Wie kein anderer steht Joel Embiid für den vielbeschworenen "Process" der Philadelphia 76ers. Die Twitter-Legende hat sein Debut gegeben und kann endlich auch sportlich für Schlagzeilen sorgen. SPOX erklärt, was den Center zum Hoffnungsträger der gesamten Franchise und dem Liebling der NBA macht.
"Hey, I want you to come slide in my DMs" - am 16. Juli 2014 wurde eine Legende geboren. Ein gewisser Joel Hans Embiid, frisch vom College und gerade erst von den Philadelphia 76ers gedraftet, machte sich auf diese Weise ziemlich unmissverständlich via Twitter an Kim Kardashian ran. Was will man mit Kanye West, wenn man Joel Hans haben kann?
Eine ziemlich freche Aktion, könnte man sagen. Allerdings ritt Embiid zu dieser Zeit auch noch voll auf der Welle des Erfolgs. Der Kameruner, der erst mit 16 Jahren in die USA kam und vorher kaum mal einen Basketball in der Hand gehabt hatte, stand keine vier Jahre (und 28 College-Spiele) später vor einer hoffentlich großen NBA-Karriere - und wurde aufgrund seines schier unendlichen Potenzials quasi von Anfang an zum wichtigsten Projekt von Sam Hinkie.
performHinkie und der Prozess
"Trust the Process" war das Credo, dem der mittlerweile gefeuerte GM alles folgen ließ, und so ließ er sich weder von Embiids Rückenproblemen am College noch von dem gerade erst erlittenen Kahnbeinbruch im Fuß abschrecken. Nach Nerlens Noel 2013 draftete Hinkie damit den zweiten schwer verletzten Big Man hintereinander und holte sich diesmal sogar die Verletzung ins Haus, die die Karrieren von Yao Ming und Bill Walton beendete.
Zwei Jahre fiel Embiid mit dem Kahnbeinbruch aus und musste mehrfach operiert werden, die Genesung verlief deutlich schwieriger als erhofft. Es gab schon etliche Zweifel, ob er überhaupt jemals spielen würde.
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Doch in der abgelaufenen Preseason stand er erstmals auf dem NBA-Parkett - und zeigte, dass Athletik, Game und schier grenzenloses Potenzial noch immer vorhanden sind. "The Process", wie er in "Gedenken" an Hinkie sogar vom Sixers-Hallensprecher genannt werden will, ist auf einmal wieder der große Hoffnungsträger in Philly.
0 to 100 *** real quick
In sieben Preseasonspielen, in denen er nur in reduzierten Minuten eingesetzt wurde, legte Embiid für einen "rostigen" Spieler mit auf 36 Minuten gerechnet 27,9 Punkte, 14,7 Rebounds und 2,1 Blocks überragende Zahlen auf und präsentierte ein ungeahnt variables Skillset.
Auch in seinen ersten beiden "richtigen" Spielen, in denen er es immerhin mit Dwight Howard und Steven Adams zu tun hatte, zeigte Embiid überragende Ansätze. In 18 Minuten erzielte er knapp 17 Punkte im Schnitt und brachte gerade Howard mit seinem Inside-Out Game schnell in Foulprobleme. Dass die Sixers beide Spiele verloren? Geschenkt. Blame it on the process.
Embiid fühlt sich sowohl im Pick-and-Roll als auch im Pick-and-Pop wohl. Seine Beweglichkeit und seine 2,31 Meter Spannweite lassen ihn beim Abrollen zu einem hervorragenden Empfänger für Lob-Pässe werden. Überraschender ist jedoch, wie gut Embiids Jumpshot bislang aussieht.
Akribisch hat er in den letzten zwei Jahren an seinem Wurf gearbeitet, wobei ihn sein Weg sogar bis nach Katar führte. Auch wenn sein Jumper noch nicht wirklich hochprozentig fällt, traf er in beiden Spielen sogar schon jeweils einen Dreier.
Ein Hauch Shaq, ein Hauch The Dream
Coach Brett Brown will den offensiven Fokus Embiids jedoch vorerst auf einen anderen Bereich legen: "Ich wünsche mir, dass er zu Beginn ein Post-Spieler ist. Jemand hat mal zu mir gesagt, er wäre wie Shaq mit der Leichtigkeit eines Fußballers. Er ist beweglich und macht Dinge, die man normalerweise nicht von einem 2,20-Meter-Athleten sieht". Nicht von ungefähr wurde Embiid schon zu College-Zeiten mit Hakeem Olajuwon verglichen.
Das Arsenal, das Embiid trotz seiner bisher kurzen Basketballkarriere im Post aufweist, ist bemerkenswert. Schon in der Preseason wurde deutlich, dass er im Gegensatz zu vielen anderen jungen Big Men nicht nur einige wenige, sondern diverse Counter-Moves beherrscht, um auf die Defense zu reagieren.
Embiid stellt sich im Post bereits auf die Körperschwerpunkte seiner Verteidiger ein. Er hat einen passablen Hook-Shot über beide Schultern und auch einen Up-and-Under im Arsenal. Für seine Größe hat er außerdem einen schnellen ersten Schritt und geht deshalb aus dem Post gerne ins Face-Up, um so entweder an seinem Gegenspieler vorbei zum Korb zu ziehen, oder per Jab-Step Platz für seinen Jumpshot zu kreieren.
Gemacht für die Moderne
Doch Embiid, der in seiner Jugend hauptsächlich Volleyball und Handball spielte, hat nicht nur offensiv das Potenzial zum Franchise Player. Darauf baut auch sein Coach, wie er im Gespräch mit dem Philadelphia Magazine unlängst verriet.
