Seattle im Freudentaumel: Der erste große Titel seit 35 Jahren. Souveräner kann man einen Super Bowl nicht gewinnen. Genugtuung für eine Defense, die sich in die Geschichtsbücher drängelt, und einen Coach, der seine Kritiker Lügen straft. Die gute Nachricht: Es muss noch lange nicht vorbei sein.
Der MVP konnte es immer noch nicht fassen. World Champions - und wie! "Das ist einfach unglaublich", staunte Malcolm Smith. Dass ihn die Buchmacher für diese Ehrung nicht auf dem Zettel hatten, ist noch untertrieben. Einzelne Wetten auf ihn als wertvollsten Spieler konnte man gar nicht abschließen. Hinter Russell Wilson, Marshawn Lynch und so weiter gehörte er nur zum "Rest des Feldes".
"Ich bin immer noch geschockt", so Smith: "Wir haben einen harten Kampf von ihnen erwartet. Aber wir haben das Spiel einfach komplett dominiert." Sein Touchdown nach einer 69-Yard-Interception war da nur ein Teil von vielen im großen Puzzle der Seahawks-Verteidigung, das dafür sorgte, dass man schon im dritten Viertel eigentlich beängstigende Kraftpakete an der Seitenlinie Seattles sehen konnte, die sich freuten wie kleine Kinder.
"Beste Defense aller Zeiten"
"Diejenigen, die vorher gesagt haben, dass Defense Meisterschaften gewinnt, können sich jetzt damit brüsten", grinste Head Coach Pete Carroll danach. Seine Verteidigung, in dieser Saison in allen wichtigen Kategorien die unumstrittene Nummer eins, hatte auf der größtmöglichen Bühne ihr Meisterstück abgeliefert. Gegen ein Denver im Selbstzerstörungs-Modus - aber ist man nicht immer nur so gut, wie es der Gegner zulässt? Die "Legion of Boom" ließ nichts, aber auch gar nichts zu.
Ein erbarmungsloser Pass Rush, krachende Linebacker, dazu eine Secondary, die den schmalen Grat zwischen harter und illegaler Deckung meist erfolgreich beschreitet. "Wir sind die beste Defense aller Zeiten", tönte Defensive End Michael Bennett - wer will es ihm verdenken? "Wir hätten heute auch gegen jedes andere Team spielen können, das Ergebnis wäre das gleiche gewesen."
So dominant war die Vorstellung, dass sich Cornerback Richard Sherman, der die letzten Sekunden mit einer Knöchelverletzung von der Seitenlinie anschauen musste, auf markige Worte verzichtete - fast. "Unsere Defense wollte sich in den Geschichtsbüchern verewigen, und das haben sie heute geschafft", sagte er. Und kostenlose Aufmunterung für den Unterlegenen gab es obendrauf: "Peyton Manning ist immer noch ein großartiger Quarterback, einer der besten aller Zeiten. Aber heute haben wir einfach richtig guten Football gespielt."
Saison wie am Reißbrett
Am Sonntagabend endete eine Bilderbuch-Saison für Seattle mit einem Ausrufezeichen, wie es deutlicher nicht hätte sein können. Nach der knappen Niederlage im letzten Jahr bei den Atlanta Falcons besserte das Management an den richtigen Stellen nach, ließ die Identität des Teams aber unangetastet. Mit Erfolg.
In der heimischen Festung verprügelte man Hochkaräter aus San Francisco und New Orleans und war von Anfang an auf One-Seed-Kurs. Diesen Heimvorteil nutzte man in der Postseason gegen beide Teams erneut aus, gewann den "eigentlichen Super Bowl" gegen die 49ers knapp - und sorgte im MetLife Stadium mit tausenden Fans für ein zweites Heimspiel.
Ausgeruht und vor allem gesund konnten die Blauen das Spiel angehen. Während Denver in der Defense und der Offensive Line arg gebeutelt daherkam und diesen Schwächungen letzten Endes Tribut zollen musste, waren auf Seiten der Seahawks bis auf Star-Receiver Sidney Rice und den gesperrten Brandon Browner alle Mann an Bord. Planen kann man das nur begrenzt. Aber Kapital schlagen muss man daraus erst einmal. Und das gelang - siehe Harvin, Percy.
Der Nordwesten feiert
"SUPER BOWL CHAMPIONS!" titelte die ortsansässige "Times". In Seattle müsste man jetzt sein. Mit den Fans feiern, auf den Straßen tanzen. Ganz besonders, wenn die Super-Bowl-Parade die Innenstadt am Mittwoch in ein blau-grünes Jubelmeer tauchen wird. Wenn der "Zwölfte Mann" sich in den Armen liegt.
Was dieser Sieg für die Stadt bedeutet, kann man wohl nur erahnen. Die Seattle Mariners gehören seit Jahren zu den Lachnummern der Major League Baseball. Titel? Fehlanzeige. In der NFL gab es bisher nur das berühmt-berüchtigte Endspiel vom 5. Februar 2006 - wenn der Referee sich Jahre später öffentlich für seine Calls entschuldigt, sind tiefe Narben nicht verwunderlich. Von den Sonics, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Oklahoma City verkauft wurden und dort Kevin Durant aufbieten dürfen, ganz zu schweigen.
