Abhängigkeit ist zumeist keine schöne Sache. Für Suchtkranke ist es oft kennzeichnend, dass sie lange nicht wahrhaben wollen, von einer eigentlich schädlichen Substanz abhängig zu sein. So ist es auch ein wenig für die Chicago Bulls, die durch die bittere Niederlage in Game 3 auf schmerzhafte Art und Weise aufgezeigt bekamen, dass sie allem Anschein nach abhängig sind. Von Rajon Rondo.
Rajon Rondo, das ist jener Spieler, der in der Regular Season lange Zeit ein gefühltes "Zu-verkaufen"-Schild um den Hals trug, der sich in Chicago mit den Superstars Butler und Wade öffentlich anlegte und auf dem Feld lange nur wie ein Schatten seines früheren Selbst wirkte.
Eine ganze Saison lang schien Rondo wie ein Abtrünniger, der sich in seinem dritten Team in Folge scheinbar nicht richtig wohlfühlte und seiner Rolle als extrem schwieriger Charakter auch in Windy City mehr als gerecht wurde.
Vom Streitobjekt zum Strippenzieher
Daraufhin folgten aber die letzten Wochen der Saison und schließlich die Playoffs. Mit ihnen wandelte sich Rondo zum Dreh- und Angelpunkt im Bulls-System und innerhalb von nur zwei Spielen wurde er zum unverzichtbaren Strippenzieher des Achtplatzierten,. Nach zwei Siegen in Boston schien Chicago auf dem besten Weg zur großen Playoff-Überraschung.
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Dieses etwas überraschende Märchen endete mit dem Daumenbruch des Point Guards abrupt. In einem bordeauxfarbenen Anzug, den Arm eingepackt in eine dicke Schiene, verfolgte Rondo, wie seine Vertreter in Spiel 3 die Kugel immer wieder kopflos abgaben. Wie es weder Jerami Grant noch Michael Carter-Williams schafften, die Mitspieler einzusetzen. Und wie die Bulls in doppelter Hinsicht in Isolation verfielen.
Nach der deutlichen 87:104-Heimpleite schien es so auch ein wenig komisch, als Bulls-Coach Fred Hoiberg schnell offenbarte: "Wir haben Vertrauen in unsere Guards. Sie haben uns in diesem Jahr schon gute Minuten geschenkt." Die 48 Minuten zuvor konnte der Head Coach jedenfalls nicht gemeint haben.
In der ersten Viertelstunde des Spiels verteilten die Bulls insgesamt gerade einmal zwei Assists, im gesamten dritten Viertel wurde keine einzige Vorlage gezählt. Am Ende waren es 14 Assists. In den beiden Spielen mit Rondo legte Chicago zusammen 50 Vorlagen auf.
"Kein schlimmerer Zeitpunkt"
Die Rollenspieler um Paul Zipser, Bobby Portis und Nikola Mirotic warteten vergeblich auf offene Würfe, auch Jimmy Butler tat sich ohne einen geeigneten Spielmacher an seiner Seite enorm schwer, freie Räume zu finden. Das gesamte offensive System der Bulls schien zusammengefallen.
Es verwunderte also nicht, dass Rondo im Anschluss an Game 3 eine eigene Pressekonferenz abhielt, wo er zahlreiche Fragen zu seinem Comeback beantworten musste. "Es hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt kommen können. Gerade kann ich nicht einmal eine Gabel halten. Wir müssen von Woche zu Woche schauen", stellte Rondo fest.
Äußern musste sich Rondo dort auch zu einer unschönen Aktion, bei der er von der Bank aus versuchte, Jae Crowder beim Zurücklaufen in die Defense ein Bein zu stellen. "Wenn man sich mal die Achillessehne gerissen hat, muss man sein Bein von Zeit zu Zeit ausstrecken", so die schwache Ausrede von Rondo.
Von so einem Spieler abhängig zu sein, ist nicht leicht für die Bulls - seine Verletzung ist dennoch unvergleichbare Hiobsbotschaft sie, die einen großen Vorteile in der Playoff-Erfahrung des Teams sahen. Mit Rondo fehlen sechs Endrunden-Jahre sowie eine Meisterschaft. "Du kannst ihn nicht ersetzen, seine Erfahrung ist unerreicht in unserem Team", wurde ein zerknirschter Dwyane Wade nach dem Spiel deutlich.
