"I called game". Die Worte von Paul Pierce nach seinem Gamewinner in Spiel drei der Conference Semifinals gegen die Atlanta Hawks hallten noch einige Zeit durch das Verizon Center. Es war ein großer Moment, ein wichtiger Sieg. Doch drei Spiele später war Schluss für die Wizards. Es sollte einer der letzten Aktionen von Pierce im weiß-blau-roten Jersey gewesen sein.
Nach seinem Wechsel zu den Clippers ist "The Truth" in der Hauptstadt schon jetzt kein Thema mehr. Der Name Kevin Durant steht über allem, keine Aktion der Offseason findet ohne die Einordnung in den Durantula-Kontext statt. Und das, obwohl der in Washington aufgewachsene Swingman erst kommenden Sommer zum Free Agent wird.
Flexibilität und Variabilität stehen bei den Wizards daher hoch im Kurs, die beiden Wort-Ungetüme hängen aber auch wie dunkle Wolken über der Franchise. Das Front Office tut gut daran, nicht alles auf eine Karte zu setzen und Kopf und Kragen zu riskieren. Die Devise lautet: alle Optionen offen halten.
Der Ruf des Lehrmeisters
Dennoch tat Washington alles franchise-mögliche, um Pierce in der Hauptstadt zu halten. Doch der entschied sich anders. An seiner Rolle lag es nicht. Zusammen mit John Wall war er seit seiner Ankunft letztes Jahr der Leader des Teams.
An der Perspektive lag es auch nicht. Mit dem Premium-Backcourt um Wall und Bradley Beal, einigen jungen Talenten sowie einer legitimen Chance auf KD ist Washington derzeit mit das heißeste Pflaster im Osten.
Am Gehalt lag es erst recht nicht. Die Offerte der Wizards war mit 6,6 Millionen Dollar durchaus als üppig zu bezeichnen.
Eine andere Anziehung war schlichtweg stärker: der Ruf des alten Lehrmeisters. Pierce schloss sich den Clippers und Coach Doc Rivers an, mit dem er in Boston neun Jahre zusammengearbeitet hatte. Dafür verzichtete er auf rund die Hälfte seines möglichen Salärs. "The Truth" geht es nicht um Geld. Der Dreijahresvertrag in L.A. bietet ihm die Möglichkeit, seine Karriere in der Heimat Kalifornien ausklingen zu lassen und mit den Clippers direkt noch einmal einen Angriff auf den Titel zu starten.
Sinnvolle Prophylaxe
Aber die Wizards waren vorbereitet. Plan B lag bereits in der Schublade und der Trade mit den Bucks, der Jared Dudley für einen Zweitrundenpick nach Washington brachte, war schon wenige Stunden nach Pierce' Entscheidung eingetütet.
Unglücklicherweise fällt Dudley aufgrund eines Bandscheibenvorfalls und der notwendigen Operation erst einmal drei bis vier Monate aus. Zum Start des Training Camps wird er wohl noch nicht fit sein, das erste Saisonspiel liegt aber im Bereich des Möglichen.Das Problem an der Alternativlösung: Mit Pierce' Abgang von verliert Washington nicht nur eine Menge Erfahrung, Führungsqualität und Eier, sondern auch ihre beste Stretch-Four-Option. Mit Pierce' Entfesselung in den Playoffs schienen auch die Hauptstädter endlich im modernen Basketball angekommen zu sein. Dudley übernahm diese Rolle zwar hin und wieder in Milwaukee und L.A., eine Waffe ist der 30-Jährige als Power Forward aber nicht.
Brasilianischer Ballast
Endlich moderner Basketball - das sagt sich so leicht. Die Wizards schleppen mit Nene nämlich einen großen Brocken brasilianischen Ballast durch die Gegend, dessen Range nicht weiter als bis zum Elbow reicht. Mit einem Gehalt von 13 Millionen Dollar kann der Big Man zudem nicht gerade als Schnäppchen bezeichnet werden.
Es wäre ja nicht so, als hätten die Verantwortlichen um General Manager Ernie Grunfeld nicht versucht, den verletzungsanfälligen und zunehmend ineffizienten Power Forward loszuwerden. Doch nicht einmal der auslaufende Vertrag generierte irgendeine Form von Interesse. Es bleibt Washington also nichts anderes übrig, als mit Nene in die Saison zu gehen und darauf zu hoffen, dass sich seine Wehwehchen in Grenzen halten.
Hinter dem Brasilianer sieht es auf der Vier ganz schön düster aus. Drew Gooden erhielt zwar einen neuen Vertrag und stellt auch vom Perimeter eine Bedrohung dar (vergangene Saison 39 Prozent 3FG), aber am Ende ist er, wer er ist: Drew Gooden.
