Der Identitätsstifter

Oliver Mehring
26. Januar 201616:39
Jimmy Butler ist derzeit der gefährlichste Spieler der Bullsgetty
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Jimmy Butler steckt mitten in der Transformation vom Sidekick zum Go-to-Guy der Chicago Bulls. Dabei steht der Guard vor einer Reihe von Aufgaben und Herausforderungen. Besonders Derrick Rose und Coach Fred Hoiberg sind die Hürden seiner Entwicklung. Am Sonntag gibt es ihn und die Bulls ab 21.30 Uhr im LIVESTREAM for FREE gegen die Los Angeles Clippers.

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"Manchmal brauchen wir einfach einen Tritt in den Hintern. Es tut mir Leid, weil Fred so ein entspannter Kerl ist und ich habe großen Respekt vor ihm, aber wenn wir nicht das tun, was wir tun sollten, muss man manchmal eine etwas härtere Gangart einschlagen - auch bei mir. Das gehört im Basketball hin und wieder dazu."

Mit diesen Worten stellte sich Jimmy Butler vor wenigen Wochen den Journalisten nach der enttäuschenden 107:91-Niederlage bei den New York Knicks. Energische Worte, die sogleich eine kleine Lawine ins Rollen brachten. Denn nicht wenige interpretierten den Warnschuss von Butler als Kritik an Coach Fred Hoiberg, der seit dieser Saison die Geschicke der Chicago Bulls leitet - der Interpretationsrahmen schien unendlich.

Eine intensive Ära

Erst im Sommer war bei den Bulls eine kleine Ära zu Ende gegangen. Fünf Jahre lang stand Tom Thibodeau für Chicago an der Seitenlinie und trieb sein Team mit verbissener Leidenschaft jährlich in die Playoffs, seine Spieler kontinuierlich an ihre Grenzen. In jedem Spiel, in jeder Sekunde verlangte Thibs vor allem defensiv absolute Hingabe und strich den Begriff 'Schongang' aus dem Bulls-Vokabular.

Das machte es speziell der jüngeren Garde nicht gerade einfach, sich in der Rotation festzuspielen. Kaum ein Draftpick 'überlebte' das harte Auswahlverfahren. Übrig blieb nach Thibodeaus Abgang nur ein Spieler, der unter ihm seine Profi-Karriere gestartet und in einer Saison mehr als 20 Minuten Einsatzzeit pro Spiel gesehen hatte: Jimmy Butler.

Der widerstandsfähige Guard spielte sich durch überragende Verteidigungsarbeit in das Herz des knurrigen Thibodeau. Dazu lernte der wissbegierige Schüler auch offensiv mit jeder Sommerpause ein Stück dazu. Der Lohn: Zum Ende der letzten Spielzeit durfte er sich die Most-Improved-Player-Trophäe auf den Kaminsims stellen und einen 95-Millionen-Dollar-Vertrag über fünf Jahre unterzeichnen.

Frischer Wind in Windy City

Nichtsdestotrotz musste Thibodeau den Hut nehmen. Den Machern in Windy City fehlte die Entwicklung. Fredrick Hoiberg übernahm und sollte eine neue Mentalität ins Team bringen. Eine Mentalität, die vielleicht nicht zu jedem Spieler im Roster passt, der zuvor für Thibodeau in die Schlacht gezogen war. So landen wir wieder in der Umkleidekabine der Bulls nach der Klatsche gegen den Rivalen.

Der harsche Kommentar von Butler wanderte durch die Presse, bis Hoiberg zwei Tage später das Gespräch suchte. Der Guard entschuldigte sich kleinlaut und versuchte schnell die Wogen zu glätten. So habe er seinen Coach nicht angreifen wollen und hätte nicht den Weg über die Öffentlichkeit suchen sollen.

Das Rampenlicht ruft

Im Grunde eine kleine Kontroverse, die im Laufe einer 82-Spiele-Saison schnell wieder in den Hintergrund rücken könnte. Doch in diesem Fall verbirgt sich hinter der Geschichte eine tiefere Bedeutung. Denn für die Karriere von Jimmy Butler beschreibt diese Posse einen richtungsweisenden Schritt.

