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Geier Sturzflug

Von Adrian Franke
Den Seattle Seahawks droht nach dem Gewinn des Superbowls das Verpassen der Playoffs
© getty

Manche Experten trauten Seattle den Beginn einer Dynastie zu, doch die Realität sieht nach zwei Dritteln der Regular Season anders aus. Der Titelverteidiger läuft Gefahr, die Playoffs zu verpassen - und dabei kann vom typischen Super-Bowl-Hangover keine Rede sein. Vielmehr stehen die verletzungsgebeutelten Seahawks vor weitreichenderen Problemen: Die Chemie auf und abseits des Platzes stimmt nicht mehr.

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Er lief, und lief, und lief. Jamaal Charles machte mit Seattles stolzer Defense am vergangenen Sonntag, was er wollte, und trug Kansas City zum Heimsieg über den Titelverteidiger. Immer wieder verpassten Seahawks-Spieler Tackles oder lasen den Spielzug falsch, fast acht (!) Yards verzeichnete Charles im Schnitt pro Lauf-Versuch und ging phasenweise wie das sprichwörtliche Messer durch die Butter.

Doch von Anfang an: Zum Saisonstart sah es beim Titelverteidiger noch so gut aus. Das Team blieb über die Free Agency weitestgehend zusammen, Leistungsträger wie Richard Sherman und Earl Thomas unterschrieben neue Verträge und der dominante Sieg beim Season-Opener gegen Green Bay sorgte ligaweit für große Augen. Es etablierte sich die Meinung, dass der Titel erneut nur über Seattle gehen würde.

Und dennoch geht das Team mit großem Druck in den Schlussspurt der Regular Season. Ein weiterer Ausrutscher ist nach der Pleite im Arrowhead verboten, will der Titelverteidiger die Playoffs nicht verpassen. Doch trotz der guten Vorzeichen kommt die prekäre Lage der Seahawks nicht von ungefähr, denn das womöglich wichtigste Mantra von Head Coach Pete Carroll passt nicht: Die Chemie. Die einstige Stärke der Seahawks stimmt nicht mehr.

Die zwei Seiten des Marshawn Lynch

Erste deutliche Risse in Seattles über zwei Jahre lang heiler Welt traten bereits vor der Saison auf. Running Back Marshawn Lynch sorgte zunächst für internes Stirnrunzeln, als er den obligatorischen Trip des Super-Bowl-Siegers ins Weiße Haus ausfallen ließ. Einige Wochen später schwänzte "Beast Mode" den Beginn des Training Camps, nachdem Verantwortliche erklärt hatten, dass Lynch weniger Snaps sehen könnte.

Das Resultat: Die Beziehung zu Carroll soll komplett eingefroren sein und Trade-Gerüchte halten sich bis heute hartnäckig, obwohl Lynch bis nach der kommenden Saison an die Hawks gebunden ist. Auf dem Platz bringt er nach wie vor seine Leistung, aber Insidern zufolge sprechen Lynch und Carroll mittlerweile so gut wie nicht mehr miteinander. "Pete ist mein Head Coach. Ich meine, er ist nicht wirklich in meinen Position Meetings. Es ist nicht so, als ob wir alles dauernd ins Detail besprechen könnten", erklärte der 28-Jährige jüngst.

Der medienscheue Lynch goss nach der Pleite in Kansas City sogar noch zusätzliches Öl ins Feuer, als er laut dem Journalisten Michael Silver betonte: "Ob ich denke, dass ich nach der Saison gehen muss? Ich weiß es nicht. Die Verantwortlichen gehen gerne in die Öffentlichkeit und reden viel. Das mache ich nicht. Ich spiele einfach. Wenn da irgendetwas im Hintergrund läuft, weiß ich nichts davon. Aber am Ende des Tages ist es einfach ein Geschäft."

Harvin-Trade als Chemie-Indikator

Dass es letztlich schlicht ein Business ist und dass die Chemie innerhalb der Mannschaft enorm hohen Stellenwert hat, machte Seattle zuvor bereits mit dem Percy-Harvin-Trade, über den Lynch alles andere als begeistert gewesen sein soll, mehr als deutlich. Der talentierteste Receiver des Teams soll vor dem Super Bowl Receiver-Kollege Golden Tate ein blaues Auge verpasst und während der Preseason mit Doug Baldwin handfest aneinander geraten sein.

