Die Zeit ist in der NFL ein ständiger, unnachgiebiger Gegner. Ob die Trainingsvorgaben für die Off-Season, die wenigen Sekunden für den Quarterback in der Pocket, die letzten Sekunden eines Spiels oder aber auch die knapp bemessene Vorbereitungszeit auf einen Gegner während der Saison - Zeitmanagement ist in vielerlei Hinsicht eine Kernkompetenz im Football.
Dem konnte Seattles Offensive Coordinator Darrell Bevell nur zustimmen, als er auf die Veränderungen in der Seahawks-Offense angesprochen wurde. "Unter der Woche bist du extrem darauf fokussiert, dich auf den kommenden Gegner vorzubereiten. Wir müssen uns immer selbst überprüfen und das versuche ich. Aber man hat schlicht nicht die Zeit dafür - abgesehen von der Bye Week. Die gibt uns die Gelegenheit, alle Dinge unter die Lupe zu nehmen, an denen wir arbeiten wollen."
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Und zu arbeiten gab es in Seattle an so einigen Dingen, als es für die Hawks Mitte November mit einer 4-4-Bilanz in die spielfreie Woche ging. "Wir sprachen darüber, wie viele Sacks wir zugelassen hatten", so Bevell weiter, "und wie wir da einige Dinge verändern könnten. Alles, was wir bewerten wollten, haben wir in der Bye Week bewertet." Es sollte sich lohnen: Die Umstellungen halfen Russell Wilson in seiner Entwicklung enorm weiter.
Die Baustelle im Herzen
Die ersten acht Spiele der gerade beendeten Regular Season waren mitunter ein offensives Desaster für Seattle. Die Problematik begann mit dem Abgang von Center Max Unger, den die Hawks nicht einfach so auffangen konnten. Das Ergebnis: Eine durchschnittliche Offensive Line wurde zu einer schlechten Offensive Line und die Gegner bemerkten das. Wilson war, was das Passer Rating angeht, in der ersten Saisonhälfte einer der schlechtesten Quarterbacks gegen den Blitz.
Die Coaches wussten, dass die Center-Position mit Drew Nowak unterbesetzt war. Diese Schwachstelle im Herzen der Line galt es möglichst schnell zu beheben - und das gelang: Patrick Lewis übernahm Nowaks Starter-Job nach der Bye Week und seiner überstandenen Knöchel-Verletzung endgültig.
Wie auf Knopfdruck spielte die Line besser. Das Run Blocking und somit das ganze Running Game wurde wesentlich effizienter, die Pass Protection steigerte sich ebenfalls. Das erlaubte Seattle, Wilson häufiger in der Pocket zu halten und auch lange Passspielzüge zu integrieren.
Das Resultat: Am Ende der Regular Season verzeichneten die Seahawks die zweitmeisten Yards pro Passversuch (8,3). Gleichzeitig aber unterstützte das Passing Game in der zweiten Saisonhälfte die Line: Bevell streute wesentlich mehr kurze, schnelle Pässe mit ein. So musste die Line nicht mehr so lange standhalten, Wilson fand seinen Rhythmus besser und die Receiver, vor allem Doug Baldwin und Tyler Lockett, bekamen Gelegenheiten, mit dem Ball in der Hand Plays zu machen.
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Das lässt sich auch statistisch festhalten: Laut den Daten von Pro Football Focus hielt Wilson den Ball in den ersten acht Spielen bei 161 von 297 Passversuchen für mindestens 2,6 Sekunden in der Hand. Nach der Bye Week war das nur noch bei 134 von 287 Passversuchen der Fall. Folgerichtig gingen die Sacks von 31 (erste acht Spiele) auf 15 (zweite acht Spiele) runter, gleiches galt für die Interceptions (von sechs auf zwei). Das Passer Rating gegen den Blitz war plötzlich ebenfalls besser.
Wilson übernimmt das Kommando
So rückte Wilson, dank der richtigen Änderungen und dank einer verbesserten O-Line, immer weiter in den Fokus. Es wurde zunehmend seine Offense. Wilson diktierte Spiele jetzt aus der Pocket heraus, seine Runs streute er überlegter ein und fand hier eine gute Mischung - seine Improvisationsfähigkeit wurde immer seltener notwendig (deshalb aber nicht weniger beeindruckend). Seattle stellte einen neuen Franchise-Rekord für Yards (6.058) und Wilson einen neuen Franchise-Rekord für Touchdown-Pässe (34) auf.
All das geschah ohne die bisherige Identifikationsfigur dieser Offense, es war eine Art Machtwechsel auch aus der Not heraus: Marshawn Lynch kam seit Week 10 nicht mehr zum Einsatz, auch sein mehr als beeindruckender Vertreter (und designierter Nachfolger) Thomas Rawls verletzte sich wenig später. Wilson musste die Offense dadurch mehr tragen, als ursprünglich ohnehin schon geplant. Denn eine größere Fokussierung auf das Passing Game war durchaus vorgesehen, wie der Offseason-Mega-Trade für Jimmy Graham, durch den Seattle Unger überhaupt erst verlor, zeigte.
Noch vor Rawls aber zog sich auch Tight End Graham eine schwere Verletzung zu. Die Regular-Season-Bilanz: Mit Lynch und Graham gemeinsam auf dem Platz gewann Seattle zwei von sechs Spielen, bei durchschnittlich 22,7 eigenen Punkten pro Spiel. In den restlichen zehn Partien gab es acht Siege sowie 28,7 Punkte im Schnitt. So viel sei gesagt: Ein gesunder Jimmy Graham, der seinen Patellasehnenriss erst einmal auskurieren muss, in der aktuellen Version der Seahawks-Offense wäre mutmaßlich deutlich effizienter, als er es zuvor sein konnte.
