Neunfacher All-Star. College-Champion. Der erste Basketballer mit drei Olympischen Goldmedaillen. So könnte man die bisherige Karriere von Carmelo Kyam Anthony knapp zusammenfassen. Er selbst sieht das ähnlich: "Ich kann am Ende meiner Karriere zurückschauen, auch wenn ich kein NBA-Champion bin, und sagen, dass ich eine großartige Karriere hatte", ließ er schon während der jüngsten Olympischen Spiele, vor der dritten Goldmedaille, verlauten.
Kritiker werden dennoch nach wie vor nicht müde, Melos Karriere ohne NBA-Titel als Misserfolg zu betrachten. Aber ist das eigentlich fair? Oder wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Kaum eine andere professionelle Sportliga wird so von individuellen Statistiken und Auszeichnungen geprägt wie die NBA.
Um in die Hall of Fame aufgenommen zu werden, ist es elementar, mehrfacher All-Star zu sein und möglichst üppige Statistiken vorweisen zu können - beides trifft bei Melo zu. Ergo gibt ihm das renommierte Portal Basketball-Reference eine 95-prozentige Chance auf die Hall of Fame.
Doch wenn die Elite des Basketballs untereinander verglichen wird, zählt auf einmal fast nur noch die nackte Anzahl der NBA-Titel - und dieser blieb Melo bisher bekanntlich verwehrt. Doch um einen der besten Basketballer der letzten Jahre fair bewerten zu können, muss man tiefer blicken.
Frühe Erfolge bei den Nuggets
Melos professionelle Laufbahn begann eigentlich wie aus dem Bilderbuch. Nach seinem einzigen College-Jahr für Syracuse inklusive dem NCAA-Titel wurde er im legendären Draft-Jahrgang 2003 an dritter Stelle von den Nuggets ausgewählt. Und dort ging es weiter rasant bergauf.
Er nahm eine vom Misserfolg geprägte Franchise und führte sie nach einer Durststrecke von acht Jahren direkt in die Playoffs. LeBron James, der den 03er-Draft bis heute überstrahlt, schaffte das in seinen ersten zwei NBA-Jahren nicht. In Denver erreichte Melo jedes Jahr die Postseason, allerdings kam er auch nur einmal über die erste Runde hinaus. Aus der anfänglichen Erfolgsstory wurde schnell eine wiederkehrende Enttäuschung.
Bevor man allerdings Anthony allein dafür die Schuld gibt, sollte man bedenken, dass er nie einen "echten" Co-Star hatte. Chauncey Billups brachte Erfolg und Erfahrung, war aber schon über seinen Zenit hinaus. Allen Iverson war nicht nur über 30, sondern passte ungefähr so gut zu Melo wie Freiwürfe zu Shaq.
Bei allen Erwartungen an einen Superstar - niemand gewinnt alleine. Das konnte man damals auch noch an LeBron James betrachten, der in seinen ersten sieben Jahren zwar bereits zwei Mal MVP wurde, sein Team aber nicht zum Titel führen konnte. Auch er galt einst als Verlierer, so albern das heute klingen mag.
Der Blockbuster-Trade
James konnte seine Kritiker mit bisher drei Titeln zum Schweigen bringen, Melo gelang dies nicht - und trug daran zumindest eine Teilschuld. In der Saison 2010/11 erzwang er frustriert einen Trade nach New York, obwohl er auch im Sommer als Free Agent hätte wechseln können. Stattdessen mussten die Knicks für Melo und Billups einen First-Round-Pick, Cash sowie das wertvolle Quartett aus Wilson Chandler, Danilo Gallinari, Timofey Mozgov und Raymond Felton abgeben.
Die Knicks opferten ihre Tiefe mit der Vorstellung, aus Billups, Melo und Amar'e Stoudemire ein Star-Trio zu machen. Doch Billups war inzwischen 34 und Stoudemire sollte aufgrund seiner Verletzungen immer mehr abbauen.
Melo lieferte große Stats, hatte neben sich aber nie die erhoffte Firepower. Selbst seine beste Saison 2012/13, die er als Scoring Champion und Dritter im MVP-Voting wurde, brachte keinen nennenswerten Playoff-Erfolg.
Der Tiefpunkt
Ein Jahr später bauten die Mitspieler um ihn herum weiter ab. Folglich verpasste Anthony zum ersten Mal in seiner Karriere die Playoffs. Eine heikle Situation, zumal er nach dieser Saison zum Free Agent wurde. Es hätte kaum jemanden gewundert, wenn er sich enttäuscht einem anderen Team angeschlossen hätte.
Ein 30-jähriger Star ohne einen Ring am Finger sucht gewöhnlich eine Situation, die ihm den größten sportlichen Erfolg verspricht. Melo jedoch entschied sich gegen unter anderem die Bulls und für einen Verbleib bei den Knicks. Eindeutig keine primär sportliche Entscheidung - mit dem 5-Jahres-Vertrag über 124 Millionen Dollar entschied sich Anthony für den komfortablen Weg.