"Ich denke, dass er sowohl offensiv als auch defensiv unser zentraler Spieler sein wird. Man kann um ihn eine Struktur bilden. Es ist etwas Ähnliches, was ich auch vor Jahren bei Tim Duncan gesehen habe." Brown muss es wissen, war er doch zehn Jahre lang Assistant Coach bei den Spurs.
Embiid hat das Zeug zum Defensivanker. Seine Beweglichkeit hilft ihm beim Verteidigen des gegnerischen Pick-and-Rolls immens. Die Kombination aus schnellen Füßen und Spannweite gibt ihm die Möglichkeit, auf Guards zu switchen und diese auch am Perimeter daran zu hindern, gute Wurfmöglichkeiten zu kreieren.
Auch am Korb hat Embiid das Potenzial, ein Impact Player zu werden. Durch seine Länge kann er regelmäßig Würfe erschweren und beweist auch in der Rotation bislang ein gutes Auge, um von der Weakside zu blocken.
Ausbaufähiges Spielverständnis
Natürlich offenbart Embiid trotzdem noch viele Fehler und Makel. In der Defensive war er noch deutlich zu häufig auf den Highlight-Block aus, anstatt seine Länge zur Wurferschwerung einzusetzen. Das führt dazu, dass er auf 36 Minuten gerechnet 6,6 Fouls begeht.
Auch offensiv erkennt man noch viele Defizite. Embiid ist Turnover-anfällig und bislang kein guter Passer, gerade mit Double-Teams tut er sich extrem schwer. Unter dem Korb neigt er trotz seiner Körpergröße dazu, den Spalding zu weit unten zu zeigen, was kleineren Spielern die Möglichkeit gibt, den Ball wegzuschlagen.
Ebenfalls auffällig ist, wie häufig Embiid trotz seiner physischen Präsenz zum Sprungwurf als Mittel in der Offensive greift, obwohl die Quote das nicht wirklich rechtfertigt. Ein Problem, das er selbst schon erkannt hat: "Ich muss den Ball tiefer im Post bekommen. So kann ich mir bessere Winkel schaffen und die Double-Teams werden nicht mehr erfolgreich sein".
Sieht Embiid den Ball dort unten, ist er jedoch wie ein schwarzes Loch. Das zeigt seine aktuelle Usage Rate (Prozentsatz der Positionen, in denen der Spieler den Angriff abschließt, während er auf dem Feld ist), die nach zwei Spielen mit 45,5 Prozent die höchste der Liga ist.
Embiid, die Twitter-Legende
All diese Defizite sind indes keine ungewöhnlichen für einen jungen Center in der NBA, weshalb sie bei den Sixers auch keine Sorgenfalten verursachen. Lange wurde seine persönliche Reife in Frage gestellt, da er sich nach Kim Kardashian auch noch bei Rihanna versuchte und sich mehr und mehr den Ruf eines Pausenclowns erarbeitete. Doch sein Coach schwört, dass ihn die zweijährige Leidenszeit reifer gemacht und abgehärtet hat.
"Das Wachstum, das Joel als Spieler und als Person genommen hat, ist sehr wichtig für mich", sagte Brown. "Auf eine bestimmte Art und Weise war seine Verletzung dafür verantwortlich, dass er gewachsen ist. Ich denke, er geht die Dinge jetzt professioneller und seriöser an".
Der Eckpfeiler des Teams
Brown dürfte nach dem Mittelfußbruch vom diesjährigen No.1-Pick Ben Simmons ohnehin den größten Fokus auf die Entwicklung Embiids legen. Neben Embiid bleiben als Schlüsselspieler noch Dario Saric, dessen Game sich gut mit dem von Embiid ergänzen sollte, sowie die anderen Center-Picks der letzten Jahre. Nerlens Noel und Jahlil Okafor, wurden jedoch in der Hackordnung bereits von Embiid überholt.
Beide bringen nicht das komplette Skill-Set Embiids mit. Noel ist in der Offensive zu limitiert und Okafor hat in seinem Rookie-Jahr deutliche Probleme in der Defensive offenbart. Es ist unwahrscheinlich, dass die Sixers die Saison mit beiden Centern beenden werden.
Lasst die Spiele beginnen
Für Embiid gilt nun aber: Endlich gibt es wieder Spiele, in denen es um etwas geht. Die Saison hat begonnen, endlich wird man sehen, ob der Hype gerechtfertigt ist und ob Embiid tatsächlich gesund bleiben kann. Philly wird erneut Niederlagen sammeln, dennoch ist der Center eine der spannendsten NBA-Personalien der Saison.
Wie kein anderer Spieler steht "The Process" für die teils skurrilen "Tanking"-Arien unter Hinkie. Der Kameruner vereint all die Niederlagen in einer Person. Sein Talent, das man sich durch die schmerzlichen Jahre an Land ziehen konnte, wird dadurch zur Projektionsfläche der Hoffnungen einer ganzen Franchise, mehr noch als Simmons.
Joel Embiid ist der personifizierte "Process" - und deswegen lässt er auch zu keiner Zeit einen Zweifel daran, wem er seinen "Status" zu verdanken hat. Ein Instagram-Bild von sich und Hinkie versah er vor drei Monaten mit der Caption "Er starb für unsere Sünden" - in Philly hoffen alle, dass Embiid dieses "Opfer" tatsächlich wert war.