NBA-Legendenserie - Vince Carter: Unvollendet, streitbar, Vorbild

Robert Arndt
18. März 202008:39
Vince Carter gewann 2000 den Dunk Contest.getty
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Vince Carter wollte im Sommer seine Karriere mit 43 Jahren beenden. Nun könnte das Coronavirus dem Elder Statesman der NBA vorzeitig einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Carter war in seinen besten Zeiten die große Attraktion der Liga, am Ende kann der Guard aber keine großen Erfolge vorweisen. Trotzdem wird Air Canada seine Karriere mit einem guten Gefühl beenden können.

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Einen Rekord hat Carter wohl für lange Zeit sicher. Er ist der einzige Spieler, der gleich drei NBA-Unterbrechungen miterleben musste. Carter machte beide Lockouts in den Jahren 1998 und 2011 mit, nun zwingt ihn und den Rest der NBA der Coronavirus in den Standby-Modus.

Kurz vor der Unterbrechung seiner 22. NBA-Saison stand er noch mit den Atlanta Hawks auf dem Parkett, als sich verganene Woche in Oklahoma City bizarre Szenen abspielten. 13,4 Sekunden vor dem Ende der Verlängerung im Spiel der Hawks gegen die Knicks versenkte der Forward seinen 2290. Dreier - womöglich sein Letzter.

Auch wenn die Spielzeit irgendwie beendet werden sollte, Carter wird unvollendet bleiben. Eine streitbare Figur der Liga, die dennoch einen enormen Einfluss über vier verschiedene Dekaden nahm - auch ohne einen Ring. Im Spätherbst seiner Karriere polierte Carter schließlich noch einmal sein Image etwas auf, das in seiner Prime gelitten hatte, durchaus selbstverschuldet.

Vince Carter: Kanadas Basketball-Pionier

Dabei flogen dem High Flyer zu Beginn seiner Laufbahn die Sympathien nur so entgegen. Nach drei Jahren auf der legendären Uni von North Carolina (wo er unter anderem auch mit dem deutschen Nationalspieler Ademola Okulaja zusammenspielte), eroberte Carter mit seinen spektakulären Dunks die Liga im Sturm - auch wenn er in der damaligen Basketball-Exklave Toronto spielte.

Wer weiß, ob es die Toronto Raptors heute noch geben würde, wenn Carter nicht 1998 mit dem fünften Pick (die Warriors wählten Carter, tauschten ihn aber sofort gegen Nr.4-Pick Antawn Jamison) am Lake Ontario gelandet wäre. Die Vancouver Grizzlies hatten weniger Glück und mussten bereits nach sechs Jahren nach Memphis umziehen.

Carter brachte Toronto dagegen auf die Landkarte der NBA. Er wurde Rookie of the Year, wurde in seinem zweiten Jahr ins All-NBA Third Team gewählt und führte die Raptors erstmals in die Playoffs. Dort setzte es jedoch in Runde eins einen Sweep gegen die New York Knicks, auch wenn Toronto die drei Spiele zusammengerechnet nur mit zwölf Zählern verlor.

Dennoch blieben nicht die Playoffs im Jahr 2000 im Gedächtnis der Fans hängen, es war der legendäre Dunk-Contest wenige Monate zuvor.

Vince Carter und der legendäre Dunk Contest 2000

Sind wir ehrlich, wer kann sich noch an die anderen Bewerber erinnern? Es waren Steve Francis, Ricky Davis, Larry Hughes, Jerry Stackhouse und Carters Cousin sowie Mitspieler bei den Raptors Tracy McGrady.

Der Dunk-Contest erlebte damals eine Krise, die vorherigen beiden Ausgaben wurden allesamt abgesagt, nur wegen Carter versuchte es die NBA noch einmal und wurde nicht enttäuscht.

Ein 360-Windmill, ein Reverse-360-Windmill von hinter der Korbanlage, ein Bounce-Pass-Alley-Oop von T-Mac, den Carter durch die Beine verwandelte und dann mit seinem Arm am Korb hängen blieb. Eine Legende war geboren.

Air Canada, Half-Man, Half-Amazing, Vinsanity - Carter wurde mit Spitznamen überhäuft und zementierte seinen Status wenige Monate später im Sommer, als die ganze Welt zuschaute.

Carter: Dunk of Death als bester Dunk der Geschichte

Bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney kreierte er den Dunk of Death (in Frankreich besser bekannt als Le dunk de la mort), als er über 2,18-Meter-Mann Frederic Weis stopfte - vermutlich für immer der beste Dunk innerhalb eines Spiels, den die Welt je gesehen hat.

