'Nach 20 Spielen bekommt man ein gutes Gefühl, wie die Saison eines Teams verlaufen wird.' Diesen Leitsatz hört man von vielen Leuten, seien es Coaches, GM, Journalisten oder gar Scouts, wenn es in einer neuen Saison darum geht, das Leistungsniveau einer Mannschaft einzuschätzen.
Besagte 20 Spiele stehen nun auch in dieser Spielzeit für die meisten Teams in den Büchern, wobei im Osten die Toronto Raptors den Platz an der Sonne einnehmen - und im Westen die Los Angeles Clippers! Richtig gelesen, nicht die Warriors, die Rockets oder gar die Lakers um LeBron James grüßen von der Spitze, sondern die Clippers, angeführt von ...
Ja genau, angeführt von wem eigentlich? Über Jahre waren Chris Paul, Blake Griffin sowie DeAndre Jordan die Stars, bildeten eine Big Three und machten die Clippers zum Contender. Über Jahre enttäuschten die Clips allerdings auch und zerfielen letztlich innerhalb eines Jahres in sämtliche Einzelteile. Aus dem Clippers-Kern von "Lob City" ist lediglich ein Bestandteil geblieben - Coach Doc Rivers.
Clippers: Coach Rivers hat wieder Spaß
Ebenjener Rivers, der 2013 die Boston Celtics gen L.A. verließ, da er keine Lust auf einen Rebuild hatte und lieber weiterhin auf Ringejagd gehen wollte. Stattdessen entwickelten sich über die Jahre Ich-AGs, die sich gegenseitig nicht mehr leiden konnten und Rivers mehr und mehr die Lust am Coaching raubten.
"Ich war sehr distanziert in diesem Jahr", beschrieb Rivers im Gespräch mit Kevin Arnovitz (ESPN) den letzten Run mit CP3 auf den Titel in der Saison 2016/17. "Ich wollte einfach nicht mehr da sein. Ich wollte weiter coachen, aber dieses Team war sehr schwer zu trainieren. Ich bin sehr introvertiert und diese Gruppe war deswegen so anstrengend, weil sie sich gegenseitig nicht gemocht haben."
Nun fehlen diese Egos, das Team lebt vom Kollektiv. Der beste Spieler des Teams ist ... Tobias Harris? Vielleicht Lou Williams? Oder doch Danilo Gallinari? Bei diesen Namen merkt man recht schnell, dass diese Truppe keinen klaren All-Star hat, dafür aber mindestens zwölf fähige Rotationsspieler stellt. Kein einziger Clippers-Spieler hat ein schlechteres Net-Rating als -0,2! Ein Milos Teodosic oder Mike Scott würden wohl nur bei wenigen Teams ein DNP kassieren, obwohl der Coach sich nicht zu schade ist, auch mal eine 11-Mann-Rotation zu spielen.
Clippers: 48 Minuten Vollgas
Daraus entstanden ist eine Einheit, die ihre Spiele mit harter Arbeit gewinnt, auch wenn die Clippers vom Talentlevel eher im hinteren Mittelfeld des Westens anzusiedeln sind. Genau dies zeichnete auch den jungen Coach Rivers aus, als dieser zur Jahrtausendwende die unbekümmerten Orlando Magic fast in die Playoffs führte, was ihm die Auszeichnung zum Coach of the Year einbrachte.
"Ich liebe unsere Identität", geriet Rivers zuletzt im Gespräch mit USA TODAY ins Schwärmen, als man ihn auf sein neues Clippers-Team ansprach. "Wir sind physisch, wir spielen hart, wollen gewinnen und sind immer ehrlich zueinander." Ein weiterer kleiner Nadelstich gegen frühere Versionen der Clips.
Diese Saison steht wie schon in Teilen der vergangenen Saison im Zeichen von harter Arbeit. Es gibt Spiel für Spiel 48 Minuten Vollgas-Basketball zu sehen, wobei hier natürlich der extrem tiefe Kader sehr hilft. Rivers kann klein, groß oder riesig aufstellen, wodurch L.A. schon mehrere Rückstände noch in Siege ummünzen konnte.
Es ist sicher auch kein Zufall, dass die Clippers nach Philly die meisten Partien in der Crunchtime (10) gewinnen konnten. Gleich zehn Spieler bekommen mindestens 15 Minuten Einsatzzeit pro Partie, so avancierten schon mehrere Akteure zum Matchwinner für die "andere Franchise aus Los Angeles." Mal brachte Center-Hüne Boban Marjanovic den Clippers das Momentum, mal nagelte Forward Mike Scott einen Jumper nach dem nächsten in den Korb, mal riss Sweet Lou die Partie komplett an sich.
Die Clippers setzen auf Tiefe
Rivers hat die Qual der Wahl und kann so je nach Matchup entscheiden, welche Spieler am besten für die Situation geeignet sind. Natürlich gibt es aber auch gewisse Konstanten im Spiel, wobei vorneweg Gallinari und Harris zu nennen sind. Es ist schon beinahe eine Ironie des Schicksals, dass die Clippers nun gleich zwei starke Flügelspieler im Aufgebot haben. Zur Erinnerung: Zu Zeiten von Lob City war immer die Position des Small Forward das Problem, nun hat man mit den beiden potenzielle All-Stars.