Ob er will oder nicht - der ehemalige Thibodeau-Schützling genießt eine neue Art von Aufmerksamkeit, die einiges an Verantwortung mit sich bringt. Auf dem Court scheint ihm diese Rolle auf den ersten Blick kaum Probleme zu bereiten, viel mehr trifft Butler freudig in das Rampenlicht: 22,4 Punkte im Schnitt, knapp 2 Steals, 4,4 Assists und 5 Rebounds beschreiben eine starke Saison.

Selbst ist der Butler

Als inzwischen bester 1-on-1-Spieler im Bulls-Kader schließt Butler vor allem aus Isolations-Plays ab und trifft 50 Prozent aller Würfe ohne vorausgegangen Assist (letzte Saison: 37 Prozent). Zusätzlich verlässt er sich weiterhin auf seine starken Off-The-Ball-Instinkte.

Bei den Second-Chance-Points ist Butler der einzige Spieler in den Top 35, der kein Forward oder Center ist, dazu steht er ligaweit in den Top 20 bei Fastbreak-Punkte und in den Top 15 bei Punkten nach einem Turnover des Gegners.

Zieht man noch den legendären 53-Punkte-Auftritt gegen Philly hinzu, scheint Butler der nächste Karriereschritt gelungen zu sein. Doch bei genauerer Betrachtung werkelt er derzeit noch an zahlreichen Baustellen. Vor allem die Findungsphase mit Derrick Rose stellt eine große Hürde dar.

Die Baustellen und Rose

Da wäre zum Beispiel das Thema Dreier. Durch die Wurfschwäche des Backcourt-Kollegen Rose (24 Prozent 3FG) ist es für die Bullen umso wichtiger, dass zumindest Butler den Longball zuverlässig trifft. Noch wackelt der Wurf aber gewaltig (32 Prozent 3FG): "Irgendwie will der Dreier noch nicht so fallen", zeigte sich Butler zuletzt genervt. Darunter leidet das Spacing.

Durch die Downtown-Probleme des Duos können die Verteidiger bedenkenlos absinken und damit auch Pick-and-Roll-Spielzüge leicht neutralisieren. Das macht das Leben von Big Man Pau Gasol nicht gerade einfacher. Die Statistik liest sich fatal: Die Bulls haben unter dem Korb nach den Los Angeles Lakers die schlechteste Trefferquote aller NBA-Teams.

Zudem stehen sich Butler und Rose auf den Füßen. Beide haben prinzipiell auf der linken Seite des Feldes ihr präferierten Angriffsspots, treffen von dort aus deutlich zuverlässiger und ziehen von dort aus lieber in die Zone. Butler ist schließlich Opfer seiner Stärke. Seine Quoten sind grundsätzlich besser als die von Rose, weshalb er keine andere Wahl hat, als auf seine Weakside auszuweichen.

Die Hot Zones von Derrick Rose (l.) und Jimmy Butler (r.)nba.comDie NBA im Livestream bei DAZNnba

Abgesehen davon experimentieren die Zwei immer noch mit dem Ballvortrag. So sind die Usage-Raten beider Guards nahezu identisch (Rose: 26 Prozent; Butler: 25 Prozent), genauso wie die Assistzahlen (Rose: 4,7 PPG: Butler: 4,9 PPG) - nur die Turnoverate von Rose ist schlechter. Denn gleich 15 Prozent aller Bulls-Ballverluste gehen auf das Konto des Ex-MVP, der nahezu in allen Statistiken die uneffektivste Saison seiner Karriere spielt (mit mindestens 30 Spielen).

"Wir sind am besten, wenn beide auf dem Feld stehen", setzte Coach Hoiberg der aufkommenden Diskussionen entgegen: "Man wird es bald sehen. Manchmal hat Derrick den Ball, dann hat wieder Jimmy den Ball. Beide hatten schon ihre Momente, wo man die gute Chemie sehen konnte."

Es ist ein stetiger Prozess, um beide Stars in das neue System zu integrieren. Dabei hat Rose immer noch die größten Probleme, da ihn seine zwischenzeitlichen Ausfälle immer wieder aus dem Rhythmus werfen. Unter den zehn effektivsten Bulls-Lineups, die mindestens in 5 Spielen zum Einsatz kamen, ist der Point Guard nur viermal zu finden. Butler gleich neunmal. Gerade in seiner anhaltenden Findungsphase braucht Rose folglich einen entschlossenen und effektiven Mann neben sich.