Vor wenigen Monaten noch trug Wade gemeinsam mit Butler über die Medien eine Fehde mit Rondo aus, als dieser die Rollenspieler des Teams gegen die Kritik der beiden Stars verteidigt hatte und über seine große Zeit mit Garnett und Allen bei den Celtics referiert hatte. Nun saß Wade im Presseraum und meinte: "Rajon ist wie ein zweiter Trainer auf dem Feld, er gibt die Pace vor. Ohne ihn ändert sich alles."
Noch kein Plan ohne Rondo?
Doch es war nicht nur die Pace in der Offensive, die bei Fred Hoibergs Team nicht stimmte, auch in der Defensive fehlte es an Intensität. Isaiah Thomas hatte deutlich mehr Platz, um das Spiel der Celtics aufzuziehen. Rondos langen Arme fehlten in den Passwegen, ohne sein für einen Guard starkes Rebounding wurde Chicago einer weiteren Stärke beraubt.
Auch die Reaktion des Gegners fiel drastisch aus. Flügel Jae Crowder meinte: "Es ist ein komplett anderes Team. Ohne ihn hatten wir einen guten Plan gegen sie." Avery Bradley unterstrich: "Natürlich haben wir mitbekommen, dass es ihnen ein wenig weh tut, wenn er nicht auf dem Feld steht."
Dass Rondo in dieser Serie noch zurückkehrt, kann beinahe ausgeschlossen werden. Auch wenn er früher als Kämpfernatur bekannt war, zählt ein Daumenbruch zu den eher unangenehmen Verletzungen für einen Basketballer. Die Bulls müssen also eine Lösung finden. Nur wie?
Nach der Niederlage in Spiel 3 wirkten die Beteiligten noch ratlos. "Wir müssen mit unseren jungen Point Guards einen Weg finden, im nächsten Spiel besser zu sein", bemühte Wade eine Standard-Floskel. Coach Hoiberg stellte genauso vielsagend fest: "Die Pace hat ohne Rondo nicht gestimmt. Wir sehen uns jetzt die Videos an und schauen dann, wie wir es besser machen können."
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Mammutaufgabe trotz Vorteil
Noch immer haben die Bulls einen Sieg mehr auf dem Konto und somit das gestohlene Heimrecht in der Serie auf ihrer Seite. Die Leistung von Game 3 gibt momentan aber nur wenig Anlass zur Hoffnung. Grant und Carter-Williams wirken nicht so, als könnten sie ansatzweise in die Fußstapfen von Rondo treten, über Erfahrung in der Postseason verfügen sie ebensowenig. Die weist Neuzugang Cameron Payne zwar marginal auf, doch er spielt in der Rotation von Hoiberg aktuell keine Rolle.
Aller Voraussicht nach wird wohl noch mehr Last auf den Schultern von Wade und Butler liegen. Die Leistungen der restlichen Guard-Rotation war auch schon während der Regular Season nicht überdurchschnittlich, ein Playoff-Senkrechtstarter drängte sich in Spiel 3 nicht auf.
Wie man es auch dreht und wendet, die Lösung ist kompliziert. Eine Variante könnte es sein, Wade auf die Eins zu ziehen, Butler als Shooting Guard aufzustellen und Paul Zipser in die Startformation zu holen. Er war einer der wenigen, die in Chicago eine gute Leistung zeigten.
Aber auch dann wäre Chicagos Spiel ein komplett anderes. Das liegt an der besonderen Klasse von Playoff-Rondo. Die Bulls haben es vor der Verletzung des Spielmachers nicht so sehr gemerkt wie danach, doch sie sind abhängig von dieser nicht immer einfachen Person, die zu Beginn der Saison so gar nicht nach Windy City zu passen schien und nun aufgrund seiner Verletzung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausfällt.
Jetzt müssen sich die Bulls von eben jenem Spieler wieder frei machen. Eine Mammutaufgabe für die Abhängigen und ein herber Dämpfer für die nach den zwei Auftaktsiegen entstandene Euphorie.