Rund zwei Drittel der Regular Season sind absolviert und so langsam richtet sich der Fokus auch auf die Awards. Insbesondere das MVP-Rennen könnte in dieser Saison spannend werden wie selten. Above the Break blickt auf das Für und Wider bei allen Kandidaten.
Die Trade Deadline ist Geschichte, auch der Buyout-Markt hat sich schon fast komplett sortiert und deutlich mehr ist nun absehbar, welche Teams für den Rest der Saison welchen Weg einschlagen. Es gibt zwar noch keine Gewissheit über den finalen Contender-Kreis, aber es gibt Tendenzen; und es gibt weitere Teams, bei denen entweder via Ausverkauf (Orlando), Inkompetenz (Houston) oder "Schonung" (OKC) sichergestellt wurde, dass die restliche Spielzeit an der Tankstelle verbracht wird.
Es gibt gleichzeitig aber auch ein MVP-Rennen, das erst jetzt so richtig Fahrt aufnimmt und das knapp anderthalb Monate vor dem Ende der Regular Season mehr legitime Kandidaten beinhaltet als in anderen Jahren. Im Teilnehmerkreis ist für jeden etwas dabei - und es gibt keinen Kandidaten wie Giannis Antetokounmpo in der Vorsaison, dessen Case fast schon unwiderlegbar daherkommt.
Das diesjährige Rennen ist von den besonderen Umständen der Spielzeit inmitten von Corona geprägt, es ist in vielerlei Hinsicht Narrativ-gesteuert, es wird am Ende wie immer auf die Definition des einzelnen Wählers ankommen - nur eben noch viel mehr als sonst. Kein Kandidat tritt ohne klar erkennbaren Makel an, das macht das Ganze so faszinierend.
Wir verzichten hier stattdessen auf ein klassisches Ranking (die Sortierung ist kein Power Ranking!), sondern blicken einmal auf den Case und den Gegen-Case bei den wichtigsten MVP-Anwärtern. Es geht nicht um eine Komplettdarstellung jedes einzelnen Spielers, sondern um den Versuch, zu identifizieren, welche Stärke (Calling Card) oder Schwäche (Achillesferse) dafür sorgen wird, dass der jeweilige Spieler MVP wird oder nicht.
Und noch ein Zusatz: Wir beschränken uns für den Moment auf sieben Spieler, räumen aber ein, dass ein Luka Doncic, wenn Dallas 80 Prozent seiner restlichen Spiele gewinnt und er dabei 34, 12 und 8 im Schnitt auflegt, die Party theoretisch natürlich noch sprengen könnte. Aber das sehen wir dann.
Kandidat Nr. 1: Joel Embiid (Philadelphia 76ers)
Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
31 | 29,9 | 65 | 11,5 | 3,3 | +13,6 |
Die Calling Card: Wäre die Saison durch die All-Star Break beendet gewesen, Embiid hätte vermutlich die besten Karten gehabt. Der Kameruner ist der eindeutig beste Spieler des der Bilanz nach besten Teams im Osten, und mit ihm im Lineup sind die Sixers kaum zu schlagen (von 31 Spielen mit Embiid wurden nur sieben verloren).
Seine Zahlen sind offensiv wie defensiv beeindruckend, sein Player Efficiency Rating (31,6) wäre Stand jetzt das zehnthöchste der NBA-Geschichte, und unter den Superstars der NBA haben aktuell nur LeBron James und Stephen Curry laut Cleaning the Glass ein höheres Point Differential als Embiid (+13,6).
Narrativ-Bonus: Der letzte Center, der den Award gewonnen hat, war Shaquille O'Neal im Jahr 2000.
gettyDie Achillesferse: Langweilig, aber was will man machen: Embiid hat von den ersten 30 Spielen der Saison, also bis zum All-Star Weekend, nur sechs verpasst, was für seine Verhältnisse vollkommen im Rahmen war. Nun fällt er mit Knieproblemen allerdings schon länger aus und irgendwann wird, auch in dieser Covid-Saison, ein Punkt erreicht, an dem zu viele verpasste Spiele schlichtweg zu einer de facto-Disqualifikation führen.