Ein verbaler Anführer

Darüber hinaus ist Rose, der ohnehin nicht gerade als Lautsprecher bekannt ist, noch zurückhaltender mit seinen Aussagen geworden. Er scheint wegen seiner vielen dürftigen Auftritte und seinen kleinen Verletzungen noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein. Ohne den verletzten Joakim Noah ist Butler deshalb auch als Sprachrohr gefordert - als Leader außerhalb des Platzes, der das Team repräsentiert.

Die Aussagen über Hoiberg sollten so etwas wie ein erster Versuch der verbalen Leadership sein. Doch dass man sich damit auch ebenso angreifbar macht, zeigte die Reaktion auf Butlers ersten großen Vorstoß: "Ich war noch nie als Anführer gefragt. Weder auf der High School, noch auf den Junior College oder bei den Bulls. Ich lerne noch. Dazu gehört auch das Auftreten abseits des Courts - das bringt Positives wie Negatives mit sich."

Gegen das Machtvakuum

Unter Thibodeau gab es eine klare Hierarchie, die keinen Spieler zuließ, der nur annährend auf Augenhöhe mit ihm stand. Hoiberg hat da eine ganz andere Erwartung und fordert gleichzeitig Fingerspitzengefühl: "Ich weiß, wie leidenschaftlich Jimmy Butler ist. Deshalb ist er so ein großartiger Spieler. Aber das alles ist neu für ihn, das ist eine neue Rolle. Er hat die Fähigkeiten, diese Rolle auszufüllen. Wir haben gesprochen, aber das bleibt unter uns - es war ein sehr positiver Austausch."

Die Modifikation des Spielsystems ist noch lange nicht abgeschlossen: "Fred hat eigentlich ein flüssiges Ballmovement installiert, aber viele Jungs halten den Ball noch zu lange in den eigenen Händen", beklagte Joakim Noah kurz vor Jahreswechsel. Zu selten wandert der Ball in der Offensive über mehrere Stationen. Außerdem ist Pau Gasol immer unzufriedener und forderte laut ESPN mehr Spielzüge, die er aus dem Post-Up abschließen kann.

Aber auch die Verteidigungsarbeit ist nur noch Durchschnitt und die Zahl der gegnerischen Punkte ist im Vergleich zum Vorjahr um 4 Zähler angewachsen. Doch Noah leitet daraus weitaus größeres Problem ab: "Was ist denn die Identität des Teams? Das können wir derzeit noch nicht beantworten. Früher war das klar: Wenn du nach Chicago kommst, erwartet dich Krieg. Das ist heute anders. Uns fehlt das Feuer. Wir brauchen wieder unsere verschworene Gemeinschaft. Wir müssen für einander kämpfen - dazu brauchen wir die Leadership von Jimmy."

"Will meinen Teil dazu beitragen"

Der neue starke Mann scheint dieser Rolle nachkommen zu wollen: "Es geht überhaupt nicht darum, dass wir fünf Jahre auf eine gewisse Weise gecoacht wurden. Jeder muss einfach seinen Job erfüllen. Du gewinnst dein Matchup, erfüllst den Plan, gewinnst das Spiel. Ich will meinen Teil dazu beitragen." Dazu ackerte er die meisten Minuten aller NBA-Spieler ab (38,1 MPG) und steht in Sachen Win Shares (6,5) auf Platz 5 hinter Spielern wie Steph Curry, Russell Westbrook oder Kawhi Leonard.

Alles in allem soll der Emporkömmling der alten Chicago Bulls zwangläufig der neue Kopf der Franchise werden - ob extern oder intern. Nur wenn es Jimmy Butler schafft, seine Transformation zum Anführer abzuschließen und den Bulls einen neuen Charakter zu schenken, kann den Bulls die Wandlung zu einem Team gelingen, das ohne Rose und die harte Hand von Tim Thibodeau auskommt.

Jimmy Butler im Steckbrief