Brad Stevens wirkte nicht unbedingt wie ein Trainer, dessen Team sein erstes gemeinsames Spiel der Saison soeben mit 33 Punkten Unterschied gewonnen hatte. Bei der Pressekonferenz im Anschluss an die Machtdemonstration gegen Olimpia Milano analysierte der Coach das Spiel vollkommen nüchtern - und konzentrierte sich eher auf die Fehler als auf die zahlreichen positiven Aspekte im Spiel seiner Celtics.
"Milano hat uns ein paarmal richtig schlecht aussehen lassen", so Stevens. "Das gibt mir einige Ansatzpunkte, die ich in der Filmanalyse herausstellen und dem Team zeigen kann." Und weiter: "Wir haben viele Fehler gemacht." Und zu guter Letzt: "Wir haben etliche Rotationen verschlafen und oft Glück gehabt, dass sie ihre Würfe nicht getroffen haben."
Es mag wie überzogener Perfektionismus des Trainers anmuten, nachdem sein Team so einen klaren Sieg einfahren konnte. Milano-Coach Jasmin Repesa etwa schlug in eine ganz andere Kerbe und sagte, er sei "beeindruckt, dass die Celtics in ihrem ersten Spiel der Saisonvorbereitung so eine Partie zeigen konnten."
Doch zu diesem Zeitpunkt sind es eben nicht die Ergebnisse, die den akribischen Stevens interessieren. Es geht um den Prozess.
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Lee nimmt die Leaderrolle an
Auch wenn natürlich in der Tat noch nicht alles passte, dürften ihm einige Einblicke aber auch schon in diesem ersten Test gut gefallen haben. So etwa die Einbindung von Neuzugang David Lee, der bei den Celtics bereits Co-Kapitän ist und mit einigen cleveren Pässen und Cuts bereits andeuten konnte, welche Rolle er in seinem neuen Team spielen kann.
Der von den Warriors geholte Champion bringt seine Erfahrung direkt ein - niemand sonst im Celtics-Kader knackt die 30 Jahre - und nimmt die Rolle als einer der Leader des Teams bereitwillig an. Gleich am ersten Tag in Mailand organisierte er ein teaminternes Abendessen, um all seine neuen Mitspieler auf eine Linie zu bringen.
"Kenne das von den Warriors"
"Ich kenne das von den Warriors. Wir waren vor zwei Jahren vor der Saison in China und sind dort als Team sehr zusammengewachsen, dafür sind diese Trips einfach ideal. Jeder lässt seine Familie zuhause, es geht nur ums Team - das ist gerade bei so einem jungen Team wichtig", erklärte der Forward, der vorerst den Vorzug vor Amir Johnson und vor allem Jared Sullinger auf der Vier zu haben scheint.
Auch auf dem Court sah man ihn bereits im Training und auch im Spiel ständig am Gestikulieren und Erklären. Und die jungen Spieler hören zu - so ein Meisterschaftsring verschafft in der NBA eben Glaubwürdigkeit.
Smart: "Das Ganze läuft langsamer"
Diese will sich in dieser Saison auch Marcus Smart endgültig verdienen, nachdem sein Rookie-Jahr doch sehr von Aufs und Abs geprägt war. General Manager Danny Ainge hatte dem Point Guard kürzlich bereits einen "Sprung" attestiert, gegen Milano deutete er diesen mit einer blitzsauberen Partie im Spielaufbau auch an und wusste zudem mit einer guten Wurfauswahl zu gefallen - beides waren eher Schwachpunkte im letzten Jahr.
"Ich bin selbstbewusster geworden und verstehe sowohl mein Team als auch das gesamte Spiel besser, das Ganze läuft vor mir jetzt langsamer ab", hatte der Guard noch vor der Partie zu SPOX gesagt. "Ihr könnt von mir erwarten, dass ich das Spiel auf mehrere Arten beeinflussen werde, nicht nur in der Defense", führte er weiter aus.
Gegen Milano war er neben Avery Bradley und Isaiah Thomas Teil eines herausragenden Triumvirats im Backcourt, das Lust auf mehr machte, Stevens aber auch vor gewisses Schwierigkeiten stellt.
Luxusproblem?
Zum jetzigen Zeitpunkt ist der Kader nämlich schlichtweg zu tief zu ausgeglichen besetzt- und das gilt für alle Positionen außerhalb des Small Forwards, den sich Jae Crowder und Jonas Jerebko vermutlich teilen werden. Im Backcourt allein tummeln sich neben den genannten Drei noch Evan Turner, Terry Rozier, RJ Hunter und James Young - wie wird Stevens die Minuten verteilen und die Spieler bei Laune halten?
Gerade die Rookies Rozier und Hunter werden vermutlich nicht allzu viele Minuten sehen, wenngleich beide Young offenbar schon hinter sich gelassen haben. Im Frontcourt bietet sich mit Lee, Sullinger, Kelly Olynyk, Tyler Zeller, Johnson und dem vielversprechenden Zweitrundenpick Jordan Mickey eine ähnliche Zwickmühle.
"Wir sind zwar gemeinsam hier, aber natürlich besteht auch ein großer Wettkampf", sagte Lee. "Es geht schließlich immer noch um Spielzeit und Plätze in der Rotation."
Avery Bradley fügte hinzu: "Coach Stevens experimentiert immer noch. Wir haben aktuell überhaupt keine Ahnung, wer starten wird und wer nicht."
Jetlag - für die Gastgeber
Und so lässt sich die nicht vorhandene Euphorie von Stevens dann auch doch wieder leicht verstehen. Das Spiel gegen Mailand war ein guter Auftakt, ein gelungener erster Schritt - mehr aber auch nicht. Der Weg zur endgültigen Rotation für die Saison ist noch weit.
Zumal ein Detail leicht übersehen werden kann: Die Celtics waren zwar zu Gast, kurioserweise aber schon einige Tage länger in Mailand als die Gastgeber, die im Rahmen der Euroclassic-Tour soeben zwei Spiele in den USA absolviert hatten und erst rund 24 Stunden vor Tip-Off wieder in der eigenen Heimat ankamen.
Mehr Probleme mit Real?
Am Donnerstag steht mit Real Madrid eine aller Voraussicht nach größere Herausforderung an. Der Klub hat sich in der letzten Saison die dreifache Krone aufgesetzt und nicht zufällig die Turkish Airlines Euroleague gewonnen. Für die spanischen Nationalspieler wie Sergio Llull oder Sergio Rodriguez kam im Sommer noch der Titel bei der EuroBasket dazu.
Diese Prüfung wird für die Celtics eine größere sein als die Jetlag-geplagten Mailänder. Stevens würde das vermutlich freuen: Er will sehen, ob sein Team auch im "Ernstfall" die hochprozentigen Abschlüsse finden und nach seiner Vorstellung spielen kann. So setzt er bis zum Saisonstart Stück für Stück das Puzzle zusammen.