In der darauffolgenden Saison bekam Anthony das, was er vielen Kritikern zufolge "verdient" hatte. Durch eigene Verletzungen und ein kollektiv katastrophales Team spielten die Knicks die schlechteste Saison in ihrer Franchise-Geschichte. Der absolute Tiefpunkt war erreicht. Dabei hätte es auch ganz anders laufen können - und zwar mehrere Male.
Um Haaresbreite am richtigen Team vorbei?
Melo rechnete 2003 fest damit, an zweiter Stelle von Detroit ausgewählt zu werden. Die Pistons griffen aber mit Darko Milicic auf historische Weise ins Klo und gewannen trotzdem in derselben Saison den Titel.
2006 hingegen stand Anthony sich eher selbst im Weg. Nach seinem Rookie-Deal verlängerte er langfristig in Denver (5 Jahre, 80 Millionen), um nach seiner turbulenten Kindheit ohne Vater endlich für finanzielle Sicherheit für seine ganze Familie zu sorgen. Eine verständliche Entscheidung, aber auch eine, die ihn um eine große Chance brachte.
Denn seine Draft-Kollegen LeBron und Dwyane Wade gingen einen anderen Weg. Beide entschieden sich für einen kürzeren Vertrag und damit mehr Flexibilität. Anthony jedoch machte sich keine Gedanken darüber, Denver frühzeitig zu verlassen. "Hier möchte ich sein", antwortete er auf Rückfragen, ohne zu ahnen, wie frustrierend der ausbleibende Erfolg für ihn sein sollte.
Auch LeBron war 2010 frustriert und suchte eine neue Situation - anders als Anthony konnte er dies nun aber als Free Agent machen. Nur so konnte in Miami das neue Superteam der NBA geformt werden. Wäre auch Melo damals Free Agent gewesen, hätte er problemlos auch in Miami landen können - dass dies der ursprüngliche Plan war, wurde von LeBron in den letzten Jahren mehrfach angedeutet. Stattdessen wurde Chris Bosh, der genau wie Wade und LeBron einen kurzen Vertrag unterschrieben hatte, zum Dritten im Bunde.
Der Status Quo
Heute wartet Anthony seit drei Jahren auf die Playoffs. Die Knicks versprühen jedoch mit Kristaps Porzingis sowie den Neuzugängen Derrick Rose, Joakim Noah, Courtney Lee und Brandon Jennings endlich wieder etwas Optimismus. Nur ist es jetzt Anthony selbst, der - wie viele seiner Weggefährten zuvor - über seinen Zenit hinaus ist.
Knicks-Offseason: Das Ende der Luftschlösser
In der kommenden Saison besteht dennoch eine sehr realistische Chance auf die Playoffs. Wird es aber dazu reichen, James und seine Cavaliers im Osten zu entthronen? Nein. Selbst Anthonys College-Coach Jim Boeheim vermutet inzwischen, dass er seine Karriere ohne NBA-Titel beenden wird.
Sollte Melo den Ring erzwingen?
Anthonys aktueller Vertrag hält ihn noch bis 2019 in New York, wobei er auch schon 2018 selbst aus dem Deal aussteigen könnte. Anthonys Spielstil ist einer, der in der NBA gut altern kann. Sollte er also nicht drastisch abbauen, könnte er 2018 noch einmal einen letzten großen Vertrag suchen.
Es gibt aber auch ein anderes Szenario: Sollte er zu Gehaltseinbußen bereit sein, könnte er sich durchaus einem absoluten Titelkandidaten anschließen. James zum Beispiel spricht immer wieder davon, noch einmal mit einer Kombination seiner besten NBA-Freunde ein Team bilden zu wollen: Wade, Chris Paul und Melo, auch bekannt als "Team Banana Boat".
Wie auch immer er sich entscheidet, Kritiker wird es immer geben. Beendet er seine Karriere titellos in New York, wird man ihm das ankreiden. Schließt er sich einem Titelfavoriten an und ordnet sich unter, wirft man ihm vor, dass er alleine nie gewinnen konnte.
Unterstützung von Van Gundy
Die Wahrheit ist jedoch: Niemand gewinnt alleine. Man braucht eine funktionierende Franchise, einen sehr guten Trainer, ein überragendes Team und nicht zuletzt Glück. Anthony hatte von alledem bisher noch nicht genug zum gleichen Zeitpunkt.
Das wird oft vergessen, wenn man ihn oder andere Ring-lose NBA-Stars bewertet - sehr zum Ärger vom ESPN-Experten Jeff van Gundy: "Diese Idee, dass man einen Ring haben muss, um sich zu validieren, ist kurzsichtig. Das berücksichtigt nicht die Komplexität, wie schwer es ist, einen Titel zu gewinnen. Niemand kann mir erzählen, dass Stockton, Malone und Ewing keine Champions waren. Sie waren Champions! Sie wurden nur von besseren Teams und besseren Spielern geschlagen. Manchmal wurde man einfach zum falschen Zeitpunkt geboren."
Vielleicht bleibt der "falsche Zeitpunkt" tatsächlich das Erbe, das Melo hinterlässt - es sei denn, er kann seine Karriere doch noch krönen. Das Wichtigste ist jedoch, dass Melo selber mit einem guten Gewissen und einem Lächeln zurückblicken wird.