NFL

New England sucht den "Next Man Up"

Von Sven Kittelmann
Rob Gronkowskis (2.v.r.) Kreubandriss gegen Cleveland ließ die Pats fassungslos zurück
© getty

Seit dem ersten Super Bowl-Erfolg Anfang 2002 regiert in New England die Philosophie: Jeder ist ersetzbar. Die "Next Man Up"-Devise von Patriots Coach Bill Belichick wird nach dem Kreuzbandriss von Tight End Rob Gronkowski jedoch auf eine harte Probe gestellt.

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Eigentlich hätte alles gut sein können bei den New England Patriots (10-3): Mit zwei Touchdowns von Tom Brady innerhalb von 61 Sekunden hatte das Team einen Rückstand bei den Cleveland Browns (4-9) in einen 27:26-Sieg verwandelt. Platz zwei in der AFC verteidigt, alles gut. Wenn da nicht der Kreuzbandriss von Rob Gronkowski wäre.

Nicht wenige Pats-Fans und Experten glauben nun: Ohne "Gronk" ist die Saison gelaufen - was in der Lesart der verwöhnten Bostoner Fans aber nicht etwa heißt, dass die Playoffs verpasst werden. Sondern eher, dass die nach dem Sieg über die Broncos fast schon geplante dreieinhalbstündige Fahrt zum Super Bowl nach New Jersey auf Eis gelegt werden muss.

Das System ist der Star

Die Patriots sind seit ihrem ersten Super-Bowl-Sieg vor zwölf Jahren bekannt dafür, die "Next Man Up"-Devise verinnerlicht zu haben. Coach Bill Belichick formte damals aus einem Team von No Names einen Titelträger. Negativ ausgedrückt hieße das: Jeder ist ersetzbar. Positiv könnte man es wie Berti Vogts formulieren: Der Star ist die Mannschaft. Oder in der NFL eben das Spielsystem.

Bestes Beispiel für dieses Motto war der Aufstieg des Backup-Quarterbacks Tom Brady zu einem der Besten seiner Zunft. Brady stach fortan zwar aus dem Team heraus, sein Kreuzbandriss im ersten Spiel 2008 bewies jedoch auch, dass selbst ein zukünftiger Hall of Famer in Belichiks System ansatzweise ersetzbar ist. Ersatz Matt Cassel sorgte für eine 11-5-Bilanz, das Team verpasste nur um Haaresbreite die Playoffs.

Pats ohne Gronk: schlechtestes "gutes" Team?

Trotz dieser positiven Lehren aus der Vergangenheit bekommen die Fans nach Gronkowskis erneuter Verletzung graue Haare, die Medien schreiben New Englands Saison bereits ab. Das kommt nicht von ungefähr: In den ersten sechs Spielen der laufenden Saison mussten die Pats auf den vielleicht talentiertesten Tight End der Liga verzichten. Dabei verlor man zwar nur ein Spiel, handelte sich bei so manchem Experten allerdings auch den Ruf ein, das schlechteste der "guten Teams" zu sein. Gerade die Offense um Quarterback Brady stotterte so manches Mal gehörig und schaffte im Schnitt nur 22 Punkte pro Spiel.

Die nackten Passstatistiken verdeutlichen Gronkowskis guten Einfluss auf Bradys Leistungen. Ohne den Tight End kam Brady nur bei einer von sechs Gelegenheiten über die 300-Yard-Marke, mit Gronk durchbrach er diese Schallmauer in vier von sieben Partien und scheiterten in einer weiteren um gerade mal vier Yards. Auch in Sachen Touchdowns liest sich Bradys Statistik besser: 13 in sieben Spielen, im Schnitt 1,8 pro Partie, sind es mit Gronk. Demgegenüber kommt er ohne seinen Schlüssel-Receiver auf acht TDs und einen Schnitt von 1,3. Der Punkteschnitt New Englands stieg mit Gronkowski an Bord auf 32 pro Partie.

Mix aus Kraft und Finesse

Es geht aber nicht nur um die nackten Zahlen: Seine Klasse bewies der 24-Jährige mit ungewöhnlichen Touchdowns bereits in den letzten Wochen - mal zeigte er wie gegen Houston seine Körperbeherrschung bei kunstvollen Catches, mal demonstrierte er seine unglaublich Kraft, als er gegen die Panthers gleich drei Verteidiger mit in die Endzone schleppte. Von Week 7 bis 13 führte er alle Tight Ends der Liga mit 560 Yards bei 37 Receptions an, vier Touchdowns bedeuteten Platz zwei.

Die Zahlen und die Highlights-Videos bedeuten im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Gronkowski das alleinige Ziel Bradys wäre. Vielmehr macht er alle anderen besser: Der Tight End zieht angesichts seiner Klasse meist nicht nur den üblichen Linebacker, sondern auch die Aufmerksamkeit anderer Defensivspieler auf sich. Zudem ist ein ausgezeichneter Blocker, wie seine Mit- und Gegenspieler bestätigen können. So sind drei der elf Rushing-TDs während seiner Anwesenheit auf dem Feld direkt einem Block Gronkowskis zuzuordnen, sechs weitere liefen über seine Seite.

