Wenn heute Nacht um kurz nach 2 Uhr im Mittelkreis der Oracle Arena der Spalding zum Tip-Off in die Höhe steigt, wird die Spannung förmlich mit den Händen zu greifen sein. Auf der einen Seite der Titelverteidiger aus Golden State, das vielleicht beste Team aller Zeiten mit dem besten Schützen aller Zeiten, nur noch 48 Minuten vom zweiten Titel entfernt, der Krönung eines unfassbaren Jahres, der Dynasty.
Auf der anderen Seite wie schon im letzten Jahr die Cleveland Cavaliers, ausgehungert nach dem Titel greifend, den das Team, die Stadt, die ganze Region herbeisehnt. Mit dem besten Spieler des (mindestens) vergangenen Jahrzehnts, einer unaufhaltsamen Allzweckwaffe, mal wieder auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft.
In diesen 48 Minuten werden Träume gleichzeitig zerplatzen und wahr, werden Karrieren vollendet oder - unfair - im Staub zertreten. Sind diese 48 Minuten vorbei, werden gleichermaßen Schampus und Tränen fließen, werden Helden geboren und Schuldige gefunden. Jawohl - es wird episch!
Spannung trotz Garbage Time
Und vor diesen 48 Minuten entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass diese unfassbar spannenden Finals eigentlich ... meistens überhaupt nicht spannend waren. Nach sechs Finalspielen stehen Cavs und Dubs bei jeweils genau 610 Punkten. Diesen Gleichstand hat es zuvor noch nie gegeben. Doch gleichzeitig wurde kein Spiel mit weniger als 11 Punkten Unterschied beendet, der Schnitt liegt bei knackigen 19,7 Zählern. Hallo Garbage Time, du schon wieder? Du warst doch gerade vor einen paar Tagen hier. Nimm doch mal Urlaub.
Die Protagonisten beider Seiten werden sich einen weiteren Blowout wünschen, wenn natürlich auch mit unterschiedlichem Ausgang. Wer kommt mit dem Druck, mit den Blitzlichtern, den vor den inneren Augen tanzenden Schlagzeilen, den Nullen auf dem neuen Kontrakt, den 19.596 enthemmten Zuschauern besser zurecht?
Kraftloses Death Lineup?
In ihren Büros sind Steve Kerr und Tyronn Lue bis zur letzten Sekunde dabei, samt ihrer Helferlein Taktiken zu schmieden, anzupassen und zu verwerfen, Spielszenen zu scouten, sowie profane Statistiken und die jeweils neuesten Zahlen des teameigenen Analytics-Bunkers zu wälzen. Wo hat sich der entscheidende Vorteil verborgen, den es herauszukitzeln gilt?
Kerr muss eine Lösung dafür finden, dass sein gefürchtetes "Death Lineup" mit Curry, Thompson, Barnes, Iguodala und Green in 41 Minuten in dieser Serie bei einer Bilanz von -4 steht. Und dafür, dass Barnes das Team mit jedem Backstein von draußen weiter weg vom Titel (und von seinem angestrebten Max Contract) schießt. Seine elf Dreier in den Spielen 5 und 6 waren dermaßen unbehelligt, dass laut SportVU ein durchschnittlicher Spieler 47 Prozent getroffen hätte. Bei ihm waren es 9,1 Prozent.
Die Warriors gewinnen, weil ...
Die Warriors brauchen den lädierten Iggy als LeBron-Stopper - wobei der ja derzeit ohnehin nicht gestoppt werden kann. Ein neuer Ansatz gegen den King ist nötig, vielleicht ein schnelleres Double-Team, das man in Game 6 lediglich einmal bemühte. Sie müssen die Minuten von Starting Center Andrew Bogut umverteilen (Festus Ezeli?), verhindern, dass sich Curry in der Defensive aufreibt, und in der Offensive wieder leichtere Würfe kreieren.
Irving macht Sorgen
Auf der Gegenseite tüftelt Lue an seinem besten Lineup: Gehört der defensiv fußlahme Kevin Love erneut in die Starting Five, oder hat man mit Veteran Richard Jefferson bessere Chancen? Wie kann sein Team Draymond ausschalten, der vor den heimischen Fans bisher im Schnitt 22 Punkte, 9 Rebounds, 6 Assists und 2,5 Steals auflegte. Wie verhindert man eine Explosion von Thompson, oder auch von Steph, der mit 28 versenkten Distanzwürfen schon jetzt einen neuen Finals-Rekord aufgestellt hat.
Die Cavaliers gewinnen, weil ...
Auch beim Gast gibt es besorgniserregende Blessuren zu berücksichtigen. Point Guard Kyrie Irving verletzte sich am Donnerstag im dritten Viertel am linken Fuß, und auch wenn er auf jeden Fall spielen kann, baute er nach dem Zusammenstoß mit Ezeli stark ab und kam am Ende in Halbzeit auf 1/6 aus dem Feld mit zwei Turnovern. Wenn Irving auch nur leicht gehandicapt ist, steigt die Arbeitslast für Lebron noch weiter an - und auch für die übrigen Rollenspieler könnte es in fremder Halle nicht mehr so geschmeidig laufen.
50 Punkte von Curry?
Am Ende hängt es an den insgesamt zehn Protagonisten auf dem Parkett. Und da werden sich die Kameras wohl wieder auf die beiden konzentrieren, die vier der letzten fünf MVP-Awards unter sich ausgemacht haben. "Im Flieger waren wir gestern sehr entspannt, die Stimmung war sehr positiv. Deswegen bin ich ganz zufrieden mit unserer Einstellung, und das müssen wir ins Spiel morgen transportieren", gab Curry auf der Pressekonferenz am Freitag zu Protokoll. Eine Niederlage und die Saison sei ein Fehlschlag, denn: "[Der Titel] war von Beginn an unser Ziel."
An sich selbst formuliert der 28-Jährige eine klare Erwartungshaltung. "Ich muss mein bestes Spiel des Jahres abliefern, wenn nicht sogar das beste meiner Karriere. Es geht um alles." Es gehe aber nicht nur um Scoring, auch wenn Teamkollege Marreese Speights bereits vollmundig von 50 Punkten sprach. "Ich muss das Tempo kontrollieren und aggressiv sein, wenn es sich anbietet."
Lebron als MVP - so oder so?
Von Druck will LeBron derweil nichts wissen. "Für mich ist es die Gelegenheit, etwas Besonderes zu erreichen", erklärte er. Deshalb werde er seine Herangehensweise an das Spiel auch nicht ändern: "Ich freue mich auf die Herausforderung. Natürlich, es ist ein Game 7, aber deshalb setze ich mich nicht viel mehr als sonst unter Druck."
Ändern sollte er ohnehin nichts, schaut man sich seine Auftritte in den letzten beiden Spielen an. Dominanter kann man nicht spielen: Er führt beide Teams in Punkten, Rebounds, Assists, Steals und Blocks an - das hat es noch nie gegeben. Selbst im Falle einer Niederlage wäre er klarer Favorit auf den MVP-Award.
Steph. LeBron. Kyrie. Klay. Draymond. Tristan. Kevin. Andre.
Game 7.
Genug geredet. Auf geht's!