Kevin Garnett verriet später, dass das komplette US-Team eine Wette abgeschlossen hatte. Wer auch immer über den französischen Center dunken würde, sollte eine Million Dollar vom Team bekommen, Carter gelang es. Das Geld hatte Carter schon da nicht mehr nötig. Der 1,98-Meter-Guard hatte Werbedeals mit Nike oder Gatorade und wurde vor allem in Kanada das Aushängeschild der jungen Basketball-Nation.

"Keiner wollte auf einem Carter-Poster landen", erklärte Celtics-Legende Paul Pierce später, wenn es darum ging, gegen Carter zu verteidigen. "In seiner besten Zeit hatte er rund fünf solcher Aktionen in jedem Spiel. Ich wollte das immer verhindern, so war er schon in meinem Kopf, bevor das Spiel begann."

Denn Carter war nicht nur ein begnadeter Dunker, sondern auch einer der besten Scorer der damaligen Zeit. T-Mac hatte sich zwar gen Orlando verabschiedet, aber dank Vinsanity gewannen die Raptors trotzdem mehr Spiele als im Vorjahr (47) und gingen als Fünfter im Osten erneut in die Playoffs.

Carter gegen Iverson: Ein Duell für die Ewigkeit

Es gelang die Revanche gegen die Knicks, auch dank 27 Punkten von Carter im entscheidenden fünften Spiel im Madison Square Garden, der erste Seriengewinn der Raptors-Geschichte. Was folgte, war eine denkwürdige Schlacht, die für immer ihren Platz in den Geschichtsbüchern haben wird: der Showdown zwischen Carter und dem damaligen MVP Allen Iverson von den Philadelphia 76ers.

Carter und The Answer legten zusammengerechnet drei 50-Punkte-Spiele auf und zelebrierten den damaligen Eins-gegen-Eins-Basketball. Immer wieder doppelten die Mannschaften den Gegner, am Ende hatten die Sixers in einem dramatischen Spiel 7 das bessere Ende für sich - auch weil Carter den möglichen Gamewinner knapp verpasste.

Dieses Spiel 7 stellte gewissermaßen den Wendepunkt in Carters Karriere dar. Vor dem entscheidenden Spiel flog der Raptors-Star am Tag der Partie nach North Carolina, um sein Abschlusszeugnis von der Universität entgegenzunehmen und stellte damit seine eigenen Interessen vor die des Teams - nicht zum letzten Mal in seiner Laufbahn.

Carter: Viele Verletzungen und ein erzwungener Trade

Trotzdem statteten die Raptors ihren Star in der Sommerpause mit einem Sechsjahresvertrag über 94 Millionen Dollar aus, zu dieser Zeit ein absoluter No-Brainer. Carter war populär wie eh und je in der Stadt, hatte sogar einen eigenen Club, den vor allem die gastierenden NBA-Stars gerne frequentierten.

In den Folgejahren machte sich jedoch ein gewisser Verschleiß bemerkbar, über drei Saisons verpasste Carter über 70 Spiele, auch in den Playoffs 2002 konnte er nicht auflaufen. Jenes Spiel 7 in Philadelphia sollte tatsächlich Carters letztes Playoff-Spiel für die Kanadier gewesen sein, auch weil Carter nun unzufrieden war und seinen Abgang aus Toronto forcierte.

Das zeigte sich mit deutlicher Lustlosigkeit, der einstige 25-Punkte-Scorer legte nur noch 16 Zähler im Schnitt auf und spielte aufreizend locker. Schon im Sommer 2004 rankten sich zahlreiche Gerüchte um einen Trade, im Dezember erfüllten die Raptors ihrem Star dann seinen Wunsch, auch wenn sie im Prinzip nichts aus New Jersey zurückbekamen.

Seither war der einstige Liebling ein rotes Tuch in Toronto, erst mit fast 15 Jahren Abstand bekam Carter statt eines gellenden Pfeifkonzerts wieder Standing Ovations.

Die Fans der Toronto Raptors waren lange nicht gut auf Vince Carter zu sprechen.getty

Vince Carter: Keine einzige Teilnahme an den Conference Finals

Doch auch mit einem zukünftigen Hall of Famer wie Jason Kidd wollte sich der Erfolg nicht einstellen, die Nets kamen nie über die zweite Runde der Playoffs hinaus. Auch das ist die Geschichte von Carters Karriere, nie erreichte er mit einem seiner Teams die Conference Finals.

