Wenn die New England Patriots beim Super Bowl LI in Houston (Montag, 0.30 Uhr live auf DAZN - mit deutschsprachigem Kommentar und dem Originalton) auf die Atlanta Falcons treffen, wird es Matt Patricias Aufgabe sein, die Offense der Falcons zu stoppen. Der Defensive Coordinator der Pats hätte genauso gut auf Flugzeugträgern arbeiten können, stattdessen vertraut Bill Belichick seinen Fähigkeiten. Hat Patricia eine Defense zusammengestellt, die Matt Ryan und Co. stoppen kann?
Spox"It's not rocket science" sagt man im Englischen, wenn etwas nicht sonderlich kompliziert ist: "Es ist doch keine Raketenwissenschaft". Kein Hexenwerk eben, nichts Besonderes.
Defense in der NFL ist kompliziert. Man muss auf die Plays der gegnerischen Offense reagieren, die immer ausgefeilter werden, gleichzeitig wird der erlaubte Körperkontakt immer weiter zurückgefahren. Immer mehr Passing, immer mehr Spread Offense, immer mehr Raffinesse. Die Öffentlichkeit will Scoring sehen, denn Offense treibt die Einschaltquoten und schafft Superstars. Da kommt ein guter Gameplan in der Defense der "Rocket Science" schon ziemlich nahe.
Kein Wunder, dass die New England Patriots in ihrer Defense auf einen waschechten Raketenwissenschaftler vertrauen.
Seitenlinie statt Atom-U-Boot
Matt Patricia ist der Mann, der seit 2012 mit dem Posten des Defensive Coordinators betraut und damit die rechte Hand von Head Coach Bill Belichick ist. 42 Jahre alt, in seiner Erscheinung so ziemlich das Gegenteil dessen, wie man sich einen NASA-Techniker vorstellt. Oder doch genau der Prototyp eines Zahlen-versessenen Nerds? Wie auch immer: Hat man ihn an der Seitenlinie der Pats erst einmal wahrgenommen, vergisst man ihn so schnell nicht wieder.
In seiner Statur ist er einem Lineman ähnlich, dazu kommt meist ein knallrotes Oberteil - je nach Wetterlage ein langärmliges Shirt, Kapuzenpullover oder Jacke - und die verkehrt herum aufgestülpte Patriots-Basecap, ebenfalls rot. Das linke Ohr ist vom Headset verdeckt, hinter dem rechten steckt fast immer ein gelber Bleistift. Und sein Gesicht verbirgt Patricia hinter einem wild wuchernden Vollbart, in dem so langsam die ersten grauen Haare sichtbar werden.
Zu finden ist er am Gameday standesgemäß zumeist an der Seite seines Vorgesetzten, wo er die Freiheit hat, der Defense nach eigenem Gutdünken Spielzüge anzusagen. Dieses, man muss schon fast sagen: Vorrecht, hat er sich über viele Jahre erworben - und gut möglich, dass er sein Erscheinungsbild mit den Jahren an Hoodie-Connaisseur Belichick angepasst hat. Frei nach dem Motto: "Was kümmert mich mein Äußeres, im Hirn wird die Musik gemacht."
Als Patricia 2004 nämlich bei den Pats anheuerte, sah er noch ganz anders aus, mit kurzen Haaren und Henriquatre. Und er hätte genauso gut für ein sechsstelliges Gehalt auf Atom-U-Booten oder Flugzeugträgern arbeiten können.
Von ganz unten an Belichicks Seite
Doch der Absolvent der Luftfahrttechnik am Rensselaer Polytechnic Institute (gut 200 Kilometer westlich von Boston), der auf dem College selbst Football gespielt hatte (Guard), gab seiner Leidenschaft nach, verzichtete auf ein kuscheliges Gehalt und wurde 1999 lieber Coach der Defensive Line am Amherst College. Für weniger als zehntausend Dollar pro Jahr. "Jeden Herbst habe ich das frisch gemähte Gras auf den Footballfeldern gerochen. Und dann dachte ich wieder an Football", erinnert er sich an seinen Karriereknick.
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Der sich auszahlen sollte: Bill Belichick suchte ein paar Jahre später nach einem Coaching Assistant für die Offensive - ganz unten auf der Karriere-Leiter, Einstiegsgehalt und Überstunden inklusive - und Patricia bekam nach einem erschöpfendem Vorstellungsgespräch seine Chance. Beinahe hätte er sie verpasst, weil er nach der telefonischen Zusage zuerst noch mit seiner Frau sprechen wollte.
