinenz führte zu sieben Lottery-Teilnahmen in Serie - damit soll endlich Schluss sein.
Dabei wird Towns weniger sein offensives Repertoire (welcher andere Big Man trifft bitte Stepback-Dreier?) benötigen, sondern in erster Linie seine defensiven Qualitäten. Gegen kein anderes Team war es so einfach, am Ring zu scoren oder Offensiv-Rebounds zu holen, wie gegen Minnesota. Diese Baustelle zu schließen, ist Towns' erste Aufgabe.
Karlito ist gefragt
Coach Calipari nahm Towns nach eigener Aussage härter ran als jeden seiner Spieler zuvor. Wie man Kevin Garnett kennt, wird er mit dem Rook auch nicht gerade zimperlich umgehen. Karlito wird daher auch in der NBA eine große Rolle spielen.
"Er sagt mir meistens, dass ich weiter werfen oder hart arbeiten soll, wenn ich ein paar Fehler mache", so Towns über seinen imaginären Freund: "Er stellt sicher, dass ich auf dem richtigen Weg bin, hält die Balance und ermöglicht mir, auf mich selbst zu schauen."
Die richtige Einstellung
Im ersten Jahr wird der 19-Jährige gegen die starken West-Center wie DeAndre Jordan, DeMarcus Cousins oder Marc Gasol vermutlich eine Menge Lehrgeld zahlen. Doch wenn er sich wie erhofft entwickelt, könnte Towns bald selbst einer der besten Big Men in der NBA sein.
Die richtige Einstellung bringt er auf jeden Fall schon einmal mit: "Jeder Coach wird dir sagen, dass du als Spieler niemals komplett sein wirst", so KAT: "Aber ich strebe danach, der erste Spieler zu sein, der ganz und gar perfekt ist."
Gestatten, Karl-Anthony Towns, Nummer eins Pick der Minnesota Timberwolves.