Die Orlando Magic gehören zu den schlechtesten Teams der Liga und planen langsam bereits für den nächsten hohen Draft-Pick - oder? Warum nahe von Disney World trotzdem gerade eins der spannendsten Experimente der Liga stattfindet - und welche Rolle Franz Wagner dabei spielt.
Auf den ersten Blick stehen die Magic aktuell da, wo sie hingehören: Mit einer 2-9-Bilanz am Ende der Eastern Conference. Sie sind ein sehr junges Team, das dazu auch noch diverse Ausfälle hat, allzu viel kann und sollte man da nicht erwarten. Außerdem hat die Organisation sicherlich ohnehin nichts gegen den nächsten hohen Draft-Pick, oder?
Vielleicht - und trotzdem wird diese Sichtweise den jungen Magic nicht so ganz gerecht. Es entsteht etwas in Orlando. Es sieht so langsam nicht mehr nach einem Rebuild im Frühstadium aus, wo einfach nur Talent gehortet und ohne Ambitionen drauf los gezockt wird. Es gibt einen Plan - und es gibt regelmäßig Momente, in denen man in die Zukunft blicken kann.
Momente wie diese beispielsweise: Wenn Franz Wagner im Pick'n'Roll seinen nominellen Center Wendell Carter Jr. für den Alley-Oop findet und dieses klassische Guard-Big-Play von den beiden größten Spielern auf dem Court (beide 2,08m) gelaufen wird ...
nba.com/stats... oder wenn sich Bol Bol mit seinen 2,18m hinten den Rebound schnappt und innerhalb von fünf Dribblings den Coast-to-Coast-Layup auf der Gegenseite im Korb unterbringen kann ...
nba.com/stats... oder wenn Lineups auf dem Court stehen, in denen Terrence Ross mit seinen 1,98m der mit Abstand kleinste Spieler seines Teams ist. Auch aus der Not geboren, klar, aber in drei Spielen starteten die Magic mit Ross, Wagner, Carter Jr., Bol und Nr.1-Pick Paolo Banchero, ebenfalls 2,08m groß. Bei der Länge der Gliedmaßen ist dieses Team jetzt schon Ligaspitze!
Orlando Magic: Ein positionsloses Team
In Orlando entsteht nach und nach ein positionsloses Team voller großer Spieler, die dribbeln, passen und werfen können, die Mismatch-Albträume am Fließband kreieren ... und die einen Ausblick darauf geben, wie NBA-Basketball in der Zukunft aussehen könnte.
Ist das einfach riesiger Small-Ball? Oder vielleicht eher, wie es schon die letzten Jahre über eher angebracht gewesen wäre, Skill-Ball - nur mit größeren Spielern? Es ist in jedem Fall ein sehr spannendes Experiment, bei dem beileibe noch nicht alles funktioniert, das aber trotzdem zum Träumen anregt.
Es gibt bereits eine "gute" Version so eines positionslosen Teams: Die Toronto Raptors. Ein Team, bei dem fast jeder den Ball nach vorne dribbeln kann und das im Fastbreak dominiert, nicht zuletzt deshalb, weil automatisch so viele Cross-Matches kreiert werden. Ein Team, das defensiv an seinen besten Tagen unheimlich eklig ist, alle möglichen Coverages beherrscht, kreativ gecoacht wird und (mindestens) ein Stolperstein für jedes Team sein kann.
Orlando: Work in Progress
Die Magic sind da noch lange nicht. Defensiv ist Orlando an manchen Tagen immerhin schon mittelmäßig, was auch daran liegt, dass ihre schiere Länge den Court in gewisser Weise einfach schrumpfen lässt. Viele ihrer Spieler sind trotz der Größe recht switchable, das macht es bisweilen schwer, Vorteile gegen sie zu kreieren.
Man beachte, wie wenig Platz Shai Gilgeous-Alexander hier hat und wie klein die Fenster für Pässe sind - das passiert, wenn ein langarmiger Guard wie Jalen Suggs der einzige "Kleine" auf dem Court ist. Wenn die Spieler dann auch noch beweglich sind, muss das gegnerische Team schon sehr präzise agieren ...
nba.com/statsBisher sind solche Szenen und Phasen allerdings noch nicht konstant zu sehen, obwohl die Magic vergangene Saison nach dem All-Star Break sogar das elftbeste Defensiv-Rating hatten. Aktuell stehen sie auf Platz 23. Das liegt auch daran, dass die Defense oft sehr schnell einbricht, sobald einer oder mehrere Starter den Court verlassen. Konstanz ist wenig überraschend ein recht großes Problem.
Ein Spieler könnte hier theoretisch Abhilfe schaffen - denn die Magic haben sogar noch einen weiteren dieser großen Do-it-All-Forwards in der Hinterhand, der, als er zuletzt wirklich fit war, zu den besten Verteidigern der Liga gehörte. Ob Jonathan Isaac dieses Niveau nochmal erreicht, wenn er denn eines Tages wieder spielt, ist nach über zwei Jahren ohne NBA-Spiel (und einem Abdriften in verschwörungstheoretische Kreise) allerdings vollkommen unklar. Isaac ist ein Mysterium.
Magic-Hype: Nicht nur Banchero ist wichtig ...