Am Ende ging alles gut aus und Patricia arbeitete sich mit Football-Intelligenz, Innovationsgeist und unermüdlichem Arbeitseifer nach oben. 2006 stieg er vom O-Line-Assistant zum Linebacker-Coach auf, 2011 Safeties, 2012 schließlich der Job des Coordinators, dazu nach und nach das Playcalling. Der Sohn zweier Lehrer hatte sich selbst als hervorragender Lehrmeister herausgestellt, auf den sogar Superstars wie Tedy Bruschi und Junior Seau hörten. Darüber hinaus läutete er in Sachen Organisation und Filmstudium das digitale Zeitalter ein: weg von Stift und Zettel hin zu Excel-Spreadsheets.
Patricia = Spickzettel
Was zeichnet die von Patricia geführte Defense aus? Vor allem sind sie dank der fast schon exzessiven Vorbereitung ihres Maestros auf jede Kleinigkeit vorbereitet. "Das ist wie ein Spickzettel in der Prüfung", sagte Ex-Patriots-Linebacker Jerod Mayo gegenüber dem MMQB. "Als hätte man die Antworten schon im Voraus." Patricia war es gewesen, der im Super Bowl 2014 kurz vor Schluss Malcolm Butler in die eigene Endzone beorderte - als hätte er den Passspielzug von Russell Wilson vorhergesehen. Butler fing die Interception, der Rest ist Geschichte.
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Es ist nicht so, als handle es sich dabei um eine Ausnahme. Seit 2012 gehörten die Pats in jeder Saison zu den Top Ten bei zugelassenen Punkten, seit Patricia auf der defensiven Seite des Balles tätig ist, hat man diese Marke nur einmal verpasst. 2010 (+28) und 2012 (+25) führte man die Liga im Turnover Differential an.
Und das, während Leistungsträger getradet oder gehen gelassen werden: Nahezu ohne Qualitätsverlust werden sie in Foxborough ersetzt. Es liegt auch an Patricia, dass sich die Patriots darauf spezialisiert haben, auf der einen Seite Stars ziehen zu lassen, und andererseits unauffällige oder gar gescheiterte Projekte nach New England zu holen. Belichick vertraut darauf, dass eine intensive Dosis Patricia-Coaching ganz neue Seiten bei seinen Spielern wecken kann. Eric Rowe zum Beispiel. Einen Viertrundenpick war ihm der unauffällige Corner der Philadelphia Eagles vor der Saison wert - gegen die Falcons könnte er eine entscheidende Rolle spielen.
Schleppender Start ins Jahr 2016
Dabei ist noch nicht lange her, da fragte sich die Fangemeinde in Boston, ob sich Belichick und Patricia diesmal übernommen hatten. Mayo hatte seine Karriere beendet, Chandler Jones wurde in der Offseason getradet - und dann gab man vor der Trade-Deadline auch noch Jamie Collins ab. Mit der gezeigten Leistung von Collins war man zwar nicht zu hundert Prozent zufrieden, dennoch bedeutete es eine weitere Schwächung für die Defense.
Atlantas Offense: Ein Raubtier mit vielen Zähnen
Und die hatte einen eher wackligen Start in die Saison hingelegt. In Week 2 ließ man gegen die Dolphins 457 Yards zu, die Ausbeute an Sacks und Turnovern ließ lange zu wünschen übrig - und bei Third Down bekam man den Gegner zu selten vom Feld. Es ging soweit, dass Patricia Ende November gefragt wurde, ob er von seiner eigenen Leistung enttäuscht sei. Dabei stand das Team zu diesem Zeitpunkt wohlgemerkt bei 8-2.
Eine viel zu negative Frage sei das, wehrte der sich, und überhaupt: Die Saison sei noch lang. "Wir wollen uns steigern, darauf liegt unser Hauptaugenmerk. Wenn man in die Saison startet, weiß man, dass die Dinge sich ändern - ob nun Personal, Scheme oder andere Dinge. Da setzen wir an und passen uns an." Wichtig sei es, ruhig zu bleiben, weder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt.
Seinen Spielern hatte er diese Weisheit bereits eingeimpft. "Matty P macht mit dem Game Plan einen tollen Job", sollte Dont'a Hightower später erklären, als die Pats in den Super Bowl eingezogen waren und die letzten neun Gegner im Schnitt bei 13,3 Punkten gehalten hatten. "Früh in der Saison hatten wir ein paar Neue, deshalb waren die Calls nicht so kompliziert. Jetzt wissen alle, wie es läuft, deshalb sind wir anpassungsfähiger, beweglicher, und [Patricia] kann uns in verschiedenen Situationen unterschiedlich einsetzen."
