Über etliche Jahre galt Milos Teodosic als bester Spieler außerhalb der NBA - diesen Titel hat er nun abgegeben. Mit 30 Jahren hat der Serbe sich entschieden, endgültig den Sprung über den großen Teich zu wagen.
Eigentlich war es ja längst zur Tradition geworden. Wann immer ein großes internationales Turnier stattfand und Serbien auf die USA traf, verdrehte ein Typ, der aussah, als wäre er gerade erst aufgestanden, den Gegenspielern und Zuschauern den Kopf und ließ sie mit folgender Frage zurück: "Warum spielt der Typ nicht in der NBA?"
Wann immer sich eine Saison in Europa dem Ende nahte, wann immer ein Vertrag auslief und wann immer darüber gesprochen wurde, welche europäischen Spieler einem NBA-Team weiterhelfen könnten, wurde über Milos Teodosic spekuliert. Wann immer ebenjener Teodosic ein Interview gab, fiel mindestens eine Frage zur NBA und immer fiel die Antwort so oder so ähnlich aus: "Wenn die Situation passt, könnte ich es mir schon vorstellen."
Nun ist es endlich so weit: Die Situation passt, die Traditionen sind gebrochen. Teodosic hat bei den L.A. Clippers einen Zweijahresvertrag über 12,3 Millionen Dollar unterschrieben, im zweiten Jahr hat er eine Spieler-Option und damit eine Hintertür offen, falls es doch nicht so gut passt.
Frei nach Erwin Schrödinger
Seit Jahren fragten sich Basketball-Fans auf der ganzen Welt, wie Teodosic' Spiel in der NBA funktionieren würde, und stritten bisweilen leidenschaftlich darüber. Er selbst hielt sich zu der Frage zumeist bedeckt und sagte etwa 2015 im SPOX-Interview, er "denke nicht einmal ansatzweise an die NBA." Dennoch wurde er über die Jahre mehr und mehr zu Schrödingers Katze.
gettyDie Kurzfassung für diejenigen unter uns, die sich weder mit Physik noch mit "The Big Bang Theory" auskennen: Schrödingers Katze ist ein Paradoxon. Ein Experiment, in dem eine Katze zeitweise gleichzeitig als "tot" und "lebending" gilt, da sie in einer Box steckt und man schlichtweg nicht weiß, ob sie noch am Leben ist. Die Aufklärung gibt es erst, wenn man die Box öffnet und die Katze untersucht.
Indem er den Wechsel in die NBA aufschob, ermöglichte es Teodosic den Leuten, für ihn zu argumentieren oder aber ihn zum nächsten Juan Carlos Navarro zu machen, einem Star in Europa, der in der NBA nichts auf die Kette bekommt. Es gab keine richtige Antwort - bis jetzt. Mit seinem Wechsel zu den Clippers hat Teodosic die Box verlassen. Endlich kann die Frage, die internationale Hoops-Junkies seit Ewigkeiten umtreibt, beantwortet werden: Funktioniert Teodosic auch in der NBA?
Beverley: Milos ist wohl der beste Passer der Welt
Selten gab es so einen Hype um einen Spieler, der im Alter von 30 Jahren sein NBA-Debüt geben wird. ESPN-Experte Fran Fraschilla sagte, Teodosic sei "vielleicht der beste Passer der Welt", Patrick Beverley ersetzte das "vielleicht" durch "wohl" und fügte hinzu: "Sein IQ ist einzigartig. Er hat einen bestimmten Swag. Dieser Junge kann spielen."
In der Tat darf man sich in allererster Linie auf sein Passspiel freuen. Der Euroleague-MVP von 2010 sieht Lücken, lange bevor sie für andere sichtbar werden, und ist der wohl kreativste Passer in der Geschichte der Euroleague. Er ist weder besonders schnell noch besonders athletisch, aber sein Spiel trieft vor Spielwitz. Gewissermaßen lebt er dafür, Gegner blöd aussehen zu lassen.
Und er produziert Highlights am Fließband. Bei ZSKA Moskau, wo er seit 2011 spielte und 2016 die Euroleague gewann, fütterte er zuletzt vor allem die Highflyer Kyle Hines und Joel Freeland mit Lobs, in Los Angeles werden es nun Blake Griffin und DeAndre Jordan sein. Hines tweetete bereits: "Blake und DeAndre, haltet einfach eure Hände bereit. Teo wird sich um den Rest kümmern!"
Funktioniert das Scoring auch in der NBA?
Dieses Trio allein dürfte bei den Clippers in der Tat für jede Menge Spektakel sorgen, kombiniert mit Neuzugang Danilo Gallinari steht das für eine interessante - wenn auch ziemlich unkonventionelle - Offense.