Hall-of-Fame-QB und Seahawks-Reporter Warren Moon betonte jüngst: "Eine Sache, die Pete Carroll unbedingt haben will, ist eine tolle Chemie innerhalb der Mannschaft. Die Spieler sollen einander mögen und ich denke, das ist ein großer Grund für den Erfolg der letzten Jahre. Mit Percy gab es ein Chemie-Problem innerhalb des Teams."

Für einen günstigen Draft-Pick wurde Harvin, der erst 2013 einen Sechsjahresvertrag über 67 Millionen Dollar unterschrieben hatte (25,5 Millionen garantiert), deshalb an die Jets abgegeben und Hawks-Geschäftsführer John Schneider erklärte vielsagend: "Wir beurteilen unser Team permanent und glauben, dass das zu diesem Zeitpunkt im besten Interesse des Teams war. Wir danken Percy für seine Leistungen, die uns geholfen haben, den Super Bowl zu gewinnen, und wünschen ihm alles Gute."

Absurde Debatten um Wilson

Als ob Harvin und Lynch nicht genug Ablenkungen für eine Mannschaft wären, die unter anderem vom Teamzusammenhalt und offensichtlichem Spaß auf dem Platz gelebt hat, brachte der Harvin-Trade nicht die erhoffte Ruhe - im Gegenteil. Plötzlich stand Quarterback Russell Wilson im Fokus, Mitte Oktober tauchten Berichte auf, wonach einige Seahawks-Spieler Wilson dafür verantwortlich machen, dass Harvin nach einer Art internem Machtkampf abgegeben wurde.

Wilson selbst stritt Ungereimtheiten seinerseits mit Harvin stets ab, doch die Meldungen über mögliche Spaltungen im Team halten sich seither hartnäckig. "Innerhalb unseres Teams gibt es keine Zersplitterung. Überhaupt nicht. Wenn überhaupt, dann wachsen wir weiter. Das glaube ich aus vollstem Herzen. Wir haben ein gemeinsames Ziel: Football-Spiele gewinnen", wird Wilson selbst nicht müde zu betonen.

Dazu kamen die absurden Meldungen diverser Medien, laut denen Wilson für einige Spieler zu nah an den Klubbossen dran sein soll. Demnach gebe er es nicht immer zu, wenn er selbst einen Fehler gemacht hat, vor allem sollen einige seiner farbigen Mitspieler ihm vorgeworfen haben, dass er "nicht schwarz genug" sei und handele.

Klar ist in jedem Fall, dass Wilson zumindest bei einigen Mitspielern keinen einwandfreien Stand hat. Zwar handelt es sich dabei, glaubt man den Insider-Berichten, wohl nicht um Stammspieler, allerdings könnte ein gewisser Neid-Faktor eine Rolle spielen - und dass, obwohl Wilson seinen Mega-Vertrag erst in der kommenden Offseason erhält. In der laufenden Saison kassiert er unter seinem Rookie-Deal lediglich 662.434 Dollar.

Offense nicht ausgeglichen

Während die internen Streitigkeiten zweifellos ihren Anteil an der Lage der Seahawks haben, dürfen auch die rein sportlichen Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Zweitrunden-Draftpick Paul Richardson konnte bislang nicht die für ihn vorgesehene Rolle als Deep-Threat einnehmen und darüber hinaus verpasst Tight End Zach Miller nach seiner Knöchel-OP fast die komplette Saison.

Das Resultat: Die Passing-Offense leidet, 191,8 Passing-Yards pro Spiel sind der ligaweit drittschwächste Wert, auch wenn Carroll seinen typischen Optimismus nach außen trägt: "Ich mache mir da nicht wirklich Sorgen. Es klingt für mich so, als hätten viele Leute damit ein ernsthaftes Problem. Aber wir haben die Einstellung, dass wir uns wirklich auf das Run Game konzentrieren und sicher stellen, dass das funktioniert."

Keine Frage, im Run Game macht Seattle auch in diesem Jahr niemand etwas vor - allein Wilson hat mehr Rushing-Yards auf dem Konto (571) als beispielsweise Chris Ivory oder Eddie Lacy. Doch auch hier wurde das Team durch Ausfälle gebeutelt. Fullback Derrick Coleman ist längst auf der IR-Liste, Center Max Unger fiel lange aus und hat sich gegen die Chiefs erneut verletzt - sollte er bis zum Saisonende ausfallen, wird auch das Run Game den aktuellen Pace nicht aufrecht erhalten können.

