Wir schreiben den 8. April 2012: Knicks vs. Bulls im tobenden Madison Square Garden, New York City. 16 Sekunden auf der Uhr, Chicago führt mit drei. Carmelo Anthony dribbelt auf der rechten Seite über die Mittellinie.
Gegen ihn Taj Gibson. Melo sieht es gar nicht ein, sich der Dreierlinie auf mehr als einen Meter zu nähern und drückt ab. Bumm! Ausgleich. Der MSG explodiert.
In der Verlängerung dieselbe Situation. 10 Sekunden auf der Uhr, allerdings sind die Knicks diesmal nur zwei Punkte hinten. Anthony schlendert seelenruhig zum rechten Flügel: "Same spot, same result" und der K.o. für die Bulls. Für viele ist das der Carmelo-Anthony-Moment schlechthin. Das Problem dabei? Er fand in der Regular Season statt.
Carmelo Anthony: Im Schatten von LeBron James und Dwyane Wade
Über Jahre war Melo eine der prägenden Figuren seiner Ära, der No.3-Pick eines historisch guten Drafts mit künftigen Hall of Famern wie LeBron James oder Dwyane Wade. Im Gegensatz zu Melo können sie Hardware vorweisen in Form von Championships (je 3) oder auch individuellen Titeln wie MVP oder Finals-MVP-Trophäen.
Und Anthony? Einmal Scoring Champion, zweimal All-NBA Second Team sowie viermal Third Team. Das war es - trotz eines offensiven Skillsets, wie es nur wenige vor ihm und wahrscheinlich auch nach ihm haben werden. Stattdessen bleiben einige Clutch-Momente wie eben an jenem Abend gegen die Bulls hängen.
Solche Momente gehören jedoch der Vergangenheit an. Während sich die NBA in den vergangenen Jahren rasant schnell entwickelte - weniger Bigs, mehr Dreier, das Aussterben der Mitteldistanz, um nur ein paar Punkte zu nennen - ist das Spiel von Anthony stehen geblieben.
Carmelo Anthony: Die NBA hat ihn überholt
Als klassischer ISO-Spieler braucht er konstant den Ball in den Händen, um einen Mehrwert zu bieten, mit inzwischen 35 Jahren kann und darf Melo dies aber nicht mehr sein. Bei den Oklahoma City Thunder versuchte man zwischenzeitlich, den Forward zu einem Rollenspieler, einem Spot-Up-Schützen zu machen, das Experiment scheiterte aber krachend.
Stand jetzt ist Anthony nach wie vor vereinslos, in der vergangenen Saison kam er gerade einmal auf zehn Einsätze für die Houston Rockets. nachdem die Atlanta Hawks ihm bereits keine Chance boten. Zum Ende der Saison wurde Melo zu den Chicago Bulls getradet, die ihn sofort entließen und somit zum Free Agent machten.
Seither hat sich Anthony rar gemacht, hier und da taucht mal ein Video des Veterans auf, wo er bei einem Workout Wurf um Wurf trifft. Doch wie heißt es so schön: ‚Im Juli kann jeder werfen', zuletzt wieder unter Beweis gestellt von Rudy Gobert, der fleißig Dreier traf.
Carmelo Anthony: Experiment bei den Houston Rockets scheitert
Aber was kann Melo einem ambitionierten Team im Spätherbst seiner Karriere noch liefern?
Auf den ersten Blick würde sicherlich kein Team der NBA traurig sein, wenn es sagen könnte: 'Das ist unsere Starting Five und von der Bank kommt noch Carmelo Anthony'. Das dachten sich aber garantiert auch die Rockets in der vergangenen Spielzeit. Klar, Melo hat Schwächen, aber das System sollte so stark sein, um dies abfangen zu können. Warum auch nicht? Anthony konnte theoretisch für einen gewaltigen Scoring-Boost von der Bank sorgen und die Starter in der Offense entlasten.
