Es war ein bezeichnendes Bild, das sich vor dem Start von Halbzeit zwei auf der Rockets-Bank bot. Mit versteinerter Miene saß Mike D'Antoni dort grübelnd und drehte auf dem Boden sein Taktikbrett von rechts nach links. Es waren erst 24 Minuten gespielt, trotzdem wirkte der Coach nicht, als hätte er eine zündende Idee, wie sein Team noch irgendwie zurück ins Spiel finden könnte.
Das hatte vermutlich weniger damit zu tun, dass Houston zu diesem Zeitpunkt mit 19 Punkten hinten lag - vielmehr lag es daran, wie dieser Vorsprung zustandegekommen war. Die Spurs waren passiert; mit einer taktischen Meisterleistung hatten sie die Rockets bereits im zweiten Viertel völlig demoralisiert und es geschafft, dass ein normalerweise "machbarer" Rückstand uneinholbar wirkte.
Alles fing dabei mit James Harden an, der einen Meter entfernt saß und ebenso apathisch vor sich hinstarrte wie D'Antoni. Der Superstar, der in dieser Saison ohne jeden Zweifel zu den besten Spielern der Liga gehörte, hatte soeben seine schlechteste Halbzeit der gesamten Saison hingelegt.
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Nicht etwa, weil er vom gefürchteten zweimaligen Defensive Player of the Year an die Kette gelegt wurde. Kawhi Leonard spielte aufgrund seiner Knöchelverletzung überhaupt nicht mit.
"Next man up": Kein Klischee
Hardens Gegenspieler hießen Danny Green und Jonathon Simmons, bisweilen auch Dejounte Murray. Zwei frühere D-League-Spieler und der aktuelle No.29-Pick, der so gar nicht spielte, als sei er noch grün hinter den Ohren. Natürlich kontrollierte keiner von ihnen Harden im Alleingang, die gesamte Spurs-Defense war sensationell. Dennoch verkörperte dieses Trio an Spielern den Mythos der "Spurs-Kultur" in Spiel 6 so extrem wie selten zuvor.
Es ist im Sport, ganz besonders im US-Sport, eines der beliebtesten Klischees: Verletzt sich ein Spieler, behaupten die Teams, jetzt heiße es "next man up" - es müssen eben die anderen in die Bresche springen, wir schaffen das schon. Die Spurs sind - mal abgesehen vielleicht von den New England Patriots - das einzige Team, bei dem dies Jahr für Jahr kein Klischee ist, sondern die Lebensphilosophie.
Binnen weniger Tage hatte San Antonio erst Tony Parker für den Rest der Playoffs verloren, dann verletzte sich in Spiel 5 auch noch Leonard. Für kein Team der Welt wäre es ein Leichtes, seine beiden besten Scorer der Playoffs zu verlieren und trotzdem einfach so weiterzumachen. Die Spurs jedoch schafften genau dies.
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Aldridge taut auf
In Spiel 5 war es Altmeister Manu Ginobili, der in der Schlussphase ohne Leonard die Kohlen aus dem Feuer holte. In Spiel 6 war der Argentinier kaum zu sehen (2 Punkte, 1/5 FG), aber es gab ja noch die anderen. Green. Simmons. Murray. Patty Mills. Pau Gasol. Und natürlich auch LaMarcus Aldridge.
Der Big Man spielte bisher keine sonderlich konstanten Playoffs, bereits in der Serie gegen Memphis tauchte er phasenweise komplett ab und war längst nicht immer die zweite Option, die er in San Antonio eigentlich sein sollte. Auch deshalb war Parkers Verletzung ja so ärgerlich - bis dahin war er nämlich der "Co-Star" von Leonard. Doch in Spiel 6 zeigte LMA, dass noch immer eine Führungskraft in ihm steckt und kochte Houston mit 34 Punkten ab.
Die Art und Weise war angesichts des Gegners dabei durchaus ironisch: Während Houston den Mitteldistanzwurf bekanntlich verschmäht, ist die Mid-Range für Aldridge Brot und Butter. Mit ihren Small-Ball-Lineups waren die Rockets seiner Kraft und Länge völlig hilflos ausgeliefert - Aldridge nutzte das eiskalt aus und traf allein fast doppelt so viele Zweipunktwürfe (16) wie das gesamte Rockets-Team (9).
Keine Sorgen um Simmons oder Anderson
"Ich wusste, dass ich den Ball heute etwas mehr sehen würde", erklärte Aldridge nach dem Spiel. "Sie haben mich gut verteidigt, aber ich habe meinen Rhythmus gefunden. Ich habe einfach versucht, da unten zu dominieren, aber auch alle anderen waren bereit. Natürlich ist Kawhi ein großartiger Spieler, den man nicht ersetzen kann. Aber ich habe mir keine Sorgen um Jonathon oder Kyle (Anderson, d. Red.) gemacht, weil ich weiß, wie hart sie arbeiten und wie sie von der Organisation auf solche Situationen vorbereitet werden."