Historisch gab es zwar das legendäre MVP-Jahr von Bill Walton, in dem dieser bloß 58 von 82 Spielen absolvierte, aber das ist über 40 Jahre her; über die letzten Jahrzehnte waren die elf Spiele, die Allen Iverson 2000/01 verpasste, schon das Maximum. Embiid steht jetzt schon bei 15 und die Sixers wären verrückt, wenn sie sein Comeback überstürzen würden. Schade eigentlich, denn sportlich gab es kaum ein Argument gegen ihn.
Kandidat Nr. 2: LeBron James (Los Angeles Lakers)
Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
41 | 25,4 | 60,5 | 7,9 | 7,9 | +14,3 |
Die Calling Card: In den Playoffs hat der King ein weiteres Mal bewiesen, dass er noch immer der beste Spieler der Liga ist, wenn es darauf ankommt. In der laufenden Spielzeit reduzierte er zwar für seine Verhältnisse seine Spielzeit (Career Low 33,9 Minuten), stand über die ersten 42 Partien aber mit nur einer Ausnahme immer zur Verfügung und kontrollierte das Spielgeschehen wie eh und je.
Im zarten Alter von 36 Jahren ist LeBron der MVP-Kandidat mit dem besten Point Differential (+14,3) - die einzigen beiden Spieler, die in dieser Kategorie vor ihm stehen und wenigstens 1000 Minuten absolviert haben, sind die Spurs-Reservisten Patty Mills (+14,6) und Rudy Gay (+17,3!). Entsprechend rührten die Lakers vor kurzem schon mal wieder sehr lautstark die Werbetrommel.
Narrativ-Bonus: Es ist acht Jahre her, dass der beste Spieler seiner Generation zum MVP gewählt wurde. In diesem Alter und mit diesen Meilen auf dem Tacho war noch nie jemand so gut wie er.
Die Achillesferse: Auch bei James hat sich das Verletzungspech in Form einer Knöchelverletzung gemeldet, zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren wird er mehrere Wochen ausfallen und damit womöglich die Chance auf den fünften MVP-Award verlieren. Bisher sind es sechs Spiele, auch bei den Lakers ist aber oberste Vorsicht geboten. Es geht schließlich um mehr als die Regular Season.
Dass die Lakers in den Spielen ohne den ebenfalls verletzten Anthony Davis ihre schlafwandlerische Dominanz der ersten Saisonwochen nicht beibehalten konnten, ist ebenfalls eher negativ zu sehen. Und noch ein Zusatz: Abgesehen vom Point Differential kann LeBron mit den Statistiken einiger anderer Kandidaten nicht mithalten. Auch wenn das bis zu seiner Verletzung viele Experten nicht zu stören schien, die ihn sehr gerne mal wieder als MVP sehen wollten.
Kandidat Nr. 3: Nikola Jokic (Denver Nuggets)
Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
47 | 26,8 | 64,9 | 11,1 | 8,5 | +8,7 |
Die Calling Card: Einer dieser Kandidaten wäre Jokic, der Stand jetzt unter anderem das beste Single-Season-PER der NBA-Historie (31,95) sein Eigen nennt. Diese Statistik ist natürlich nicht unfehlbar, Giannis Antetokounmpo hat dieser Zusatz vergangene Saison allerdings nicht geschadet, als er den alten Rekord von Wilt Chamberlain übertraf. Und Jokic spielt nicht nur in dieser Hinsicht eine der besten Offensiv-Saisons der Geschichte.
Der Serbe scort effizient und von überall, er verankert eine einzigartige Offense - und er ist, je nach Definition, entweder der beste Passing Center der Geschichte oder der beste übergroße Point Guard der Liga. Und: Er hat in dieser Saison bisher kein einziges Spiel verpasst.
Narrativ-Bonus: Siehe Embiid.
Die Achillesferse: Jokic ist defensiv mittlerweile nicht mehr der Blob vergangener Tage, aber ein guter Defensiv-Anker ist er auch nicht; dafür ist er zu langsam, zu sehr an die Schwerkraft gebunden. Nicht aus Zufall stehen die Nuggets beim Defensiv-Rating bloß auf Platz 22, wobei die Verpflichtung von Aaron Gordon hier vermutlich helfen dürfte.
