Jim Thorpe war einer der ersten großen Sportstars, in den USA wie weltweit. Als Exot und unglaubliches Naturtalent brachte er Zuschauer ins Schwärmen und nahm es mit Dwight Eisenhower auf. Er verhalf der NFL zu einem respektableren Ruf und zog College-Talente sowie Zuschauer an, er war ein Multi-Sport-Star, lange vor dem großen Jim Brown und dem spektakulären Bo Jackson. Weltbekannt ist bis heute sein kurzes Gespräch mit dem schwedischen König - und doch entkam Thorpe der Rolle des tragischen Helden nie.
GettyWo beginnt man eine Geschichte, wenn der Hauptprotagonist den genauen Anfang nicht einmal kennt? Wenn sich selbst seine Herkunft nur sehr bedingt bestimmen lässt? Jacobus Franciscus Thorpe jedenfalls war sich Zeit seines Lebens immer sehr sicher: Auch wenn sein offizielles Geburtsdatum irgendwann auf den 28. Mai 1888 datiert wurde, gab Thorpe stets zu Protokoll, am 22. Mai 1887 das Licht der Welt erblickt zu haben.
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Es war eine Zeit, als sich Amerika noch in der Selbstfindungsphase befand. Jesse James und Billy the Kid waren erst seit ein paar Jahren tot, die Brooklyn Bridge erst wenige Jahre alt und die berüchtigte Schlacht am Little Bighorn lag noch keine 15 Jahre zurück. Die amerikanischen Ureinwohner hatten noch nicht den Status von Staatsbürgern - genau in diese Welt wurde Thorpe unter dem indianischen Namen Wa-Tho-Huk ("Klarer Weg") hinein geboren.
Wann und wo das letztlich auch passierte, der Indianer mit irischen und französischen Wurzeln identifizierte sich extrem mit seiner Herkunft. Thorpe wuchs im indianischen Oklahoma-Territorium auf und der Sport war von Beginn an ein Teil von ihm. "Ich war nie zufrieden - es sei denn, ich konnte meine Fähigkeiten gegen meine Freunde unter Beweis stellen oder meine Ausdauer gegen ein Mitglied aus dem Tierreich testen", erzählte Thorpe einst. Nicht selten kam es vor, dass er die 30 Kilometer von der Schule nach Hause zu Fuß zurücklegte und dabei so manches Pferdegespann samt staunendem Kutscher abhängte.
Eine harte Schule
Hier endet allerdings auch schon die Geschichte von Thorpes glücklicher Kindheit. Mit der zunehmend von Strukturen und Regeln geprägten Welt kam er nie zurecht, immer wieder schwänzte er die Schule. Dann schlug auch das Schicksal zu: Thorpe verlor seinen Zwillingsbruder, der einer langwierigen Krankheit erlag, und wenig später verstarb auch seine Mutter. Sein Vater griff jetzt häufiger zur Flasche und wusste sich schließlich nicht mehr zu helfen: Er schickte seinen Sohn 1904 in das Internat Carlisle Industrial Indian School.
Es war eine jener Einrichtungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Kinder von amerikanischen Ureinwohnern in der Welt der Weißen zu sozialisieren. Indianische Namen waren verboten, genau wie die Sprachen der Ureinwohner und die langen Haare der Jungs. Das genauso drastische wie eindeutige Motto der Schule lautete: "Töte den Indianer, rette den Mann."
Hier begann Thorpe allerdings auch seine sportliche Karriere, erstmals in einem organisierten Umfeld. Neben der Leichtathletik versuchte er sich auch erstmals am Football - und dominierte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Unter dem legendären Coach Pop Warner und mit Thorpe, seines Zeichens Running Back und Kicker in Personalunion, schlug Carlisle 1907 völlig überraschend Pennsylvania vor 20.000 Zuschauern und gewann 1908 zehn von 13 Partien.
"Der größte Sportler der Welt"
Seine erste Liebe aber war die Leichtathletik - und so bewarb sich Thorpe für einen Platz im Olympia-Kader für die Sommerspiele 1912. Auch hier beherrschte er die Konkurrenz mit einer derartigen Leichtigkeit, dass er sein Ticket für die Spiele schon vor den finalen Ausscheidungskämpfen sicher hatte. Die Juroren waren komplett begeistert, viele hatten einen solchen Athleten noch nie gesehen. Per Schiff ging es nach Schweden und während seine Mit-Olympioniken auf der Überfahrt weiter eisern trainierten, entspannte Thorpe. Schon Warner hatte festgestellt, dass sich der Trainingseifer seines Stars in Grenzen hielt.
