Man konnte sich dem Eindruck nicht erwehren: Jon Robinson schien sich rechtfertigen zu müssen. Die Tennessee Titans hatten gerade Derrick Henry in der zweiten Runde gedraftet und damit nach Free-Agency-Verpflichtung DeMarco Murray innerhalb weniger Wochen erneut wertvolle Ressourcen in einen zweiten Power-Back gesteckt.
Legendengeschichte: Jim Thorpe, der "größte Sportler der Welt"
Titans-Geschäftsführer Robinson stellte daher im MMQB klar: "Teams spielen inzwischen sehr viel Sub-Defense, also mit mehr Defensive Backs. Um das zu kontern, können wir ein "größeres" Spiel aufziehen und, wenn man so will, einige der kleineren Gegenspieler aus dem Weg räumen. Gleichzeitig verkürzt man die Spiele so und schränkt die Optionen auch für die gegnerische Offense ein."
Eine Strategie also, um simpel formuliert antizyklisch zu agieren und dem aktuellen Trend in der NFL einen Schritt voraus zu sein. Die Titans wollen den ligaweit enormen Fokus auf das Passspiel - zwölf Quarterbacks knackten 2015 die 4.000-Passing-Yard-Marke - ausnutzen. Es ist ein mehr als interessantes Experiment, eine Rückkehr zu den alten Football-Wurzeln. Und ein Zahlenspiel.
Der Aufstieg der Defensive Backs
Dass Football mehr und mehr vom Passing Game dominiert wird, ist längst kein Geheimnis mehr. Zahlreiche Regeländerungen über die letzten zehn Jahre haben den Receivern und die Quarterbacks deutlich mehr Freiräume gegeben, Spread-Elemente aus dem College mit Vier- und Fünf-Receiver-Sets erhalten seit Jahren auch Einzug in der NFL.
SPOX erklärt NFL-Defenses: Der Weg des größten Widerstands
Darauf mussten Defenses reagieren, und das schlägt sich auch rein personell nieder: Defenses setzen mehr und mehr Defensive Backs - also Cornerbacks und Safetys - ein. 2008 nutzten Teams fünf oder mehr Defensive Backs noch bei 43,4 Prozent der Plays. Diese Zahl stieg seither Jahr für Jahr kontinuierlich an und erreichte 2015 mit 63,4 Prozent ihren bisherigen Höhepunkt.
Übersetzung: Nickel- (fünf Defensive Backs gleichzeitig auf dem Platz) und Dime-(sechs DBs) Defenses sind die neue Basis geworden. Die Entwicklung geht weg von einer klaren Front Seven kombiniert mit vier DBs. Slot-Cornerbacks und Hybrid-Spieler, wie etwa Arizonas Safety Deone Bucannon, der letztlich Linebacker spielt, haben so enorm an Wert gewonnen. Es geht um Geschwindigkeit und Vielseitigkeit, immer im Hinterkopf die Frage: Kann ein Spieler covern?
Diese nahe an die Obsession gehende Fokussierung auf das Passspiel hat unter anderem dafür gesorgt, dass im Draft etwa ein Andrew Billings bis in die vierte Runde gefallen ist - ein sehr guter D-Line-Man, der seine Stärken aber in der Run-Defense hat. Diese Spielertypen haben schlicht an Wert verloren, und genau das öffnet die Tür für das Oldschool-Football-Experiment: Die Rückkehr zu physischer O-Line und effektivem Run Game.
Alles andere als tot
Passend dazu zunächst der Blick in die Vergangenheit. In die 2015er Regular Season, um genauer zu sein. Die Statistiken beweisen: Das Running Game ist alles andere als tot. Insgesamt neun Teams (Carolina, Buffalo, Seattle, Minnesota, Houston, Chicago, Cincinnati, Tampa Bay und Arizona) hatten über 450 Rushing-Versuche und vier Teams hatten mehr Rushing- als Passing-Versuche.
Zwei aus diesem Quartett beendeten die Saison unter den vier besten Teams, was Yards pro Run angeht: Die Buffalo Bills mit 4,8 Yards pro Lauf sowie die Minnesota Vikings (4,7). Die anderen beiden Offenses mit mehr Runs als Pässen? Die Seattle Seahawks sowie der amtierende NFC-Champion Carolina. Vor allem das Run Game der Panthers beeindruckte auch mit Power Blocking.
Es beweist, dass eine Offense, die um ein Running Game herum aufgebaut wird, nicht nur funktionieren kann - sie kann vielmehr auch dominant sein und einem Spiel genauso den Stempel aufdrücken wie eine Spread-Offense mit vielen schnellen Pässen wie etwa die der Patriots.
Zeit also für einen Blick ins Detail.
Mit Power und mit Pull
Eine "Exotic Smashmouth"-Offense hatte Titans-Coach Mike Mularkey bereits angekündigt, bevor sich die Titans im Draft Henry schnappten. Ähnlich wie auch die Dallas Cowboys will Tennessee seine Offense großzügig mit Power-Running-Elementen (keine Offense spielt ausschließlich Power- oder ausschließlich Zone-Blocking) spicken, um so mit physischem Run Game das Spiel zu diktieren.
Was aber bedeutet "Power Run Game" eigentlich? Im Gegensatz zum Zone-Run-Game haben die Offensive Linemen konkrete Gegenspieler zugeordnet und so will die Offense gezielt Überzahlsituationen für seine Blocker schaffen. Geht der Run also beispielsweise nach links, blocken der linke Tackle und der linke Guard häufig einen Gegenspieler gemeinsam. Von der rechten Seite kommt der Right Guard zu Hilfe - man spricht dabei von "Pulling" - und kümmert sich um den äußersten D-Liner. Ergänzt wird das oftmals noch durch einen blockenden Fullback, der direkt den Linebacker oder den Edge-Defender auf der Seite übernimmt. Auch ein Tight End kann als Edge-Blocker zusätzlich eingesetzt werden.
SPOX erklärt NFL-Offenses: In der Vielfalt liegt die Kraft
Die Offense hätte dann also vier bis fünf Blocker links vom Center - in aller Regel ein eindeutiger numerischer Vorteil. Dieser Vorteil wird noch signifikanter, wenn die Defense in Nickel- oder Dime-Formationen spielt: Gegen die schnelleren, aber leichteren Defensive Backs haben O-Line-Men und Fullback entschieden leichteres Spiel und die ohnehin forcierten Überzahlsituationen der Offense können so für die Defense verheerend werden.
Das gilt umso mehr, wenn die Defense eine "Light Box" spielt, also nicht mehr als sechs Spieler in unmittelbarer Nähe zur Line of Scrimmage postiert. Ebenfalls eine regelmäßige Konsequenz aus Nickel- und Dime-Defenses, wenn Linebacker für Defensive Backs geopfert oder durch Hybrid-Spieler ersetzt werden.
Ein Rückfall in die 70er Jahre ist deshalb aber noch lange nicht zu befürchten.