"Es ist eine Gemeinschaftsproduktion"
So aber übernahmen Wilson und die Receiver das Kommando. Baldwin, Lockett und Jermaine Kearse erwiesen sich als gute Route-Runner und sehr sichere Receiver. Keiner der drei ließ mehr als 2,9 Prozent der zu ihm geworfenen Pässe fallen, Baldwin (1,9) und Kearse (1,5) blieben gar unter zwei Prozent. Ein Receiving-Corps, das mitunter medial belächelt und nur zu oft lediglich als Beiwerk zum Running Game eingestuft wurde, ergriff seine Chance auf beeindruckende Art und Weise.
"Es ist eine Gemeinschaftsproduktion", wird Baldwin, der die NFL nach der Regular Season gemeinsam mit Allen Robinson und Brandon Marshall was Touchdown-Catches angeht (alle je 14) anführte, dennoch nicht müde zu betonen: "Unsere Offensive Line leistet herausragende Arbeit, sie verschafft Russ Zeit und blockt den Backs Wege frei. Russ bleibt in der Pocket und liefert seine Würfe zum genau richtigen Zeitpunkt. Und die Receiver machen das Beste aus ihren Chancen. Wenn du mehr Gelegenheiten bekommst, kannst du auch mehr daraus machen."
Nummer-1-Receiver Doug Baldwin
Letztere Aussage trifft vor allem auf Baldwin selbst zu. Der 27-Jährige hat sich in seiner fünften Saison in Seattle zu einem legitimen Nummer-1-Receiver gemausert und die Touchdown-Ausbeute seiner ersten vier Jahre (15) innerhalb einer Saison fast exakt verdoppelt. Das Arsenal, das Baldwin liefert, ist dabei ein entscheidender Faktor: Aus dem Slot, also zwischen Outside Receiver und Offensive Line, heraus ist Baldwin sowohl per Slant, als auch per Out schwer zu verteidigen. Dazu kommen Rub Routes - Spielzüge, in denen sich die Laufwege zweier Receiver kreuzen, was Defensive Backs das Leben extrem schwer macht.
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Baldwin kann viele Routes laufen, ergänzt wird er durch die Big-Play-Fähigkeiten von Tyler Lockett. Der Rookie entpuppte sich schnell als wichtiges Element in der Hawks-Offense (ähnlich wie Ted Ginn in Carolina) und glänzt längst nicht nur bei Punt-Returns. Und dennoch gilt: Seattles Offense agiert nach wie vor ausgeglichen. Auch in den jüngsten vier Spielen ohne Lynch und ohne Rawls verzeichnete Seattle im Schnitt 30,5 Laufversuche pro Partie. Auch hier bleibt Wilson über die Read Option und die daraus resultierende Play Action ein wichtiger Faktor.
"Wenn man ein Running Game hat, schafft das so viele Möglichkeiten für dich", betonte Bevell jüngst, "zum Beispiel öffnet es uns Türen für die langen Pässe. Dann können wir einige der schnellen Pässe damit mixen." Doch auch das Gegenteil ist wahr: Wilsons herausragende Auftritte aus der Pocket zwingen Defenses immer mehr, dem Passing Game Tribut zu zollen. Das wiederum öffnet Türen im Running Game.
Verwirrung dank der "Kern-Konzepte"
Insgesamt lässt Bevell dabei aus, wie er sie selbst bezeichnet, "Kern-Konzepten" heraus agieren. Diese geben bestimmte Plays für First Down, Second Down, Red Zone und so weiter vor.
Allerdings kann ein Spielzug dann aus verschiedenen Formationen und mit verschiedenem Personal auf dem Platz durchgeführt werden. Eine gewisse Unberechenbarkeit ist so garantiert, für gegnerische Verteidiger auf dem Platz mag es bisweilen wie ein organisiertes Chaos wirken.
"Ich denke, wir kreieren Probleme für Defenses", so Bevell weiter. "Unsere Gegner müssen sich entscheiden, was sie stoppen wollen. Ich glaube, es ist nicht einfach uns aufzuhalten - wegen unseres Running Games und wegen der Art und Weise, wie unser Quarterback spielt."
"Come on, Russ - take over!"
Einst galt Wilson als Game Manager, der primär Lynch ergänzt. Gleichzeitig gab es auch stets jene Kritiker, die Wilson vorwarfen, er habe nur einen sehr begrenzten Anteil an den beiden Super-Bowl-Teilnahmen der Seahawks. Inzwischen sind diese Kritiker verstummt. Ohne Wilson wäre Seattle in diesem Jahr nicht in die Playoffs gekommen, daran gibt es keinen Zweifel.
Nie wurde das deutlicher als gegen die Vikings im Wildcard-Duell. Wieder war die Zeit ein Faktor, Seattle lag im Schlussviertel zurück. Da kamen, wie Matt Calkins von der Seattle Times berichtete, die Verteidiger Kam Chancellor und Jeremy Lane zu Wilson und forderten ihren Quarterback auf, das Spiel an sich zu reißen: "Come on, Russ - take over!"
Wilson tat es. Er tat es, in Form einer unfassbaren Improvisation nach einem vermasselten Snap. In Sekundenbruchteilen machte er aus einer Katastrophe das entscheidende Big Play. Wirklich überrascht dürfte davon im Hawks-Lager kaum noch wer gewesen sein.