Thorpe war vielmehr die Art Athlet, die einen Sport innerhalb weniger Stunden besser beherrschte, als andere, die seit Jahren trainierten. Eine Anekdote aus seiner Schulzeit fasst das treffend zusammen: Nach dem Unterricht war er mit einem Freund unterwegs, als sie am Training der Hochspringer vorbei liefen. Die schafften es partout nicht, eine bestimmte Höhe zu überspringen. Thorpe gab seine Bücher kurzerhand seinem Kumpel und übersprang die Latte - in Straßenklamotten, ohne Aufwärmen, ohne Technik-Training.
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Genau so ging Thorpe auch die olympischen Spiele an. Von den Schweden schnell als exotischer Publikumsliebling gefeiert, gewann er den Fünfkampf (vier von fünf Disziplinen) und den Zehnkampf (8412 von 10.000 Punkten) mit einer derartig unfassbaren Dominanz, dass auch König Gustav V von Schweden nicht mehr an sich halten konnte.
Bei der Medaillenübergabe hielt Gustav den frisch gebackenen Superstar am Handgelenk fest und raunte: "Sie, Sir, sind der größte Sportler der Welt." Thorpe fiel völlig perplex nichts anderes ein, als zu sagen: "Danke, König." Dieser Dialog sollte Thorpe ein Leben lang begleiten - und in gewisser Weise sogar darüber hinaus: Die Zeilen wurden auf seinem Sarg eingraviert. Doch lange bevor es dazu kam, war Thorpe zunächst einmal der erste moderne olympische Superstar.
Prügel für Dwight D. Eisenhower
Thorpe kehrte mit Preisgeld in Höhe von 50.000 Dollar sowie Geschenken von König Gustav nach Hause zurück, wo in New York eine Parade auf ihn wartete. Der als Indianer in einem einfachen Leben aufgewachsene Thorpe staunte: "Ich habe gehört, wie Leute meinen Namen gerufen haben! Ich konnte nicht glauben, dass ein Typ so viele Freunde haben könnte."
Auch als nationale Berühmtheit blieb der 25-Jährige seiner Schule treu und führte die Carlisle Indian School in der Saison nach Olympia mit 25 Touchdowns zu zwölf Siegen in 14 Spielen. Darunter war ein klarer 27:6-Sieg über West Point, als es zu einem besonderen Duell kam: Carlisles Superstar-Gegenpart aufseiten der Army-Kadetten war Dwight D. Eisenhower - doch Thorpe dominierte seinen Gegenüber und stoppte Eisenhower immer und immer wieder mit harten Hits.
Das Urteil des späteren US-Präsidenten einige Jahre nach dem Spiel zeugte vor allem von großer Anerkennung: "Jim hat sein ganzes Leben lang nicht trainiert und konnte trotzdem alles besser als jeder andere Football-Spieler, den ich jemals gesehen habe." Thorpe führte Carlisle mit seinen vier Field Goals zum 18:15-Upset über Harvard vor 30.000 Zuschauern, er war der mit Abstand beste College-Spieler des Landes, All-American und eine nationale Berühmtheit. Er war auf dem Höhepunkt angekommen.
GettyDas Problem mit dem Höhepunkt liegt schon im Wort selbst: Früher oder später geht es auf die eine oder andere Art und Weise bergab. Für Thorpe begann dieser Abstieg zumindest teilweise bereits 1913, scheinbar noch ganz oben. Doch der Reihe nach.
Pop Warner hatte seinen jungen Ausnahmetalenten 1909 und 1910 jeweils im Sommer zu einem befreundeten Baseball-Coach geschickt, damit der fit und vor allem in einer festen Struktur blieb. Warner fürchtete, dass sein Schützling andernfalls schnell wieder aus den mühsam antrainierten Abläufen ausbrechen könnte. Thorpe kassierte pro Spiel zwei Dollar - und genoss die Zeit. Ironischerweise waren diese Jahre rückblickend der Beginn des Abstiegs.
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Thorpe, auf einmal mit einem festen Einkommen, entdeckte den Alkohol für sich und sah in seinem Engagement kein Problem: Im Gegensatz zu anderen College-Athleten benutzte er keinen falschen Namen. Das war eigentlich Gang und Gäbe, denn mit dem Gehalt wurden die Regeln des Amateur-Sports verletzt und eine Rückkehr war nicht mehr möglich.
1913 fand das Olympische Komitee genau das heraus und machte daraus einen riesigen Skandal. Die amerikanischen Verantwortlichen kannten Thorpes Baseball-Vergangenheit selbstverständlich, mussten aber reagieren - und machten den Superstar zum prominenten Sündenbock, an dem ein Exempel statuiert wurde. Thorpe, aufgrund seiner Herkunft bis 1918 noch kein amerikanischer Staatsbürger, bekam die Goldmedaillen aberkannt, sein Name wurde aus den Rekordbüchern gestrichen.
Es war eine extrem harte Entscheidung, die Thorpe nicht begreifen konnte. Wie so häufig sah er den Ausweg im Sport.