Pats-Defense: Vielseitig und aggressiv
Die Vielseitigkeit der Patriots-Defense ist vielleicht der größte Trumpf vor dem Duell mit Atlanta. Die Falcons haben es in dieser Saison meisterhaft verstanden, schwer ausrechenbar zu sein und die Schwächen des Gegners gezielt zu attackieren - sei es ein Linebacker in Coverage oder einen Defensive Back im Running Game. Patricia hat im Gegenzug jedoch ein Arsenal an Spielern zur Verfügung, die gleich auf mehrfach Positionen einsetzbar sind. So kann seine Defense einerseits auch ohne Auswechslungen gut gegen den Run oder den Pass gerüstet sein - und ist andererseits etwa für die Pass Protection der Falcons schwerer zu lesen.
Es beginnt mit den Safeties Patrick Chung und Devin McCourty: Chung kann in Coverage von Running Back bis Tight End fast alles verteidigen und gegen den Run als Linebacker aushelfen. "Lasst es mich so sagen: Ohne Chung", erklärte Belichick jüngst, "müssten wir unsere Defense anders spielen." Ex-Cornerback McCourty kann nicht nur "Centerfield" spielen, sondern auch in Coverage eingesetzt werden - in dieser Rolle bringt er auch hervorragende Tackling-Fähigkeiten mit.
Cornerback Logan Ryan, oft im Slot eingesetzt, glänzt ebenfalls als Tackler (92 Tackles, mehr als jeder andere Cornerback in dieser Saison) und hilft so dabei, selbst in der Nickel-Formation (fünf Defensive Backs) gegen den Run bestehen zu können. Middle Linebacker Dont'a Hightower gibt seinerseits hin und wieder den Pass Rusher, und Lineman Trey Flowers ist je nach Down and Distance auf mehreren Positionen in der Line einsetzbar. Generell spielt die Line mit Malcom Brown und Alan Branch seit Wochen auf sehr hohem Niveau.
Gegen den Run bieten die Patriots oft gleich fünf Mann an der Line of Scrimmage auf, die Gaps werden aggressiv von den Inside Linebackern attackiert. Auf dem Papier eine riskante Variante, aber mit variablen Cornern und Safeties kann man in der Secondary in Man-to-Man-Defense gegenhalten und so enormen Druck erzeugen.
Wie stoppt man Atlanta?
Resultat: Man kann nicht so einfach auf das Lineup der Pats-Defense zeigen und eine Schwachstelle ausmachen. Stattdessen muss man sich fragen, wo denn beim nächsten Snap das Double Team vermieden und der extra Pass Rusher geblockt werden muss. "Die Spieler sind austauschbar, sie können Pass-Rusher, Linebacker, Corner oder Safety sein", hat auch der gegnerische Offensive Coordinator Kyle Shanahan erkannt.
Julio Jones: Teamplayer, Leisetreter, Alleskönner
Patricias Gameplan gegen die Falcons dürfte mit der Frage beginnen, wie er Julio Jones verteidigen will. Ein Double-Team mit Corner plus tiefem Safety darf man wohl erwarten: "Er und Matt Ryan harmonieren sehr gut miteinander. Da wird schon mal eine Route geändert, weil sie sich der Coverage anpassen und [Jones] den freien Raum findet."
Wird es Top-Corner Malcolm Butlers Aufgabe, Jones über das gesamte Feld zu beschatten? Eine mögliche Variante wäre auch Rowe, mit 1,85 Metern Jones immerhin annähernd gewachsen. Butler, der häufig nicht den physischsten, größten gegnerischen Receiver übernimmt, könnte dann etwa den pfeilschnellen Taylor Gabriel aus dem Spiel nehmen, Logan Ryan bekäme es mit Mohamed Sanu zu tun.
Zusammengefasst: Die Patriots haben das Arsenal, um dem vielseitigen Offensivspiel der Falcons - in den letzten acht Spielen haben sie immer beim ersten Ballbesitz gepunktet - zu trotzen, ohne gleichzeitig allzu offensichtliche Schwachstellen zu bieten. Auf der anderen Seite hatte es New England in dieser Saison kaum mit Top-Offenses zu tun - laut Football Outsiders haben die Pats den leichtesten Defensive-Schedule aller Teams gespielt.
Im Super Bowl wartet da ein ganz anderes Kaliber. Welche Taktik die erfolgsversprechendste ist, muss am Sonntag der Raketentechniker entscheiden.