Wo beginnt man eine Geschichte, wenn der Hauptprotagonist den genauen Anfang nicht einmal kennt? Wenn sich selbst seine Herkunft nur sehr bedingt bestimmen lässt? Jacobus Franciscus Thorpe jedenfalls war sich Zeit seines Lebens immer sehr sicher: Auch wenn sein offizielles Geburtsdatum irgendwann auf den 28. Mai 1888 datiert wurde, gab Thorpe stets zu Protokoll, am 22. Mai 1887 das Licht der Welt erblickt zu haben.
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Es war eine Zeit, als sich Amerika noch in der Selbstfindungsphase befand. Jesse James und Billy the Kid waren erst seit ein paar Jahren tot, die Brooklyn Bridge erst wenige Jahre alt und die berüchtigte Schlacht am Little Bighorn lag noch keine 15 Jahre zurück. Die amerikanischen Ureinwohner hatten noch nicht den Status von Staatsbürgern - genau in diese Welt wurde Thorpe unter dem indianischen Namen Wa-Tho-Huk ("Klarer Weg") hinein geboren.
Wann und wo das letztlich auch passierte, der Indianer mit irischen und französischen Wurzeln identifizierte sich extrem mit seiner Herkunft. Thorpe wuchs im indianischen Oklahoma-Territorium auf und der Sport war von Beginn an ein Teil von ihm. "Ich war nie zufrieden - es sei denn, ich konnte meine Fähigkeiten gegen meine Freunde unter Beweis stellen oder meine Ausdauer gegen ein Mitglied aus dem Tierreich testen", erzählte Thorpe einst. Nicht selten kam es vor, dass er die 30 Kilometer von der Schule nach Hause zu Fuß zurücklegte und dabei so manches Pferdegespann samt staunendem Kutscher abhängte.
Eine harte Schule
Hier endet allerdings auch schon die Geschichte von Thorpes glücklicher Kindheit. Mit der zunehmend von Strukturen und Regeln geprägten Welt kam er nie zurecht, immer wieder schwänzte er die Schule. Dann schlug auch das Schicksal zu: Thorpe verlor seinen Zwillingsbruder, der einer langwierigen Krankheit erlag, und wenig später verstarb auch seine Mutter. Sein Vater griff jetzt häufiger zur Flasche und wusste sich schließlich nicht mehr zu helfen: Er schickte seinen Sohn 1904 in das Internat Carlisle Industrial Indian School.
Es war eine jener Einrichtungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Kinder von amerikanischen Ureinwohnern in der Welt der Weißen zu sozialisieren. Indianische Namen waren verboten, genau wie die Sprachen der Ureinwohner und die langen Haare der Jungs. Das genauso drastische wie eindeutige Motto der Schule lautete: "Töte den Indianer, rette den Mann."
Hier begann Thorpe allerdings auch seine sportliche Karriere, erstmals in einem organisierten Umfeld. Neben der Leichtathletik versuchte er sich auch erstmals am Football - und dominierte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Unter dem legendären Coach Pop Warner und mit Thorpe, seines Zeichens Running Back und Kicker in Personalunion, schlug Carlisle 1907 völlig überraschend Pennsylvania vor 20.000 Zuschauern und gewann 1908 zehn von 13 Partien.
"Der größte Sportler der Welt"
Seine erste Liebe aber war die Leichtathletik - und so bewarb sich Thorpe für einen Platz im Olympia-Kader für die Sommerspiele 1912. Auch hier beherrschte er die Konkurrenz mit einer derartigen Leichtigkeit, dass er sein Ticket für die Spiele schon vor den finalen Ausscheidungskämpfen sicher hatte. Die Juroren waren komplett begeistert, viele hatten einen solchen Athleten noch nie gesehen. Per Schiff ging es nach Schweden und während seine Mit-Olympioniken auf der Überfahrt weiter eisern trainierten, entspannte Thorpe. Schon Warner hatte festgestellt, dass sich der Trainingseifer seines Stars in Grenzen hielt.
Thorpe war vielmehr die Art Athlet, die einen Sport innerhalb weniger Stunden besser beherrschte, als andere, die seit Jahren trainierten. Eine Anekdote aus seiner Schulzeit fasst das treffend zusammen: Nach dem Unterricht war er mit einem Freund unterwegs, als sie am Training der Hochspringer vorbei liefen. Die schafften es partout nicht, eine bestimmte Höhe zu überspringen. Thorpe gab seine Bücher kurzerhand seinem Kumpel und übersprang die Latte - in Straßenklamotten, ohne Aufwärmen, ohne Technik-Training.
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Genau so ging Thorpe auch die olympischen Spiele an. Von den Schweden schnell als exotischer Publikumsliebling gefeiert, gewann er den Fünfkampf (vier von fünf Disziplinen) und den Zehnkampf (8412 von 10.000 Punkten) mit einer derartig unfassbaren Dominanz, dass auch König Gustav V von Schweden nicht mehr an sich halten konnte.
Bei der Medaillenübergabe hielt Gustav den frisch gebackenen Superstar am Handgelenk fest und raunte: "Sie, Sir, sind der größte Sportler der Welt." Thorpe fiel völlig perplex nichts anderes ein, als zu sagen: "Danke, König." Dieser Dialog sollte Thorpe ein Leben lang begleiten - und in gewisser Weise sogar darüber hinaus: Die Zeilen wurden auf seinem Sarg eingraviert. Doch lange bevor es dazu kam, war Thorpe zunächst einmal der erste moderne olympische Superstar.
Prügel für Dwight D. Eisenhower
Thorpe kehrte mit Preisgeld in Höhe von 50.000 Dollar sowie Geschenken von König Gustav nach Hause zurück, wo in New York eine Parade auf ihn wartete. Der als Indianer in einem einfachen Leben aufgewachsene Thorpe staunte: "Ich habe gehört, wie Leute meinen Namen gerufen haben! Ich konnte nicht glauben, dass ein Typ so viele Freunde haben könnte."
Auch als nationale Berühmtheit blieb der 25-Jährige seiner Schule treu und führte die Carlisle Indian School in der Saison nach Olympia mit 25 Touchdowns zu zwölf Siegen in 14 Spielen. Darunter war ein klarer 27:6-Sieg über West Point, als es zu einem besonderen Duell kam: Carlisles Superstar-Gegenpart aufseiten der Army-Kadetten war Dwight D. Eisenhower - doch Thorpe dominierte seinen Gegenüber und stoppte Eisenhower immer und immer wieder mit harten Hits.
Das Urteil des späteren US-Präsidenten einige Jahre nach dem Spiel zeugte vor allem von großer Anerkennung: "Jim hat sein ganzes Leben lang nicht trainiert und konnte trotzdem alles besser als jeder andere Football-Spieler, den ich jemals gesehen habe." Thorpe führte Carlisle mit seinen vier Field Goals zum 18:15-Upset über Harvard vor 30.000 Zuschauern, er war der mit Abstand beste College-Spieler des Landes, All-American und eine nationale Berühmtheit. Er war auf dem Höhepunkt angekommen.