Auf dem Weg in Richtung NFL
Das Baseball-Team der New York Giants bot ihm einen Vertrag an, Thorpe unterschrieb für drei Jahre und wechselte 1917 zu den Cincinnati Reds, ehe er zu den Giants zurückkehrte. Wie schon zuvor reichte ihm ein Sport aber nicht, parallel drückte er auch dem professionellen Football seinen Stempel auf: Von 1915 bis 1920 im Trikot der Canton Bulldogs, die sich 1916, 1917 und 1919 den Titel sicherten, und für die Cleveland Indians 1921 sowie anschließend für die Oorang Indians und die Chicago Cardinals.
Allerdings sollte - in Anbetracht seiner herausragenden Leistungen auf dem Feld einer gewissen Ironie nicht entbehrend - Thorpes großer Einfluss auf den Football nach dem College nicht mehr in seinem sportlichen Ausnahmetalent liegen. Um 1919 hatte Profi-Football noch einen schlechten Ruf. Wenige College-Stars entschieden sich tatsächlich für eine Profi-Karriere, das Interesse und die Bezahlung waren schlecht. Der Sport brauchte einen Helden, einen Superstar. Und das war Thorpe.
Das Multi-Talent lockte die Zuschauer ins Stadion, die Unterschiede waren enorm: Rund 1.200 Fans kamen damals ohne Thorpe-Beteiligung im Schnitt zu den Spielen, mit Thorpe lag der Schnitt zwischen 8000 und 10.000. So wuchs Profi-Football zunehmend rapide an und die Rufe nach einer gemeinsamen Liga sowie einheitlichen Regeln wurden immer lauter.
14 Teams trafen sich 1920 schließlich in Canton und gründeten die American Professional Football Association - ein enormer Schritt auf dem Weg in Richtung Football, wie wir ihn heute kennen. Thorpe, noch immer aktiver Spieler, wurde zum ersten Präsidenten und somit zum Gesicht der NFL gewählt. Der Sport erlangte auch auf dem Profi-Level über Thorpe, der kein einziges Spiel verletzt verpasste und Canton im Alleingang zum Titel-Favoriten gemacht hatte, eine ganz neue Bekanntheit und Beliebtheit.
Depressionen, Alkohol, Tragik
Im Alter von 41 Jahren beendete Thorpe 1929 seine aktive Karriere und ohne den Sport als Mittelpunkt suchte er händeringend nach Alternativen. Der einstige Superstar ging nach Kalifornien, um im Film unterzukommen. Mehrfach bekam er Indianer-Rollen in den damals beliebten Western-Filmen - in insgesamt 59 Filmen war er zu sehen - wenngleich ihm die Art und Weise, wie Indianer porträtiert wurden, nie gefiel und er sich schnell dafür einsetzte, dass Schauspieler indianischer Herkunft genauso bezahlt werden sollten wie weiße Schauspieler.
Seine Alkohol-Probleme wurden derweil signifikant schlimmer, Thorpe war immer wieder in Schlägereien verwickelt und hielt sich teilweise mit Tagelöhner-Jobs über Wasser. Sein erster Sohn verstarb, Depressionen setzten ein und seine beiden ersten Ehen gingen in die Brüche. Über weite Strecken war es kein einfaches Leben, als der Sport schrittweise aus seinem Leben verschwand.
"Kein Indianer könnte das vergessen"
Am 28. März 1953 verstarb Thorpe infolge eines Herzinfarkts. In den Medien wurde selbst der Nachruf für einen "herausragenden Sportler" und "größten Athleten unserer Zeit" (New York Times) noch von den aberkannten Medaillen geprägt - etwas, das auch Thorpe noch bis zu seinem Tod begleitete. Das sollte noch fast 30 Jahre lang anhalten, 1982 wurden ihm seine Medaillen schließlich posthum wieder zugeschrieben und das internationale olympische Komitee gab ihm die Einträge in die Rekordbücher zurück.
Vor seinem Tod reiste Thorpe noch einige Jahre durch das Land und engagierte sich als öffentlicher Sprecher für die amerikanischen Ureinwohner: "Ich habe niemals vergessen, dass ich ein Indianer bin. Kein Indianer könnte das vergessen. Wir haben in diesem Land gelebt, lange bevor der weiße Mann an seine Küsten kam. Es sollte den Indianern ermöglicht werden, den eigenen Minderwertigkeitskomplex abzulegen und wie ein normaler amerikanischer Bürger zu leben."
Auch wenn er weder das genaue Datum, noch den genauen Ort seiner Geburt jemals erfuhr: Jim Thorpe wusste Zeit seines Lebens genau, wo seine Wurzeln liegen und wer er selbst ist. Und sein Vermächtnis hat in vielerlei Hinsicht seinen Tod überdauert.