Seit 35 Jahren keine Championship mehr. Auch deshalb klammerte sich die ganze Metropole so an Russell Wilson und seine Bande von lauten, aber liebenswerten Rabauken, verursachte Hörstürze und Erdbeben im CenturyLink Field. Wenn nicht jetzt, wann dann? "Dieser Titel ist für all die Jahre", jubelte Carroll: "Zum ersten Mal seit 35 Jahren ist Seattle wieder ein World Champion."
Carroll: den Kritikern gezeigt
Für den 62-Jährigen ist es ein ganz besonderer Moment. Seit über 40 Jahren ist er nun im Football-Geschäft tätig, arbeitete sich vom kleinen Assistenten bis zum Head Coach hoch. Er ist Berufsjugendlicher: Enthusiastisch, voller Energie, mitreißend, polarisierend. Im College Football feierte er 2003 und 2004 zwei Titel mit USC, galt als perfekter Recruiter und Motivator für junge Talente - der Jürgen Klopp des Footballs.
Aber ob es für 30 Jahre alte Millionäre in der NFL auch reicht, daran gab es lange Zweifel. Von 1984 bis 1999 hatte er es bereits probiert, zwei Jobs als Head Coach bei den Jets (1994) und den New England Patriots (1997-1999) endeten mit seinem Rauswurf. Seine Methoden galten als gescheitert, er ging zurück in den College-Sport.
Sein Abschied aus der NCAA nach der Saison 2009 war - gelinde gesagt - umstritten: Nach eklatanten Verstößen gegen NCAA-Regelungen wurde das gesamte Programm mit harten Strafen belegt und Carroll, der kurz zuvor in Seattle unterschrieben hatte, massiv kritisiert. Der Gerechtigkeit sei erst Genüge getan, wenn Carroll nur noch mit dem Xbox-Controller in der Hand coachen dürfe, forderte etwa einer seiner Kritiker.
Carroll dagegen beteuerte seine Unschuld - und zeigte eindrucksvoll, dass seine Art zu coachen auch bei den Big Boys funktioniert. Als Head Coach und de facto GM baute er das Roster in vier Jahren von Grund auf um, erreichte dreimal die Playoffs, perfektionierte in diesem Jahr eine Monster-Defense - und ist jetzt auf dem Olymp angelangt. "Ich bin so stolz auf mein Team", erklärte der dreifache Familienvater: "Ich kann es kaum erwarten, unseren Fans diese Trophäe zu bringen."
Kommt jetzt die Dynasty?
Aber warum nur diese Trophäe? In einem Jahr kann naturgemäß viel passieren, aber während der Super Bowl des vergangenen Jahres gewissermaßen das letzte Hurra von Ikonen wie Ray Lewis oder Ed Reed darstellte, der krönende Abschluss, fühlt sich dieser Titel an wie ein Anfang. Denn was soll dieses Team daran hindern, in den kommenden Jahren wieder ganz weit vorn mitzuspielen? Die Antwort auf diese Frage dürfte den Seahawks-Fans ein seliges Lächeln ins Gesicht zaubern: nicht viel.
Das heißt nicht, dass 31 andere Franchises nur noch langfristig planen sollten, denn im one-and-done der NFL-Playoffs kann alles passieren: Fällt Colin Kaepernicks Pass auf Crabtree vor zwei Wochen nur einen halben Meter länger aus, dann würde jetzt womöglich in San Francisco Ausnahmezustand herrschen. Verletzungsglück oder -pech ist nicht planbar. Mit Drew Brees und Aaron Rodgers lauern zudem zwei weitere transzendente QBs in der NFC auf ihre Chance.
Aber es erscheint fast sicher, dass die Seahawks, für viele Experten schon vor dieser Saison ein Super-Bowl-Pick, auch im Herbst wieder als Favorit antreten werden. Denn zumindest für die kommenden Jahre ist das Team perfekt aufgestellt.
The Time is now!
Hauptgrund dafür sind die vielen Leistungsträger, die das Front Office dank der Rookie-Verträge kaum mehr kosten als das Wechselgeld, das Peyton Manning für alle Fälle mit sich herumträgt. Als Third-Round-Pick kostete Russell Wilson sein Team in diesem Jahr auf den Cent genau 681.085 Dollar an Cap Room - und damit weniger als Manning pro Spiel. Sein Vertrag läuft noch zwei Jahre, wesentlich teurer wird er nicht. Ähnlich sieht es bei Bobby Wagner, Richard Sherman, Byron Maxwell, Doug Baldwin oder MVP Smith aus: Keiner kostete in diesem Jahr mehr als eine Million Dollar.
Natürlich wird das nicht für immer so bleiben, schließlich lassen sich NFL-Akteure ihre Leistungen gerne teuer bezahlen - das wird auch in Seattle so sein. Aber wenn Wilson, Sherman, Wagner, Maxwell und K.J. Right 2014 zusammen weniger als sechs Millionen Dollar kosten, dann kann man dieses Geld anderweitig in Verstärkungen investieren. Wie etwa in dieser Saison in Cliff Avril oder Michael Bennett.
Die knapp vier Millionen Einwohner Seattles dürfen sich also freuen. Über den Titel. Über die Parade. Aber auch auf die kommenden Jahre, mit einem exzellenten Coach, einem aufstrebenden Quarterback und einer sensationellen Defense. Und wer weiß, ob sie in der Halftime-Show mit dem Song von Bruno Mars nicht auch irgendwo ihr Lieblingsteam meinten: "You're amazing, just the way you are."
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