Und doch ist die Offense im Vergleich zum Vorjahr statistisch nicht schlechter - aber sie weist eben nicht mehr die Ausgeglichenheit aus der vergangenen Saison auf. Während die Rushing-Offense im Schnitt 1,2 Yards pro Rush-Versuch und 37,4 Rushing-Yards pro Spiel mehr aufweist als in der Vorsaison, schneidet die Passing-Offense (1,4 Yards pro Versuch und 10,4 Yards pro Spiel weniger) schlechter ab als im Titeljahr.

Defense-Aderlass macht sich bemerkbar

Ohnehin aber war die Defense das Prunkstück, das den Seahawks den ersten Super-Bowl-Titel einbrachte. Hier haben die Ausfälle von Bobby Wagner, Malcolm Smith und Kam Chancellor großen Anteil an Seattles Problemen, vor allem in der Run-Defense. Vor Charles dominierten auch die Dallas Cowboys hier bereits, und das in Seattle. Dazu kommt jetzt die schwere Verletzung von Brandon Mebane, der den Rest der Saison verpassen wird.

Doch auch diese Schwierigkeiten kommen nicht komplett überraschend. Die D-Line war der einzige Mannschaftsteil, der in der Free Agency einen echten Aderlass schlucken musste: Red Bryant und Chris Clemons verließen Seattle Richtung Jacksonville, dadurch wurde die Rotation stark zurückgeschraubt und Seattles Run-Defense hat große Schwierigkeiten mit physischen O-Lines und Run Games.

LoB hat Schrecken verloren

Und auch die so gefürchtete Legion of Boom hat ein Stück weit ihren Schrecken verloren. Während Packers-QB Aaron Rodgers im Auftaktspiel noch Shermans Seite konsequent ignorierte, hatten mittlerweile mehrere Receiver ein gutes Spiel gegen Seattles Secondary - zuletzt Giants-Rookie Odell Beckham Jr.

"Unsere Gegner meiden unsere Stärken. Sie greifen unterschiedliche Punkte auf dem Feld an, von denen sie wissen, dass wir Probleme haben. Das ist immer irgendwie über Play Action oder einen Trick-Spielzug, den wir noch nicht kennen. Die engen Spiele, die wir letztes Jahr gewonnen haben, gewinnen wir im Moment nicht. Dahin müssen wir zurück kommen", forderte Safety Earl Thomas.

Gegner attackieren Seattle mit wesentlich mehr kurzen Pässen, nutzen so die LB-Ausfälle und nehmen die Secondary aus dem Spiel. Das Resultat: Die Seahawks lassen über 40 Passing-Yards pro Spiel mehr zu als im Vorjahr und der Pass-Rush funktioniert, zusätzlich bedingt durch die Probleme in der D-Line, nicht: Nur Oakland hat weniger Sacks auf dem Konto als Seattle (13).

Umdenken erforderlich?

"Wir machen das gleiche wie letztes Jahr", stellte Carroll bereits Mitte Oktober klar: "Aber wir bekommen nicht die Ergebnisse des Drucks, der durch die Deckung und den Pass-Rush bereitet wird." Das Problem dabei: Bei gleicher Taktik hat Seattle durch die Abgänge und die Verletzungen nicht die gleichen Waffen zur Verfügung.

Und dennoch: Die Hawks haben auch in dieser Saison schon mehrfach gezeigt, dass sie Spiele mit ihrem Run Game um Lynch und Wilson gewinnen können - auch wenn sie in Kansas City mit den eigenen Waffen geschlagen wurden. Allerdings stehen für Seattle noch fünf Division-Spiele aus, das Team hat sein Schicksal noch selbst in der Hand und genügend Zeit, bis zur Postseason die richtige Chemie wieder zu finden.

Wer wäre also besser geeignet als Lynch, um die Marschroute für die restlichen Spiele auszugeben: "Ob wir ein Championship-Team sind? Wir haben das Herz von Champions. Wir haben Spieler wie Richard Sherman, Earl Thomas oder Kam Chancellor - und da könnte ich fast endlos weiter Namen aufzählen - und dazu junge, motivierte Spieler. Ich sehe immer die besten Seiten unseres Teams, also ja, keine Frage: Ich wäre ein Idiot, wenn ich die Frage mit nein beantworten würde."

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