Auch hier könnte man wieder sagen: "Das ist doch ein Klischee." Aber nicht bei den Spurs. Gregg Popovich ist schließlich nicht nur für seine grimmigen Antworten berühmt, sondern auch dafür, dass er während der kompletten Saison mit großer Rotation spielt und weniger erfahrene Spieler wie Simmons oder Murray auch mal in der Crunchtime ins kalte Wasser wirft. Sie sollen lernen, dabei nicht unterzugehen, damit er sie im Idealfall auch in den wirklich wichtigen Situationen, wie eben in Spiel 6, ohne große Sorgen einsetzen kann. Et voila. Es zahlte sich wieder einmal aus.
Pop beweist Klasse
Dass Popovich indes nicht nur in Sachen taktisches Verständnis über große Klasse verfügt, bewies er unmittelbar nach dem Spiel. Er nahm den völlig frustrierten Harden in den Arm und sprach ihm gut zu, wenig später gratulierte er den Rockets auf der Pressekonferenz zu "einer großartigen Saison" und gestand ein, dass der Unterschied zwischen beiden Teams lange nicht so groß war, wie er in diesem Blowout erschien.
"Am Ende der Saison steht ein Team und alle 29 anderen sind traurig. Das soll aber nicht bedeuten, dass hier deswegen nichts Tolles erreicht wurde", sagte Pop und lobte explizit die Arbeit von D'Antoni, gegen den er in den Playoffs nun eine 5-0-Bilanz hat. Er sei einfach stolz darauf, wie sein Team die Ausfälle zweier so wichtiger Spieler aufgefangen hatte.
Pop und sein Team hatten allen Grund dafür, auf diese Leistung stolz zu sein. Allzu lange können sie sich damit aber nicht aufhalten. Bereits am Sonntag geht es in den Conference Finals gegen die Golden State Warriors weiter, dann vermutlich auch wieder mit Leonard.
Ratlosigkeit bei D'Antoni
Bei den Rockets dagegen begann das Grübeln spätestens während der besagten Szene kurz vor der zweiten Halbzeit. Auch nach dem Spiel hatte D'Antoni die Antwort noch nicht gefunden: "Manchmal schlägt dir das Leben ins Gesicht. Sie haben wie verrückt gekämpft und wir hatten heute aus irgendeinem Grund nicht die Spritzigkeit, um mitzuhalten", sagte der Coach konsterniert.
Ginobili "half" ihm, indem er sinnierte, ob die Rockets vielleicht "zu relaxt" waren, weil Leonard fehlte, oder ob ihre kleine Rotation ein Problem war. Beides dürften Faktoren gewesen sein. Zunächst richteten sich natürlich trotzdem sämtliche Augen auf Harden, dessen MVP-würdige Saison mit fünf katastrophalen Vierteln in Serie unrühmlich endete.
"Es liegt in erster Linie an mir. Ich übernehme die Verantwortung für das heutige Spiel", sagte Harden selbst. Er wollte keine Entschuldigung hören. Auf die Frage, ob er bei 100 Prozent sei, entgegnete er nur, dass es ihm gut gehe.
Auf Drogen?
Dass dies nicht der Wahrheit entsprach, sah man bei jeder Aktion auf dem Feld. D'Antoni sprach von einer Grippe und dass sich Harden seit längerem mit Problemen am Handgelenk rumplagte, ist hinlänglich bekannt. In keiner Szene erinnerte der Bart an den Spieler, der gerade eine der besten Offensiv-Saisons in der Geschichte der Liga hingelegt hat. ESPN-Reporter Stephen A. Smith fragte im anschließenden SportsCenter gar, ob jemand Harden etwas ins Getränk gemischt habe.
Seine Kritiker werden ihn des Chokens bezichtigen. Das mag auch richtig sein. Was aber ebenfalls mit hineinspielt, ist die Tatsache, dass Harden ausgelaugt und angeschlagen war. Das gilt in den Playoffs zwar für viele Spieler, aber Harden war (mit Russell Westbrook) der Dauerbrenner dieser Saison. Von 93 möglichen Spielen absolvierte er 92 und spielte im Schnitt 37 Minuten.
Diese Belastung würde ein Popovich freilich niemals zulassen. Es ist gut möglich, dass Kawhi zwar einsatzfähig war, Pop ihn jedoch ausgebremst hat. Der fünfmalige Champion hat immer das große Ganze im Blick. Genau darin liegt der Spurs-Mythos begründet.