Doch die Realität sah leider anders aus. Melo gab zwar an, mit einer Bankrolle keine Probleme zu haben (in OKC lachte er noch darüber), die Realität zeigte aber, dass Anthony nie seinen Rhythmus fand und dem Team nie helfen konnte. Das spiegelte sich auch in seinen Statistiken bei den Rockets wider. Sowohl in Punkten als auch in der Feldwurfquote legte er die niedrigsten Werte seiner gesamten Karriere auf und musste nach zehn Spielen aufs texanische Abstellgleis.
Und das nicht nur wegen persönlicher Tiefstwerte. Anthony machte die Rockets als Team in seiner Zeit auf dem Feld um einiges schlechter. In den 294 Minuten, die er auf dem Parkett stand, hatte das Team von Mike D'Antoni eine Punktebilanz von minus 63. Zum Vergleich: In den 330 Minuten mit Anthony auf der Bank betrug die Bilanz plus 17.
Gleichzeitig bringt Melo aber auch das Interesse der Medien mit sich, das zeigte die Houston-Episode, als sich alles um den Veteranen drehte. Am Ende mit dem Verlierer Anthony, der ein leichter Sündenbock war, selbst wenn es innerhalb der Rockets wohl nicht immer stimmte.
Carmelo Anthony: Seine Statistiken 2018/19 für die Houston Rockets
Spiele | Minuten | Punkte | FG% | 3P% | Rebounds | Assists |
10 | 29,4 | 13,4 | 40,5 | 32,8 | 5,4 | 0,5 |
Carmelo Anthony: Ist der Ruf erstmal ramponiert ...
Auch Chauncey Billups zweifelte zuletzt nicht an der Arbeitseinstellung, wie er bei SiriusXM Radio verriet: "Melo war ein guter Mitspieler. Er hat jeden Tag trainiert und keine Spiele verpasst." Was folgte, war aber auch eine Einschränkung: "Es gibt aber eine Sache, die ich sagen will und das habe ich Melo auch schon gesagt. 30 Punkte zu machen bedeutete ihm zu viel."
Laut Billups, der mit Anthony sowohl in Denver als auch später bei den Knicks zusammenspielte, hat es wohl Spiele gegeben, in denen Anthony 20 oder 22 Punkte machte, die Knicks gewannen und trotzdem war er sauer. Andererseits konnten sie offenbar Spiele verlieren, er scorte 36 und versuchte, alle aufzuheitern.
Für ein Playoff-Team kann eine solche Einstellung nicht wünschenswert sein, aber Anthony dürfte auch selbst inzwischen andere Prioritäten haben. Sein Ruf ist ramponiert, nach all den Jahren ist er unvollendet. Die Hoffnung, noch eine Chance zu bekommen, ist noch immer da. Das zeigt auch die Absage an ein chinesisches Team, welches Anthony laut Shams Charania (The Athletic) sehr viel Geld zahlen wollte.
Carmelo Anthony: Lakers und Knicks (vorerst) keine Optionen mehr
Als potenzieller Abnehmer wurden immer wieder die Lakers mit Buddy LeBron gehandelt, das scheint aber nicht zu passieren. Gleiches gilt für eine (zeitnahe) Rückkehr zu den Knicks, die sich angeblich mit Melo beschäftigt hätten, wenn diese Kevin Durant und Kyrie Irving bekommen hätten.
Inzwischen muss man davon ausgehen, dass Anthony vielleicht nie wieder ein NBA-Spiel bestreiten wird. Wo soll auch das passende Team - der erwünschte Titelkandidat - sein? So weit man über die NBA-Landkarte blickt, desto öfter kann man sich diese Frage stellen.
Stattdessen verdichten sich immer mehr die Zeichen, dass Melos Zeit in der Association endgültig vorbei ist. Was bleibt ist die Option eines symbolischen Vertrags über einen Tag, wie es die Knicks bereits mit Amar'e Stoudamire taten. Melo könnte dann als Knick in den Ruhestand gehen - wahrscheinlich irgendwann als Hall of Famer, aber eben auch unvollendet.