2007 wurde Carter letztmals All-Star, in der Folge ging es mit seiner Karriere stetig bergab. Zu oft fehlte die Konstanz in den eigenen Leistungen, auf 40 Punkte konnte eine völlig farblose Partie folgen. Weder in Orlando noch in Phoenix trug der alternde Star zum Erfolg bei, stattdessen läutete seine Unterschrift in Dallas, dem damaligen Champion, seine Wandlung zum vorbildlichen Veteranen ein.

Mit inzwischen 34 Jahren zählte er zu den älteren Spielern, viele neue Stars erlebten den Toronto-Hype um Vinsantity in ihrer Kindheit und sahen in Carter eine Art Vorbild. Er selbst darf auch als mahnendes Beispiel angesehen werden, schließlich ließ er gefühlt viel auf dem Tisch liegen.

Immer mal wieder blitzte das Talent auf, nicht zuletzt in den Playoffs 2014, als Carter in Spiel 3 für die Mavs einen Gamewinner traf und Dallas den späteren Champion aus San Antonio in Runde eins an den Rande einer Niederlage brachte (3-4).

Eine zweite Karriere als Lehrmeister

In Dallas, Memphis, Sacramento und zuletzt eben Atlanta war Carter einerseits ein wertvoller Veteran, andererseits aber auch ein Mentor, der junge Spieler auf die große NBA-Welt vorbereiten sollte. "Er ist humorvoll und hat mit allen Spielern eine Verbindung, weil sie mit ihm aufgewachsen sind", erklärte Mavs-Besitzer Mark Cuban die Mentor-Rolle von Carter.

Einer von Carters Zöglingen in Dallas war Jae Crowder, kein besonders talentierter Spieler, der sich aber über die Jahre durch seine Professionalität zu einem hervorragenden Rollenspieler in Utah, Memphis und nun Miami entwickelt hat. "Er hat mir beigebracht, was es heißt, professionell zu sein", berichtete Crowder. "Wir werden nicht immer unseren Willen bekommen, er weiß das wie kein anderer."

Hierfür bekam Carter viel Respekt, eben weil er nicht wie andere verzweifelt auf Ringjagd ging, sondern lieber sein Wissen an die jüngere Generation weitergab. So verlängerte VC seine Laufbahn wie niemand vor ihm.

Reicht es für die Hall of Fame?

Doch was war es, was Carter antrieb, mit über 40 Jahren noch immer bei schlechten Teams den harten Alltag in der Regular Season zu bewältigen? "Wenn man sagt: 'Wie alt ist der nochmal? Oh, er sieht so aus, als könne er immer noch spielen.' Das ist ein Gefühl wie ein Meistertitel", erläuterte Carter nach seinem vermeintlich letzten Spiel gegen die Knicks,

"Weil du jede einzelne Nacht gegen einen anderen jungen Typen spielst und die dann sagen: 'Mann, erklär mir, wie du das machst. Es sieht so aus, als könntest du noch ein paar Jahre spielen.' Das ist wie der Gewinn einer Meisterschaft in meinem Kopf."

Doch reicht das für die Hall of Fame? Vermutlich schon, nicht zuletzt wegen seiner Jahre in Toronto. Carters Portfolio beinhaltet 25.728 Punkte (Platz 19), acht All-Star-Teilnahmen (dreimal erhielt er die meisten Fan-Stimmen), ein All-Second-Team und ein All-Third-Team sowie den Triumph beim Dunk Contest. Das ist wenig, bedenkt man, wie unaufhaltsam Carter in den ersten vier, fünf Jahren seiner Karriere war.

Kommt nun die dritte Karriere?

Man wird das Gefühl nicht los, dass Half-Man, Half-Amazing die besten Jahre seiner Laufbahn verschwendet hat und nie der dominante Spieler wurde, zu dem er aufgrund seiner athletischen Fähigkeiten im Stande gewesen wäre.

Was hingegen niemand messen kann, ist die Pionierarbeit, die er in Toronto geleistet und damit das Spiel positiv beeinflusst hat. Er wird das weiterhin tun. Schon im Sommer 2019 kommentierte Carter für TNT Spiele der Summer League, dazu betreibt er für The Ringer zusammen mit Ex-Teamkollege Kent Bazemore einen erfolgreichen Podcast, bei denen zahlreiche Spitzensportler zu Wort kommen.

Carter scheint seinen Frieden gefunden zu haben, auch ohne Ring und sonstigen Team-Erfolgen. Seine Liebe für den Basketball sowie seine Führungsqualitäten stellte er erst unter Beweis, als es eigentlich schon zu spät war. Aber wie heißt es so schön: Lieber spät als nie!