Und Kris Humphries? Dessen gute Phasen halten selten länger als seine Ehe mit Kim Kardashian. Mit dieser Inkonstanz hat er es schwer, sich einen festen Platz in der Rotation zu erarbeiten. Hier kommt Otto Porter ins Spiel.
Porter for Four
Zwar verbrachte der dritte Pick des Drafts 2013 in der abgelaufenen Saison den Großteil seiner Minuten auf der Zwei oder Drei, doch er ist der Einzige, der das Potenzial besitzt, Pierce als gefährliche Stretch Four zu beerben.
Mit 2,06 m und seiner großen Spannweite bringt er die nötigen Voraussetzungen mit, um gegnerische Forwards am Perimeter zu verteidigen. Auch der Dreier fällt immer besser (April: 38 Prozent 3FG).
Gegen Bulldozer-Typen wie Tristan Thompson stünde Porter auf verlorenem Posten, daher wird Nene - so er denn fit bleibt - den Vorzug als Starter bekommen. Wenn der Big Man aber mit dem ersten Wechsel an der Seitenlinie Platz nimmt, eröffnet Porters Variabilität Coach Randy Wittman bisher ungenutzte Möglichkeiten.
Optionen, Optionen, Optionen
In dieses Konzept passen auch die weiteren Verpflichtungen der Offseason, die vor allem die Flügel stärken. Mit Alan Anderson kommt neben Dudley ein weiterer wurfstarker Spieler, der sowohl als Shooting Guard als auch als Small Forward agieren kann. Gary Neal übernimmt die Rolle des nominellen Beal-Backups auf der Zwei und wird sich mit dem überbezahlten Martell Webster (5,6 Mio. Dollar!) um Minuten streiten.
Und dann ist da ja auch noch Ramon Sessions. Mit seinem Speed stellt der 28-jährige Journeyman im Backcourt den Kontrapunkt zum überbordenden Shooting und damit die nächste interessante Option für Wittman dar. Wie schon vergangene Saison wird er nicht nur die Geschicke der Second Unit lenken, sondern auch hin und wieder gemeinsam mit Wall auf dem Court stehen.
Das Projekt Oubre
In Kelly Oubre holten die Wizards am Draftabend einen extrem jungen Perspektivspieler per Trade nach Washington, der es - wie damals Porter - in seinem ersten Jahr schwer haben wird. Trotz seiner teils guten Auftritte in der Summer League ist Oubre derzeit eher als Projekt zu sehen.
Dass er glänzende Schuhe und Ohrringe tragen kann, hat er beim Draft bewiesen - glänzende Performances sollten die Wizards-Fans vom 19-Jährigen nächste Saison aber (noch) nicht erwarten.
Ganz lange nichts
Weitaus dünner sieht es unter dem Korb aus: Marcin Gortat - und dann ganz lange nichts. Kevin Seraphin, Backup-Center der vergangenen Saison und Unrestricted Free Agent, hat sich noch nicht für ein Team entschieden. Sollte er Washington den Rücken kehren, hinterließe er in der zweiten Garde eine klaffende Lücke. Auch ohne den Franzosen haben die Wizards bereits 15 Spieler im Roster, bliebe als einzige Alternative nur DeJuan Blair.
Der zu klein geratene Center konnte die an ihn gestellten Erwartungen in Washington nie erfüllen, eine echte Chance bekam er allerdings auch nicht. Lediglich in 29 Partien durfte er mitwirken - sechs Minuten spielte der Mann ohne Kreuzbänder im Schnitt. Zum dauerhaften Backup wird Blair unter Wittman wohl nicht mehr aufsteigen, realistischer scheint eine Arbeitsteilung der anderen Bigs.
Kein My zu verschenken
Trotzdem werden die Verantwortlichen hinter verschlossenen Türen an einem Nene-Trade arbeiten, um für ihn noch das eine oder andere Asset zu bekommen. Das Stichwort auch hier: Flexibilität. Selbst das Angebot, das die Wizards Pierce vorlegten, enthielt eine Team Option für 2016/2017. Nicht einmal die Verlockung, die personifizierte Wahrheit halten zu können, durfte die Chance auf Durant um ein My verringern. Ganz Washington bangt, ganz Washington wartet. Nicht auf das Resultat der kommenden Saison. Sondern auf KD.
Von der Hoffnung auf den ganz dicken Fisch haben sich die Wizards zwar nicht blenden lassen, parallel aber alle Weichen für die Jagd auf den begehrtesten Free Agent gestellt. Die Homecoming-Prophezeiung mit ungewissem Ausgang ist ein Stigma, das Washington erst mit der Unterschrift Durants loswerden kann - egal, für welche Franchise sich der Ex-MVP entscheidet.