Generell muss man sagen: Die Team-Performance ist das beste Argument gegen Jokic, wenn man eins sucht. Denver hat auch aufgrund diverser Corona-Ausfälle "nur" 60,9 Prozent seiner Spiele gewonnen, das reicht üblicherweise nicht für den MVP (es sei denn, man legt ein Triple-Double auf). Allerdings spricht das Point Differential (Platz 5: 5,2) dafür, dass die Nuggets eigentlich besser sind als ihre Bilanz.
gettyKandidat Nr. 4: Giannis Antetokounmpo (Milwaukee Bucks)
Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
43 | 28,4 | 62,2 | 11,4 | 6,3 | +12,1 |
Die Calling Card: Man kennt es aus den letzten beiden Jahren: Giannis ist der klar beste Spieler eines der besten Teams der Liga, seine Statistiken passen gut zu denen aus dem Vorjahr und neben Embiid ist er ohne Zweifel der Spieler auf dieser Liste mit dem größten defensiven Day-to-Day-Impact.
Narrativ-Malus: Es geht nicht nur positiv ... drei Spieler haben in der NBA-Historie drei MVPs in Folge gewonnen (Bill Russell, Wilt Chamberlain und Larry Bird). Sie alle haben innerhalb der ersten beiden Jahre wenigstens einmal den Titel gewonnen. Giannis? 2019 scheiterte Milwaukee knapp an Toronto, 2020 setzte es schon in der zweiten Runde ein chancenloses Aus gegen Miami.
Die Achillesferse: Bleiben wir einfach beim Narrativ, denn das steht ihm für eine Wiederwahl definitiv mehr im Weg als sportliche Probleme wie beispielsweise sein Distanzwurf. Giannis spielt eine MVP-würdige Saison, die Wähler werden es sich aber gut überlegen, ob sie ihn - nachdem Michael Jordan und LeBron es beispielsweise nicht geschafft haben - mit auf die MVP³-Liste setzen.
Kandidat Nr. 5: Damian Lillard (Portland Trail Blazers)
Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
44 | 29,8 | 62,2 | 4,3 | 7,8 | +5,4 |
Die Calling Card:Dame hat die Blazers auch in den Zeiten auf Kurs gehalten, in denen seine Co-Stars Jusuf Nurkic und C.J. McCollum jeweils ausfielen. Vor allem ist Lillard so etwas wie der Clutch-Gott dieser Saison: Der Point Guard führt die Liga mit 135 Clutch-Punkten an, hat in dieser Zeit:
- Eine Usage-Rate von 36,3 Prozent,
- Eine True Shooting Percentage von 77,7 Prozent,
- Ein Net-Rating von +31,3,
- Und eine Freiwurfquote von 100 Prozent (43/43).
Nichts davon ergibt einen Sinn! Lillards Crunchtime-Heldentaten machen für Portland vereinfacht gesagt den Unterschied zwischen Heimvorteil- und Play-In-Hoffnung aus. Mit einem negativen Point Differential haben die Blazers dieselbe Bilanz wie Denver. Dame Time und so.
Narrativ-Bonus: DAME TIME!!! (Eigentlich reicht das, aber vielleicht noch das hier: Lillard durfte beim All-Star Game nicht starten. Er ist noch immer underrated.)
Die Achillesferse: Die Probleme von Jokic treffen auf Lillard und die Blazers in noch stärkerer Form zu. Portland hat die zweitschlechteste Defense der NBA und auch wenn man von Lillard aufgrund seiner Offensiv-Last und seiner Statur nicht erwarten kann, dass er das fixt: Eine Hilfe ist er bei diesem Problem nicht. Die Blazers sind als Team im Normalfall zu schwach, um den MVP zu stellen.
