Phasenweise schleppte sich die Seahawks-Offense in den vergangenen Wochen fast durch die Saison, vor allem das Running Game, einst Rückgrat und Säule in Seattle, kränkelte. Zum Playoff-Auftakt gegen Detroit explodierte die Rushing-Offense dann förmlich - auch dank einer Umstellung. In Atlanta wird ein solcher Auftritt von Thomas Rawls und Co. umso wichtiger - jedoch auch umso schwieriger. Zu sehen gibt es das Duell gegen die Falcons am Samstagabend ab 22.35 Uhr live auf DAZN!
18.
Nein, es ist nicht die Zahl der Rushing-Touchdowns, die Seattle in dieser Regular Season fabrizierte. Es ist auch nicht die Zahl der explosiven Seahawks-Runs (Läufe von wenigstens 20 Yards) 2016. Es ist nicht einmal die Platzierung der Seahawks was Yards pro Run angeht.
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18 steht vielmehr für die Anzahl der Spieler, die für Seattle 2016 als Rusher in Erscheinung getreten sind - 18 (!) verschiedene Rusher in einer Saison, das hat es ligaweit seit der 1987er Streik-Saison in der NFL nicht mehr gegeben.
"Das ist eine lange Liste", gab auch Hawks-Coach Pete Carroll nach Ende der Regular Season, von einem Reporter darauf angesprochen, ganz offen zu. "Ich hatte diese Statistik kürzlich bereits bemerkt. Es zeigt, dass wir auf dieser Position keine richtige Kontinuität gefunden haben. Das ist uns nicht gelungen."
Das schwere Lynch-Erbe
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Der Rücktritt von Marshawn Lynch ging in der Berichterstattung über den vergangenen Sommer fast ein wenig unter, so stark hatte Thomas Rawls in der zweiten Saisonhälfte 2015, als Lynch bereits verletzt ausfiel, gespielt. Und nicht nur das: Seine Explosivität und Aggressivität erinnerten gar stark an Lynch. Der Nachfolger des Spielers, der über mehrere Jahre Seattles offensives Rückgrat war, schien somit bereits im Startblock zu stehen.
getty"Wir waren wirklich gespannt auf Thomas", fuhr auch Carroll fort, "dann hat er sich im zweiten Spiel das Bein gebrochen. Er hatte bis spät in der Saison keine wirkliche Chance, auf 100 Prozent zu kommen." Stattdessen startete Christine Michael stark - und wurde überraschend zur Saisonmitte entlassen. Mit 469 Rushing-Yards in neun Spielen im Seahawks-Trikot ist Michael trotzdem Seattles Leading-Rusher 2016.Womöglich hätte sich C.J. Prosise diesen Titel sichern können. Doch auch der vielversprechende Rookie verletzte sich in Week 11, nachdem er gerade sein mit Abstand bestes Saisonspiel beim Auswärtssieg in New England abgeliefert hatte. Immerhin: In Atlanta könnte Prosise sein Comeback geben. Carrolls Fazit: "Was unter dem Strich passiert ist? Viele Jungs haben schlicht die Gelegenheit erhalten, sich festzubeißen und weitere Snaps zu bekommen. So war es eben in diesem Jahr."
Breakout-Spiel gegen die Lions?
Das Resultat daraus war allerdings auch dieses: Seattle verzeichnete zehn Mal in der Regular Season unter 100 Rushing-Yards - zwischen 2012 und 2015 war ihnen das insgesamt nur neun Mal passiert. Mit je ein Mal Rawls (Week 13) und Michael (Week 3) gab es auch nur zwei individuelle 100-Yard-Rusher. Rawls kam zwar in der zweiten Saisonhälfte solide zurück, verzeichnete über die letzten drei Saisonspiele allerdings bei 37 Runs lediglich 57 Yards.
Aaron Rodgers und die Packers-Offense: Der Meister der Gefahr
Doch das Bild der Seahawks-Offense änderte sich am vergangenen Samstag schlagartig, als Seattle seinen Playoff-Auftakt gegen die Detroit Lions bestritt. Rawls, der sich vor seiner Verletzung in Week 2 bereits über große Teile des Sommers von einem Knöchelbruch erholt hatte, explodierte zu 161 Yards bei sechs Yards pro Run. Mit 107 Rushing-Yards in der ersten Hälfte brach er gar den einst von Lynch aufgestellten Playoff-Rekord.
Wie sehr der Schatten von Beast Mode noch über allem schwebt, wurde in Rawls' Reaktion nach dem Spiel deutlich. Auf die geknackte Bestmarke angesprochen antwortete Rawls fast ehrfürchtig: "Das bedeutet mir viel. Marshawn? Marshawn Lynch? Ich habe zu ihm aufgeschaut, und tue das immer noch."
