"Great win tonight #LetsKeepBuilding" - dazu ein Bild vom Aufwärmen vor dem Spiel. Sonst nichts. Kein lachender Smiley. Keine Jubelgeste. Nicht einmal ein klitzekleiner Hinweis auf Freude oder Stolz. Oder darauf, dass Kristaps Porzingis gerade das beste Spiel seiner noch jungen Karriere aufs Parkett gezaubert hatte.
Der Rookie der New York Knicks hatte soeben die Houston Rockets mit 24 Punkten (8/12 FG), 14 Rebounds und 7 Blocks geröstet und während sich in den Sozialen Netzwerken um ihn herum die Lobgesänge und Zukunfts-Visionen der Fans überschlugen, regierte auf dem Twitter-Account von Porzingis die Bescheidenheit.
Der Grund für die Euphorie der NBA-Community waren nicht nur die nackten Zahlen. Es war vielmehr die Art und Weise, wie Porzingis dominierte. Er sammelte seine Punkte nicht etwa durch Layups in der Garbage Time, sondern sparte sich seine besten Aktionen für die letzten 90 Sekunden einer engen Partie auf.
Zweimal versuchte James Harden, per Layup zum Erfolg zu kommen oder zumindest ein Foul zu ziehen, doch Porzingis schickte beide Würfe aus der Gefahrenzone. Es folgte ein wichtiger Offensivrebound, anschließend zog der Lette beim Korbleger-Versuch ein Foul. Wie ein abgezockter Hase verwandelte er seine beiden Freiwürfe und sicherte den Knicks dank seiner Nervenstärke so den Sieg gegen den Favoriten aus Texas. Kann bei man einem Rookie von Clutchness sprechen? Man kann.
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Der Anti-Shaq
In den letzten 30 Jahren gelang es keinem 20-Jährigen außer Shaquille O'Neal, ein Spiel mit 24 Punkten, 14 Rebounds und 7 Blocks zu beenden. Dabei sind die jeweiligen Protagonisten in keiner Weise vergleichbar. Statt Masse und Kraft sind Porzingis' beste Waffen die Arbeitseinstellung und seine 221 Zentimeter Körperlänge.
Mit seinem weichen Touch beim Jumper, der auch von Downtown eine Bedrohung darstellt (2/3 Dreier gegen Houston), ergibt das eine kaum zu verteidigende Kombination. Klingelt da was? Richtig. Nicht nur aufgrund seiner europäischen Herkunft wurde Porzingis als der nächste Dirk Nowitzki gehandelt. Die Betonung liegt dabei auf "der nächste" - niemand rechnete damit, dass der Lette schon nach 14 Saisonspielen einen solchen Unterschied für die Knicks machen würde.
Anerkennung von höchster Stelle gab es nach Kristaps erstem richtig starken Auftritt gegen die Charlotte Hornets (29 Punkte, 11 Rebounds) von Nowitzki selbst: "Er ist 'for real', sein Potenzial ist grenzenlos", sagte Dirk und führte weiter aus: "Er ist lang, athletisch und tough. Er hat einen guten Touch und kann auch aus dem Dribbling kreieren."
Kristapsanity
Hätte Porzingis' Game Winner im ersten Spiel gegen die Hornets nicht eine Hundertstelsekunde zu spät seine Hand von Downtown verlassen - im Big Apple wäre vermutlich schon früher die "Kristapsanity" ausgebrochen.
Mancher Rookie hätte nach solch einem Ausrufezeichen wie einem Career High von 29 Punkten das neu gewonnene Selbstbewusstsein sicher direkt in eine höhere Wurfzahl umgesetzt. Nicht so Porzingis.
Im folgenden Spiel gegen OKC nahm er gegen den defensivstarken Serge Ibaka lediglich fünf Versuche aus dem Feld. Dafür gab es direkt Lob von Coach Derek Fisher: "Es war der Flow des Spiels. Es gab für ihn offensiv gegen die Thunder nicht so viele Möglichkeiten wie im letzten Spiel. Das ist das Großartige an Kristaps. Er versucht nicht, irgendetwas zu erzwingen oder zu wiederholen."
Nach dem Spiel gegen Houston fielen die Worte von Fisher selbstverständlich ebenfalls positiv aus: "Natürlich war jeder fasziniert von seiner Fähigkeit, Würfe zu treffen. Aber wir sehen insbesondere in seinen defensiven Skills den Grund, weshalb er wirklich gut werden kann."
Besser als Dirk?
Beides sind Dinge, die Porzingis von Nowitzki nicht nur unterscheiden, sondern abheben. Klar, in Sachen Midrange-Jumper und Dreier macht Dirk keiner etwas vor. Doch da war auch der blitzsaubere Hookshot aus dem Lauf mit rechts. Da war der linkshändige Postup-Hook inklusive Kontakt und Abdul-Jabbar-Flugkurve. Völlig ungeschliffen und roh versteht sich - aber die Fundamentals sind da.
Kombiniert mit ein bisschen mehr Muskelmasse können die 2,21-Meter am Ring erheblichen Schaden anrichten. Eine Facette, die Nowitzki in seinem Spiel fehlt. Ach, und dann waren da ja neben den sieben Blocks noch satte fünf Offensivrebounds. Kein Dirk-Vergleich notwendig.
