LeBron James steht nicht im Verdacht, keine großen Playoff-Spiele oder -Momente auf dem Kerbholz zu haben. Das "48 Special" gegen die Pistons, das epische Game 6 in Boston 2012, der (eine) Game-Winner gegen Toronto, natürlich die drei gewonnen Finals, inklusive "The Block" und dem Comeback nach 1-3-Rückstand 2016. Die Liste ließe sich noch lange weiterführen.
Sein Auftritt am 31. Mai 2018 schien sich weit oben auf dieser Liste einzuordnen. In gewisser Weise arbeitete LeBron sogar an seinem größten Trick: Hier waren die Cavs, zu Gast bei den übermächtigen Warriors, ohne Kyrie Irving, als einer der größten Underdogs der jüngeren Finals-Geschichte. Und sie waren auf dem besten Weg, den Heimvorteil zu klauen.
James kontrollierte das Geschehen in einzigartiger Manier, hielt das Tempo niedrig und attackierte die Warriors immer wieder, war nicht zu stoppen. The Ringer-Chef Bill Simmons bezeichnete seine Leistung später als "beste, die ich je persönlich gesehen habe", und es ließen sich tatsächlich nur schwer individuell bessere Spiele finden. 51 Punkte, 8 Rebounds und 8 Assists sprechen für sich.
George Hill verfehlte den zweiten Freiwurf
Die Schlussminute meinte es jedoch nicht gut mit LeBron. 36 Sekunden vor dem Ende nahm er ein Offensivfoul von Kevin Durant an, dieser Call wurde jedoch ungewöhnlicherweise korrigiert. Statt Ballbesitz und Führung für Cleveland glich KD an der Linie aus. James brachte die Cavs per Layup wieder in Führung, 23 Sekunden vor Schluss konterte Stephen Curry jedoch mit einem And-1.
Mit nur noch vier Sekunden auf der Uhr ging dann George Hill an die Freiwurflinie, traf seinen ersten und glich die Partie damit erneut aus. Ein weiterer Freebie stand an, hätte die Führung bedeutet. Hill verfehlte, wurde aber gerettet - denn den Rebound schnappte sich J.R. Smith. Dummerweise war der Swingman jedoch der einzige Mensch in der Halle, der nicht wusste, was nun zu tun war.
Statt zu versuchen, selbst zu scoren oder einen Mitspieler zu finden, dribbelte Smith raus, um die Uhr runterlaufen zu lassen - die Verzweiflung von James in diesem Moment wurde festgehalten und ist bis heute ein Meme.
J.R. Smith kannte den Punktestand nicht
"Ich kann nicht sagen, dass ich in dem Moment sicher mit irgendwas war", sagte Smith Tage später. Das war zu sehen, obwohl er direkt nach dem Spiel noch sagte, er habe Bescheid gewusst und eigentlich nur auf eine Auszeit von Coach Tyronn Lue gewartet.
Die Geschichte danach ist bekannt: Die Cavs verloren ihre einzige Chance in der Serie in der Overtime, LeBron schlug vor Wut so fest auf eine Tafel ein, dass er sich die rechte Hand verletzte (angeblich sogar brach). Danach kreierte er noch ein Meme, als er eine Pressekonferenz abrupt abbrach, weil er nicht über den Gemütszustand von Smith sinnieren wollte.
Der definierende Moment für J.R. Smith?
Golden State sweepte sich zum Titel, im Sommer verfrachtete James seine Talente nach L.A. Sein potenzielles Meisterwerk in Spiel 1 der Finals 2018 verkam zu einer Erinnerung unter vielen.
Nicht jedoch für Smith - der Fehler an diesem Tag wird für viele auf ewig der Moment sein, der als erstes mit dem Namen "J.R. Smith" in Verbindung gebracht wird. Das schien der damals 32-Jährige auch bereits zwei Tage danach zu ahnen. "Ich habe direkt nach dem Spiel gesagt, dass ich froh bin, dass es mir passiert ist und niemandem sonst in meinem Team", sagte Smith.