"Das Spiel, auf das wir gewartet haben"
Vor allem die Art und Weise, wie Rawls Yard auf Yard erlief, erinnerte endlich wieder an Lynch. Mit Power durchbrach er Tackling-Versuche, Lücken in der Line of Scrimmage attackierte er mit höchster Aggressivität. "Ich kann euch sagen: Das ist das Spiel, auf das wir gewartet haben", grinste Carroll anschließend.
Gleichzeitig aber, und das dürfte Carroll noch besser gefallen haben, war Rawls' Gala-Vorstellung eine Team-Leistung. Denn die Seahawks stellten sich am Samstag in einem Bereich merklich um: Fullback Marcel Reece erhielt 33 Snaps und stand damit bei 45 Prozent der Offense-Snaps auf dem Platz - mit Abstand sein Saison-Höchstwert (nie über 18 Snaps während der Regular Season) in Seattle.
Zuvor hatte Seattle während der Regular Season in 16 Spielen für zusammen gerechnet lediglich 107 Snaps einen Fullback auf dem Platz. Eine deutliche Anpassung der eigenen Offense: Rawls hatte während der Regular Season sieben (von 109) Laufversuche hinter einem Fullback. Gegen die Lions waren es laut ESPN Stats zehn Runs für 68 Yards hinter dem blockenden Reece aus der I-Formation heraus.
"Das war unser Plan. Marcel ist jetzt seit einigen Wochen hier, und wir wollten ihn stärker in den Game Plan involvieren", verriet O-Line Coach Tom Cable - und brachte es anschließend treffend auf den Punkt: "Wenn man darüber nachdenkt, sahen wir eher so aus, wie wir früher immer gespielt haben."
Klappt das Run Game auch in Atlanta?
Genau das ist der Schlüssel aus Sicht der Seahawks mit Blick auf die weiteren Playoffs. Die Defense wird trotz starker Front Seven ohne den verletzten Earl Thomas nicht so dominieren können, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war. Deshalb muss das eigene Running Game die Defense entlasten, indem Seattle wieder die Ballbesitzzeit bestimmt. Das wird gegen die herausragende Falcons-Offense umso mehr entscheidend sein.
Dabei steht dann neben Reece, den aktuell noch eine leichte Fußverletzung plagt, auch die Offensive Line im Fokus: Die Rookie-O-Liner George Fant und Germain Ifedi wirken mitunter noch verloren, Football Outsiders hat die Seahawks im Run-Blocking als siebtschwächste Line.
Gegner Atlanta könnte den Run mit seiner schnellen Front darüber hinaus merklich aggressiver spielen als Detroit, allein auch schon vom Grund-Scheme her: Agieren die Lions nicht selten mit zwei tief postierten Safetys, spielen die Falcons - genau wie Seattle selbst - primär mit nur einem tiefen Safety. Damit stehen mehr Spieler in der Nähe der Line of Scrimmage zur Verfügung.
Die ungewohnte Auswärtsschwäche
Und dann wäre da noch die Frage nach der Auswärtsschwäche der Seahawks. Während Seattle in dieser Saison sieben seiner acht Heimspiele sowie das Playoff-Duell mit Detroit für sich entschied, gelangen auswärts nur drei Siege (vier Pleiten, ein Unentschieden).
In den vergangenen Jahren gab es derart deutliche Splits nicht: Die Kombination aus starker Defense und dominantem Running Game übertrug sich nicht selten nahtlos auch auf Auswärtsspiele, im Zusammenhang mit dem kränkelnden Run Game scheint dieser Trumpf ein wenig verloren.
Das spiegelt sich auch bei Quarterback Russell Wilson, dessen zunehmend starke Beweglichkeit ebenfalls im Running Game helfen sollte, wider: 7,6 Yards pro Pass, 17 Touchdowns und vier Picks gelangen Wilson in dieser Saison zuhause - dem gegenüber stehen 6,9 Yards pro Pass, acht Touchdowns und acht Interceptions auf des Gegners Platz. In Atlanta wird das anders aussehen müssen, wollen die Seahawks mithalten.
Die Wildcard-Verlierer: Umbrüche, Baustellen und die Eli-Frage
Bleibt noch die Auflösung der eingangs erwähnten Statistiken. Die Seahawks beendeten die 2016er Regular Season mit 13 Rushing-Touchdowns (Rang 16), elf explosiven Runs (Rang 17) und 3,9 Yards pro Run (Rang 24) - viel mehr Mittelmaß geht eigentlich kaum. Der Playoff-Auftakt hat Hoffnungen geweckt, dass die Offense pünktlich zur Postseason einen elementaren Bestandteil ihrer eigenen Identität der vergangenen Jahre wiederentdeckt hat. In Atlanta gibt es die Chance, genau das zu beweisen.