Kandidat Nr. 6: Kawhi Leonard (L.A. Clippers)
Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
40 | 26,0 | 62,1 | 6,3 | 4,9 | +12,1 |
Die Calling Card: Die Clippers haben den Heimvorteil fest im Visier und ihr bester Spieler legt in Sachen Effizienz das beste Jahr seiner Karriere hin. Leonard ist seit Jahren einer der besten Two-Way-Player der NBA, beim MVP-Voting landete er bereits dreimal in der Top 5, der Award fehlt aber noch.
Narrativ-Malus: Klingt blöd, aber die Clippers haben, vor allem nach dem Kollaps in den 2020er Playoffs, absolut keine Lobby.
Die Achillesferse: Das Load Management ist es in diesem Jahr nicht zwingend, auch wenn Kawhi immerhin schon neun Spiele verpasst hat. Auch das Clutch-Problem in L.A. zählt nicht an erster Stelle. Schon eher: Die größte Stärke der Clippers in dieser Saison ist die sensationelle Dreierquote von 41,9 Prozent. Kawhi trägt dazu bei, aber er sticht individuell nicht so heraus wie viele der anderen Kandidaten.
Kandidat Nr. 7: James Harden (Brooklyn Nets)
Team | Spiele | Punkte | TS% | Rebounds | Assists | Point Differential |
Rockets | 8 | 24,8 | 61,3 | 5,1 | 10,4 | -10,8 |
Nets | 32 | 26,4 | 61,6 | 8,9 | 11,4 | +4,0 |
Die Calling Card: Alles, was Harden seit seinem Wechsel nach Brooklyn macht, schreit nach MVP: Er ist der aktuell beste Playmaker der Liga, er spielt vorbildlichen Teambasketball, er steht immer zur Verfügung, er scort effizient, er hält die Nets auch dann auf Kurs, wenn seine Co-Stars Kevin Durant (nur sieben Spiele mit Harden) und Kyrie Irving mal ausfallen.
Harden hat jetzt 32 Spiele mit den Nets absolviert und nur sieben davon verloren. Wer aufgepasst hat, richtig: Das ist bereits ein Spiel mehr, als Embiid für Philly auf dem Court stand. Wenn man Embiid als Kandidaten aufführt, kommt man an Brooklyn-Harden ergo eigentlich nicht vorbei. Eigentlich.
Narrativ-Malus/Achillesferse: Kann man in einer Saison für ein Team MVP werden, in der man für ein anderes Team LVP (Least Valuable Player) war?
Bauen wir das Ganze mal aus, weil es am Ende entscheidend sein könnte. Harden hat sich mittlerweile mehrfach dafür entschuldigt, wie seine Zeit in Houston zum Ende kam, aber reicht das? De facto steht Houston auch dank ihm vor einem Scherbenhaufen, was durch den Trade von Victor Oladipo nach Miami nicht besser geworden ist, auch wenn Rafael Stone das anders sieht.
Dass Harden sich bei den Nets wie ein Musterprofi verhält, ist nur deshalb möglich, weil er sich bei den Rockets zuvor gegenteilig verhielt und die Saison der Rockets damit von Anfang an torpediert hat. Es haben auch schon andere Stars ihre Ex-Teams in schwierige Situationen gebracht und Trades forciert, selbst wenn das in der Offseason passierte, wurden diese dann aber selten gleich in Jahr eins mit Awards überhäuft (selbst LeBron hatte 10/11 eine Pause).
Für einen erzwungenen Trade während der Saison, der dann zum MVP führte, gibt es keinen Präzedenzfall. In einem normalen Jahr wäre Harden daher für viele Wähler von Anfang an disqualifiziert, vielleicht ist er das auch in diesem alles andere als normalen Jahr. Die Verletzungen der in den Augen vieler Topfavoriten haben das Fenster jedoch zumindest geöffnet.
Sportlich gibt es keinen Zweifel daran, dass Harden für die Nets wie ein MVP agiert. Das Faszinierende und manchmal auch Frustrierende am MVP-Award ist nur, dass sportliche Kriterien bei weitem nicht die einzigen sind. Das macht das Rennen in diesem Jahr besonders spannend und jetzt, wo knapp zwei Drittel der Saison rum sind, zu einer sehr persönlichen Angelegenheit.