Die Leiden des jungen Gronk

Seine Ausnahmerolle zeigte der zweimalige Pro-Bowler im Super Bowl XLVI vor zwei Jahren, als er nach seiner Knöchelverletzung nicht ganz fit wurde und mehr oder weniger als Ablenkungsmanöver fungierte. "Ich ziehe meinen Hut vor diesem Jungen, er ist hart im Nehmen", lobte damals Wide Receiver Deion Branch.

Hart im Nehmen musste Gronkowski seit dieser Verletzung auch sein, war die Saison 2011 doch der Beginn seiner NFL-Leidensgeschichte - im College hatte er eine Saison mit einer Rückenverletzung aussetzen müssen. 2012 brach er sich seinen linken Arm, erst in der regulären Saison, dann ein zweites Mal in den Playoffs.

Seit dem College hat Gronkowski nun schon fünf Operationen hinter sich, die sechste wird kommen. Mit gerade einmal 24 Jahren und vier Spielzeiten in der NFL auf dem Buckel muss man sich Sorgen um seine langfristigen Perspektiven machen. Ein Indiz dafür, dass er seine physische Spielweise ändern muss?

Next Man Up - wieder Retter der Patriots-Saison?

Ändern müssen ihre Spielweise aber zunächst einmal die Pats, wie Tom Brady gegenüber dem Radiosender "WEEI" erklärte: "Gronk gibt uns aufgrund seiner Fähigkeiten größere spielerische Freiheiten. Die Anderen müssen seine Rolle jetzt auffangen - das haben wir bereits während der letzten beiden Drives gegen Cleveland so gemacht."

Die "Next Men Up" im Falle Gronkowski sind also Fullback Develin, und die übrigen Tight Ends Matthew Mulligan, Michael Hoomanawanui und der wieder zurückgeholte D.J. Williams. Sie kommen zusammen auf 16 Receptions und einen Touchdown in dieser NFL-Saison- und sind nicht die einzigen Ersatzleute, deren Dienste in dieser Patriots-Saison gefragt sind.

Auf der Injured Reserve-Liste finden sich bereits seit einiger Zeit die Defensive Tackles Vince Wilfork und Tommy Kelly, Linebacker Jerod Mayo, Offensive Tackle Sebastian Vollmer und Safety Adrian Wilson, der schon seit der Preseason ausfällt. "Vier unserer besten sieben Spieler sind jetzt verletzt", stöhnte Edel-Fan Bill Simmons angesichts dieser Seuche am Montag. "In dieser Situation befinden wir uns das ganze Jahr schon", zitiert "masslive.com" Special Teams-Captain Matthew Slater, der betont optimistisch bleibt: "Das sagt auch eine ganze Menge über dieses Football-Team aus und über die Art, wie unsere Coaches darauf reagieren."

Zugriff auf Plan B?

Diese Coaches müssen so schnell wie möglich einen Plan B austüfteln. Jemanden wie den Tight End, so Offensive Coordinator Josh McDaniels, "kann man nicht einfach ersetzen". Doch daran sei man ja gewöhnt: "Wir haben diese Erfahrung ja bereits vorher gemacht - in den ersten sechs Spielen, in der Vorbereitung, im letzten Jahr." Damals hatten die Patriots jedoch mit Aaron Hernandez noch einen zweiten, hochwertigen Tight End - der wartet derzeit unter Mordverdacht auf seinen Prozess.

Für McDaniels geht es dabei weniger ums Personal, sondern darum, "die richtige Formel für die Dolphins in dieser Woche zu finden. Was in der nächsten Woche auf uns zukommt, interessiert mich erst nächste Woche".

Ein derartiger Zweckoptimismus gehört natürlich zum NFL-Geschäft. Vielleicht sollte man bei Head Coach Belichick zwischen den Zeilen lesen. Der ansonsten in Sachen Verletzungen nach dem Spiel sehr kurz angebundene Coach - der "Boston Globe" verglich sein Gebaren gegenüber der Presse mit der CIA - war nach dem Browns-Spiel für seine Verhältnisse geradezu redselig, als er verriet, dass sein Spieler in einer Klinik untersucht werde. Da war eine schwere Verletzung schon fast vorprogrammiert.

Welche Taktik führt zum Erfolg?

Die Qualifikation für die Playoffs dürfte am Ende nicht das Problem sein, aber im Kampf um den Two-Seed und das Freilos in der ersten Runde sind die Cincinnati Bengals (9-4) nur ein Spiel weg. Angesichts der vielen Ersatzleute - und einer ohnehin schon stark dezimierten Defensive - werden die nächsten Wochen schwer für New England.

Das Gesicht der Offensive muss sich ändern. Mulligan ("Ich habe gestern bereits eine andere Rolle gespielt.") und auch die Browns bekamen am Sonntag bereits einen Vorgeschmack darauf: Mit einer Spread-Offense und vier bis fünf Wide Receivern schafften die Patriots das Comeback. Anstatt Mulligan oder Hoomanawanui trat vor allem Shane Vereen in Erscheinung:. Der Running Back glänzte in ungewohnter Rolle als Bradys Anspielstation mit zwölf Receptions und 153 Yards.

Manchmal spielt der nächste Mann bei den Patriots eben nicht einmal auf derselben Position wie der, den er ersetzen muss.

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