Vor allem der Porzingis-Faktor in der Defense hinterlässt bei Statistik-Freaks offene Münder: Auf 100 Possessions gerechnet sind die Knicks mit Kristaps auf dem Court 11,5 Punkte besser als ohne ihn. Bewacht Porzingis die Zone, erreicht die Knicks-Verteidigung im ligaweiten Vergleich Platz vier. Sitzt der Lette auf der Bank, findet sich New York lediglich auf Rang 23 wieder.
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(K)ein Heilsbringer
Erst kurz vor dem Draft kletterte Porzingis aufgrund seiner exzellenten Workouts in den Mockdrafts nach oben. Diese bewogen Phil Jackson dazu, Porzingis an Position vier auszuwählen. Was folgte, ist bekannt: Laute Buh-Rufe erfüllten das Barclays Center in Brooklyn. Viele Fans dachten, der President of Basketball Operations der gebeutelten Knicks hätte den Verstand verloren. Doch der Zen Master agierte mit Weitblick - und plante an einem Rebuild über die nächsten Jahre. Denn selbst er konnte nicht ahnen, wie schnell Kristaps einschlagen würde.
Natürlich kann nach ein paar starken Spielen noch nicht von einem Heilsbringer gesprochen werden, doch der 20-jährige Lette ist seit Patrick Ewing der vielversprechendste Rookie im Big Apple. Ex-Bayern-Spieler Malcolm Delaney war schon länger ein Porzingis-Fan: "Ich habe meinen Kumpels schon am Draftabend gesagt, dass ich glaube, dass er etwas Besonderes ist", schrieb er bei Twitter: "Sie mussten es erst sehen, um es zu glauben. Er hat's drauf!"
Porzingis im Porträt: Lettischer Lulatsch oder Latviathan?
Air Zingis?
Die ersten New Yorker Zeitungen sind nach dem Aufflackern von Porzingis' Potenzial bereits auf Spitznamensuche, da Kristaps sein bisheriger Alias "Zinger" nicht gefällt. Die Kreativität kennt dabei keine Grenzen: Air Zingis, Godzingis, K-Zing, Leapin' Latvian, Zing Master, Zingis Khan oder Latviathan sind nur einige der Vorschläge.
Während sich früh in der Saison ein Zweikampf zwischen Karl-Anthony Towns und Porzingis um die Auszeichnung zum Rookie of the Year abzeichnet, werden auch erste Vergleiche mit früheren Top-Rookies aufgemacht. Bisher kommt Porzingis in 26 Minuten auf 13,2 Punkte, 8,8 Rebounds und 1,5 Blocks.
Ein anderer Power Forward, dessen Namen inzwischen der Zusatz "Superstar" ziert, ist Anthony Davis. Seine Stats bei leicht höherer Minutenzahl in der ersten NBA-Saison: 13,5 Punkte, 8,2 Rebounds, 1,8 Blocks. Und: Davis war damals direkt die erste Option der New Orleans Pelicans, während sich Porzingis die Bühne mit niemand geringerem als Carmelo Anthony teilen muss.
Mit Kristaps in die Postseason?
Erstaunlich war, dass gegen Houston die anderen vier Spieler auf dem Feld nicht wie gewohnt nur für Melos Isolation Platz machten - sondern ebenfalls für gelegentliche 1-on-1-Aktionen von Porzingis. Bedarf es eines eindeutigeren Zeichens, dass er schon jetzt das Vertrauen seines Coaches hat? Kristaps Einfluss auf das Spiel der Knicks jedenfalls ist unverkennbar.
Vergangene Saison holten die Franchise in der gesamten Saison lediglich 17 Siege - nun sind es nach 14 Spielen bereits deren acht und das Team steht auf einem Playoff-Platz. Dabei war der Spielplan mit zehn Playoff-Teams des letzten Jahres bisher nicht gerade gnädig zu den Knickerbockern.
Unabdingbare Bescheidenheit
Spätestens nach dem Spiel gegen die Rockets kommen die New Yorker nicht mehr nur in den Madison Square Garden, um Anthony zocken zu sehen. Die ganze Stadt will einen Blick auf die neue Attraktion Kristaps Porzingis werfen. Doch den juckt der Hype schrecklich wenig. Wie bei Twitter blieb er nach seinem Breakout-Game auch auf dem Court bescheiden wie ein Klosterschüler.
"Wir haben die Chance, etwas aufzubauen", so Porzingis: "Wir versuchen, ein gutes Team zu sein. Dafür arbeiten wir. Ich muss einfach noch konstanter werden, damit ich dem Team in jedem Spiel helfen kann."
Wen jetzt das leise Gefühl beschleicht, dieser Moment könnte - wie sein Durchbruch - früher kommen als erwartet, der wird vermutlich Recht behalten. Denn bei all dem Wirbel um seine Person: Porzingis ist das ruhende Auge dieses Orkans. Und diese Eigenschaft befähigt ihn, zu einem ganz Großen zu werden.