"Es ist hart, in so einer Situation zu sein, und nicht jeder wäre in der Lage, mit so etwas umzugehen." Das hörte sich zwar auch damals schon ein wenig kurios an, kam jedoch nicht von ungefähr. In gewisser Weise schien Smith tatsächlich prädestiniert für genau so einen Moment zu sein.
J.R. Smith warf mit Suppe nach einem Coach
Während man bei LeBron die großen Playoff-Momente aufzählen kann, ist es bei Smith eine Aufzählung anderer Ereignisse: Mehrfach musste er Geldstrafen zahlen, weil er Gegenspielern die Schnürsenkel zuband, er verstieß gegen die Anti-Drogen-Richtlinien der Liga, wurde suspendiert, weil er Cavs-Assistant Coach Damon Jones mit einer Schüssel Tortilla-Suppe beworfen hatte.
Auch sportlich war sein Fehler von Spiel 1 nicht der einzige Nennenswerte, auch im Trikot der Knicks hatte Smith mal den Score vergessen und ironischerweise abgedrückt, statt die Uhr herunterzuspielen, wodurch New York noch verlor. Smith schaffte es jedoch stets, sich von solchen Dingen nicht allzu sehr aus der Bahn werfen zu lassen.
"Ich war schon immer derjenige, der die Zielscheibe des Gespötts war oder der irgendetwas Verrücktes gemacht hat", sagte Smith nach Spiel 1. "Ich komme einfach zurück, bleibe ich selbst und spiele am nächsten Tag wieder. Ich halte mich nicht zu sehr mit den Dingen auf. Das war schon mein ganzes Leben so, und dabei soll es auch bleiben."
J.R. Smith: Der bessere Sündenbock
Smith hatte bei aller Schrägheit stets ein dickes Fell und ein Selbstvertrauen, das offenkundig schwer zu erschüttern war. Er wusste, dass er sich das Vertrauen LeBrons zuvor verdient hatte, dass Cleveland den 2016er Titel wohl nicht ohne ihn geholt hätte (wer stellte sich Iguodala nochmal vor "The Block" in den Weg?), dass sein Talent ihn vorher zu einem Sixth Man des Jahres gemacht hatte.
Vielleicht ahnte er auch, dass es ohnehin keine große Rolle spielen würde, was er dazu sagte - dass es angesichts des Ausmaßes seines Aussetzers niemanden interessierte, dass es Hill war, der den Freiwurf verfehlt hatte oder dass noch eine Verlängerung zu spielen war. Der bunte Vogel Smith war augenscheinlich ein interessanterer Sündenbock als der biedere Hill.
Die Karriere-Stats von J.R. Smith
Team | Von...Bis | Spiele | Punkte | FG% | 3FG% |
New Orleans | 2004-2006 | 131 | 9,2 | 39,4 | 31,6 |
Denver | 2006-2011 | 372 | 13,7 | 43,8 | 38,2 |
New York | 2011-2015 | 213 | 15,1 | 41,6 | 36,9 |
Cleveland | 2015-2019 | 255 | 10,3 | 40,1 | 38,1 |
J.R. Smith wartet noch immer auf einen neuen Job
Was er damals sicherlich nicht ahnte, ist hingegen der weitere Verlauf seiner eigenen Karriere. Bis heute hat Smith nur 14 weitere NBA-Spiele absolviert. Sein Trade-Wunsch nach LeBrons Abgang fand kein Gehör, weil er mit 14,7 Mio. Dollar Gehalt schlicht und einfach zu teuer war. Im Juli 2019 wurde er dann entlassen, fand bisher aber trotz einiger Workouts kein neues Team.
Sollte es für den 34-Jährigen dabei bleiben, wäre der Aussetzer in Spiel 1 sein letzter wirklich signifikanter NBA-Moment. Eigentlich schade für einen der unterhaltsamsten Spieler seiner Zeit, der zwischen 2004 und 2018 nach Curry und Kyle Korver die drittmeisten Dreier traf, heiß laufen konnte wie kaum ein Zweiter und nebenher mit Rihanna feiern ging oder biertrinkend auf einem Hoverboard durch NBA-Hallen tuckerte.
Man könnte indes auch sagen: Vielleicht war es kein komplett unpassender Abschluss.