Noch tiefer besetzt sind die Clippers aber auf den kleinen Positionen, weswegen ein Teodosic bisher kaum Minuten bekommt. Gerade Rookie Shai Gilgeous-Alexander machte seinen Job als Starter so gut, dass er in der Rotation alle Konkurrenten hinter sich ließ. Seit Griffin dürfte SGA der beste Clippers-Rookie und damit ein wichtiger Baustein für die Zukunft sein.
Mit SGA, Patrick Beverley und Avery Bradley verfügen die Clippers über gleich drei bockstarke Guard-Verteidiger, wodurch die Mängel von Sweet Lou verdeckt werden können. Der ist bekanntlich als Verteidiger kaum zu gebrauchen, dafür aber zumeist der absolute Go-to-Guy in der Schlussphase. Der amtierende Sixth Man of the Year hat wie schon im vergangenen Jahr im vierten Viertel das grüne Licht und ist im Prinzip die Offense der Clippers.
Montrezl Harrell bringt Power von der Bank
Mit Montrezl Harrell, der noch einmal einen Sprung gemacht hat und als erster Big von der Bank kommt, bildet Williams einen tödlichen One-Two-Punch. Harrell ist dabei zu einem der besten Pick'n'Roll-Spieler der Liga mutiert, nur Rudy Gobert und Serge Ibaka toppen die 1,47 Punkte pro Possession, die Harrell als Roll Man auflegt.
"Das liegt an seinem Speed", versuchte Rivers zuletzt Harrells Zahlen zu erklären. "Er ist so schnell, er spielt mit so viel Power. Mit seiner Pace kann man kaum den Ball stoppen und dann rechtzeitig wieder Trez verteidigen." Hilfreich ist zudem, dass Harrell gute Hände hat, was Harris dazu brachte, seinen Power Forward mit einem Wide Receiver zu vergleichen.
Oft ist Harrell nur durch Fouls zu stoppen, wodurch er in 25 Minuten durchschnittlich satte 6 Freiwürfe pro Partie zieht. Da auch Gallinari und Williams viele Freebies ziehen, generieren die Clippers jede Menge leichte Punkte, was sie zum zweitbesten Team der Liga bei der Free Throw Rate macht (33,3 Prozent).
Bleiben die Clippers verletzungsfrei?
So verwundert auch nicht, dass die Clippers auf Platz 6 im Offensiv-Rating liegen, obwohl nur drei Teams weniger Dreier nehmen. Die Rivers-Truppe ist stets darauf aus, die Zone zu attackieren - und das hart und entschlossen.
Es ist zudem ein weiterer Ausdruck dafür, dass das Team nicht nur davon redet, hart zu spielen, sondern dies auch tatsächlich tut. Dies schließt auch die andere Seite des Feldes ein. "Keiner will heutzutage Defense spielen. Wir haben diesen Luxus nicht", weiß auch Rivers aufgrund der mangelnden Starpower.
Wie weit die Clippers dies in der Saison bringen wird? Das ist wohl die Frage, die sich viele im Moment stellen. Ein Top-Seed sind die Kalifornier natürlich nicht, dazu stehen im Kader doch einige Akteure, die selten eine Saison komplett verletzungsfrei durchgespielt haben (Gallinari, Bradley, Mbah a Moute).
Dennoch dürfen sich die Clippers berechtigte Hoffnungen auf die Playoffs machen, auch im völlig verrückten Westen, was vor der Spielzeit doch recht fraglich war. Das Team befindet sich schließlich in einem Umbruch, der spätestens mit dem Griffin-Trade eingeläutet wurde. L.A. ist weit davon entfernt, eine Lachnummer zu sein, wie dies über Jahrzehnte der Fall war, man hat sich Respekt erarbeitet.
Warten auf den Knall im Sommer
Das zeigen auch die Gerüchte, die seit einiger Zeit rund um das Team kreisen. Die Clippers waren laut einigen Medienberichten auf der Liste von Jimmy Butler und auch Kawhi Leonard soll das Team für seine Free Agency auf seinem Wunschzettel von bevorzugten Destinationen haben.
"Mir gefällt es, dass ich all diese Gerüchte höre, dass sie für die Clippers spielen wollen", erklärte Rivers zu den Meldungen. "Sie liegen damit richtig, denn wir bauen hier etwas Gutes auf." Denn wie einige andere Teams haben auch die Clippers im Sommer 2019 jede Menge Cap Space zur Verfügung (bis zu zwei Max-Slots), im Gegensatz zu anderen Mannschaften aber auch bereits ein funktionierendes Konstrukt. Viel wird davon abhängen, wie die Clips die Personalie Harris behandeln werden.
Der Forward spielt mit 21,5 Punkten und 8,7 Rebounds im Schnitt die beste Spielzeit seiner Karriere und wird Free Agent. Kann er zu annehmbaren Konditionen gehalten werden, gibt es ein Team, welches Harris einen Maximal-Deal anbietet? Der weitere Verlauf der Saison dürfte etwas mehr Licht ins Dunkel bringen, jede starke Partie wird seine Verhandlungsposition verbessern.
Die Clippers werden dies dennoch gerne sehen. Trotz der Ankunft von LeBron bei den Lakers werden die Clippers, auch dank starker Vorstellungen von Harris und Co., weiterhin beachtet und ernst genommen. Das war nicht immer so in der teils qualvollen Vergangenheit. Nicht nur auf aufgrund der Tabellensituation, sondern auch wegen der Art und Weise haben sich die Kalifornier Respekt in der Association erarbeitet - und das völlig zurecht.