Offensiv ist Orlando mit dem derzeit 21.-"besten" Offensiv-Rating gefühlt sogar noch weiter vom Status der Raptors entfernt. Das ist allerdings auch aus mehreren Gründen erklärbar, und es muss nicht so bleiben - Orlando hat absolut das Potenzial, ähnliche Probleme zu verursachen wie Toronto. Nur eben mit größeren und vielleicht - zumindest im Halbfeld - sogar talentierteren Einzelspielern.
Banchero ist in dieser Hinsicht der Headliner, verständlicherweise. Der Rookie sieht nicht nur aus wie der größte und stärkste Spieler der NBA, er scort auch mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit und legte schon über seine ersten elf NBA-Spiele All-Star-Zahlen auf (mehr zu Banchero in der baldigen Rookie Watch!). Banchero könnte der Typ Franchise Player sein, auf den Orlando seit Dwight Howard gewartet hat.
Und trotzdem: Langfristig fast ebenso interessant, weil elementar, ist Wagner. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass er momentan derjenige ist, der all die Sachen irgendwie abdecken muss, die dem jungen Team eigentlich noch fehlen.
Wagner gehört zu den talentiertesten Off-Ball-Spielern der Liga. Derzeit sammelt er jedoch vor allem On-Ball-Erfahrungen in Orlando, was unter anderem daran liegt, dass zwei der drei Leistungsträger unter den Guards (Markelle Fultz und Cole Anthony) verletzt sind und der dritte (Suggs) auch schon Spiele verpasste (und weiter sehr wechselhaft agiert).
Es gibt also eine klaffende Playmaking-Lücke, das deutete sich auch schon vor der Saison an, und Wagner ist derjenige, der sie am meisten füllt. Das bringt einige erwartbare Probleme mit sich, die Magic sind beispielsweise eine Turnover-Maschine und sie haben Schwierigkeiten damit, Spiele zum Ende zu bringen. Oft fehlt die Ordnung, das sollte allerdings niemanden verwundern, schließlich ist Wagner kein gelernter Point Guard, sondern aktuell eine Art Autodidakt. Er betreibt Learning by Doing, gewissermaßen.
Gemessen daran sind die Resultate sogar absolut vielversprechend. Wagner nutzt momentan 6,6 Pick'n'Roll-Plays pro Spiel (er schließt sie also entweder per Wurf, Pass zum Wurf oder Ballverlust ab), fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Die Magic machen 0,98 Punkte pro Play daraus, damit steht er vor sehr vielen gelernten Point Guards und auch "Point Forwards" (insgesamt 72. Perzentil) - als Spieler, der offensiv mal als Typ Rollenspieler eingestuft wurde. Das ist verdammt stark!
nba.com/statsFranz Wagner: Die Magic sind abhängig
Zumal: Einerseits werden die Fehler, die er jetzt macht, ihm langfristig helfen. Und andererseits dürfte auch das Teamgefüge noch verbessert und optimiert werden. Durch einen zusätzlichen Guard und Decision-Maker, der auch dafür sorgen könnte, dass Wagner nicht ständig Guards verteidigen und dabei zusätzlich Kraft lassen müsste.
Und generell natürlich durch Spacing. Orlando trifft 32,4 Prozent von draußen, das reicht für Platz 27. Die Magic nehmen auch nicht allzu viele Dreier. Während wir über Hochkaräter im Backcourt nachdenken, würde selbst die Anwesenheit des verletzten Veteranen Gary Harris offensiv wie defensiv wohl schon einige Probleme lösen.
Und dass Wagner trotzdem schon sehr viel richtig macht, zeigt sich durchaus auch bereits in den Zahlen. Mit dem Berliner auf dem Court fabrizieren die Magic ein achtbares Offensiv-Rating von 114,1 laut Cleaning the Glass. Ohne ihn? Glatte 97 Punkte pro 100 Ballbesitze ... ein Wert, der selbst bei einer Halloween-Party ZU erschreckend wäre.
Orlando Magic: Es wächst etwas zusammen
Trotzdem: All das sollte den Magic und ihren Fans Hoffnung machen. Orlando kann es sich Stand jetzt ja leisten, die Spiele zu verlieren und sich Zeit damit lassen, das richtige Gleichgewicht zu finden. Vielleicht können Fultz oder Suggs zu der Antwort reifen, auch wenn beide das Problem eint, dass sie bisher nicht wirklich werfen können. Vielleicht muss eine andere Lösung her, per Draft oder via Trade (an Assets fehlt es nicht).
Was die Magic dafür jetzt schon haben, ist Länge ... und eben Skills. Ein Frontcourt mit Wagner, Banchero und Carter hat Playmaking, Shot Creation, den Ansatz von Spacing, ein gutes Gefühl für das Spiel, was alle drei eint, und auch defensive Upside ... das ist eine Hausnummer. Und wer weiß: Wenn Bol sein derzeitiges Niveau halten kann, haben die Magic vielleicht auch den derzeit größten Flügelspieler der Liga, der momentan 77 Prozent (!) seiner Zweier trifft.
Natürlich ist die Stichprobe winzig, aber dieses Quartett dürfen wir dennoch im Auge behalten. In 218 gemeinsamen Possessions beträgt das derzeitige Net-Rating +15,6 und von Zeit zu Zeit wirkt es tatsächlich, als wüssten Gegner weder vorne noch hinten, was sie mit diesen Riesen anfangen sollen.
Die Magic sind noch kein gutes Team. Ergebnis-technisch gehören sie sogar zu den absolut schlechtesten. Das muss aber nicht mehr lange so weitergehen ... es entsteht etwas richtig Spannendes in der Nähe von Disney World.