Teodosic soll darin primär als Playmaker, aber auch mal als Option abseits des Balles auftreten, wenn Griffin die Offense initiiert. Vergangene Saison traf Teo 38,1 Prozent von Downtown, die beiden Jahre davor waren es mindestens 40 Prozent - an sich liegt ihm diese Rolle also, zumal er bei ZSKA auch oft Nando De Colo den Ball überließ. Indes wird sich natürlich erst zeigen müssen, ob seine Treffsicherheit beim Dreier auch bei NBA-Entfernung noch da ist.
Das gilt auch für sein restliches Scoring: Mit seinem Gardemaß von 1,97 m war Teodosic in der Euroleague oft in der Lage, aufzuposten oder über seine Gegner drüberzuwerfen - gegen die athletischeren NBA-Spieler könnte das deutlich schwieriger werden, zumal Teodosic selbst nicht unbedingt kräftig ist.
Vorne genial, hinten brutal
Man darf dennoch davon ausgehen, dass er offensiv auch in der NBA eine gute Rolle spielen wird - vielleicht nicht als Superstar wie in Europa, aber doch als Maestro, der eine gute Offense anführen kann. In der Gruppenphase bei Olympia 2016 kam er gegen das All-Star-Team der US-Amerikaner schließlich auch gut zurecht und hatte sie am Rande einer Niederlage. Das wichtigste Play der heutigen NBA ist das Pick'n'Roll - und Teodosic ist ein Meister darin.
Das große Fragezeichen bei Teodosic bezieht sich vielmehr auf die Defense. Denn bei allem offensiven Genie tritt Teo in der Defense nicht nur fußlahm, sondern bisweilen sogar dilettantisch auf. Er hat nicht nur Probleme, vor schnelleren Gegnern zu bleiben, teilweise versucht er es gar nicht erst wirklich. Selbst bei ZSKA musste er stets gegen den schlechtesten Offensiv-Spieler gestellt werden, unabhängig von der Position.
In der NBA ist das etwas schwieriger. Zwar gibt es ein paar Teams, die mit reinen Defensivspezialisten wie Andre Roberson oder Tony Allen auftreten und dadurch natürliche "Versteck-Möglichkeiten" bieten, das ist aber eher nicht mehr die Norm, schon gar nicht bei den guten Teams, zu denen L.A. ja gehören will.
Ist Defense auf der Eins überbewertet?
Teodosic dürfte fraglos davon profitieren, dass die Clippers mit Austin Rivers und Beverley über zwei Spieler verfügen, die gegen die Top-Guards der Liga gut verteidigen können - Beverley kennt er ohnehin schon von einer gemeinsamen Saison bei Olympiakos Piräus. Den Russell Westbrooks oder John Walls dieser Welt wird er daher nicht nachjagen müssen. Ein defensives Mismatch dürfte er trotzdem in jedem Spiel darstellen.
Die Frage ist, wie "schlimm" das im Endeffekt ist - denn ein großer Teil der guten Point Guards der NBA verteidigt nur an Feiertagen oder in den Playoffs. Solange die offensive Produktion die schlechte Defense überwiegt, können Teams trotzdem erfolgreich sein. Kyrie Irving und Isaiah Thomas sind nur zwei von vielen Beispielen, die dies belegen.
Wichtiger als die individuelle Defense des Point Guards ist die Team-Defense und das Konstrukt des Kaders um ihn herum - allerdings spricht auch das nicht zwingend für die Clippers. Jordan ist zwar ein guter Rim-Protector, aber wenn die Clippers mit Griffin und Gallinari spielen wollen, bringt das defensiv - vor allem mit Teodosic - einen großen Haufen Probleme mit sich. Doc Rivers wird sich etwas einfallen lassen müssen.
Der Nachfolger von Chris Paul
Trotz allem ist die Verpflichtung aber ein Risiko, das zu diesem Zeitpunkt sinnvoll ist - und zwar für beide Seiten. Teodosic selbst erhält endlich die Chance, auf dem allerhöchsten Level seine Klasse zu zeigen, und hat dabei angeblich auch die Rolle als Starter vorerst sicher. Wenn er nicht glücklich wird, kann er nächstes Jahr einfach aus seinem Vertrag aussteigen. ZSKA würde ihn mit Kusshand wieder zurückholen. Das Risiko ist also minimal - und er ist eben auch nicht mehr der Jüngste.
Das Team erhält derweil einen offensiven Maestro, der mindestens als Platzhalter zwischen Chris Paul und dem nächsten Franchise-Point Guard fungieren kann und mit seinem Spiel "asses in seats" packen wird, wie man in den USA sagt. Durch die Verpflichtung halten sich die Clippers relevant - Teodosic ist längst ein Mythos, deswegen will jeder sehen, wie er in der NBA auftritt.
Natürlich ist nicht garantiert, dass Teo und die Clippers "funktionieren" werden - die Unvorhersehbarkeit macht aber auch einen Teil des Reizes aus. Teodosic' Spiel ist deswegen genial, weil man es nicht vorhersehen kann - Teodosic ist deswegen eine Kultfigur, weil das einzig Vorhersehbare an ihm der Gesichtsausdruck ist. Die NBA hat eine neue Attraktion.