Es spielt fast keine Rolle, wen man fragt. Durch die Bank weg scheint jeder Receiver, der jemals mit Tom Brady zusammengespielt hat, nur Lob und Anerkennung parat zu haben. "Er hat alles dafür getan, um mich unter seine Fittiche zu nehmen", verrät etwa Julian Edelman, Bradys aktuelles Lieblingsziel, im Gespräch mit der Sports Illustrated. "Ich war ein Niemand und wollte einfach besser werden. Tom hat mit mir gearbeitet."
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Edelman, ein ehemaliger Quarterback und Siebtrunden-Draft-Pick, hatte zuvor mitbekommen, dass Brady und Wes Welker über die Offseason gerne zusammen trainierten und klar gemacht, dass er gerne daran teilnehmen würde.
"Ich war dann beispielsweise bei einem Barbecue, Tom rief an und ich habe alles stehen und liegen gelassen, bin zu ihm gefahren und habe 100 Bälle gefangen", erzählte Edelman weiter. "Ich bin gelaufen, bis ich mich übergeben musste. In diesem ersten Jahr hat er mich bis zum Umfallen durch die Gegend gescheucht."
Die Herausforderung Deflate Gate
Dabei korrigierte Brady jedes kleinste Detail, und Edelman nahm die Verbesserungen dankbar an. Und so besonders das für den jungen, unbekannten Receiver auch war - für Brady war es ein ganz normales Verhalten. Seit jeher hat er eine sehr gute und intensive Beziehung zu seinen Receivern, ob als Mentor, oder selbst als junger Quarterback.
Gemeinsame Workouts waren ein fester Bestandteil. Einerseits um eine gemeinsame Chemie zu entwickeln, andererseits aber auch, um selbst im Rhythmus zu bleiben. Und so dürfte es eigentlich kaum jemanden überrascht haben, dass Brady von dieser Routine auch im vergangenen Spätsommer und Herbst nicht abrückte. In jenem aus Bradys Sicht vielleicht schwierigsten Karriere-Abschnitt.
Die Patriots-Offense erklärt: Wie eine Schachtel Pralinen
Denn nachdem sich die Verhandlungen rund um den Deflate-Gate-Skandal über Monate hingezogen und eine Berufungsverhandlung die andere abgelöst hatte, zog Brady im Juli den Schlussstrich. Kein Einspruch mehr, er würde die ersten vier Saisonspiele gesperrt verpassen. Mit allen Konsequenzen drum herum - denn dazu gehörten auch die Fragen nach seiner Zukunft.
Schließlich wurde Brady im August 39 Jahre alt und hatte im AFC Championship Game in Denver im Januar vor einigen Monaten eine heftige Abreibung von der Broncos-Defense bekommen. Jimmy Garoppolos Rookie-Vertrag lief nach der 2017er Saison aus. Wie würde die Zukunft aussehen? Wann (und an wen) gäbe es die Zepter-Übergabe? Was würde passieren, wenn Garoppolo die ersten vier Spiele komplett überzeugt und Brady, wie bei Peyton Manning gerade geschehen, danach Probleme bekäme?
Der unbekannte Sparring-Partner
Im Rückblick sind es fast absurde Fragen, die meilenweit entfernt scheinen. Damals jedoch wurden sie mehr als ausführlich diskutiert, genau wie der mögliche Schaden seiner Legacy. Doch die für Brady viel gravierendere, akutere Konsequenz: Im Zuge der Sperre durfte er auch vier Wochen lang nicht mit dem Team trainieren.
Es dürfte jedoch kaum überraschen, dass er sich davon zumindest seinen Rhythmus nicht nehmen lassen würde. Die Patriots stellten den Kontakt mit Ryan McManus her, einem Rookie, der es in keinen NFL-Kader geschafft hatte - auch nicht bei den Pats, wo er im Mai im Rookie-Mini-Camp hatte vorspielen dürfen.
Und so traf sich Brady mit dem All-Ivy-League-Receiver über die letzten beiden Wochen seiner Sperre, um zu trainieren. McManus, der über den Sommer einen Job als Marketing-Direktor angefangen hatte, packte seinen Laptop ein und arbeitete via Home-Office von der Couch eines Freundes, um Brady auch früh am Morgen auf einem High-School-Platz zur Verfügung zu stehen.
"Wir haben verschiedene Dinge gemacht", berichtete McManus dem Boston Globe. "Meist lief ich eine Route, blieb dann dort, wo ich den Ball gefangen hatte, stehen, und dann warf er noch einen Pass. Danach gab es die nächste Route. Er hat sich bei jeder Übung selbst analysiert, und sichergestellt, dass seine Bewegung richtig ist und er seinen Körper richtig positioniert."
"Mich hat das überhaupt nicht überrascht"
Hätte danach jemand den nur 1,80 Meter großen Receiver, vom Körperbau her Edelman gar nicht unähnlich, gefragt - Bradys daran anschließend herausragende Saison hätte wohl niemanden auch nur ansatzweise geschockt. "Vielleicht lag es daran, dass ich mit ihm gearbeitet habe und gesehen habe, in welcher Verfassung er war und wie sehr er wieder spielen wollte", verriet McManus weiter, "aber mich hat das überhaupt nicht überrascht."
So oder so, Brady war ab dem ersten Spiel ganz der Alte - und teilweise sogar noch besser. Die Storyline, wonach der 39-Jährige aufgrund seiner Suspendierung innerlich brodelte und sich an der Liga, Goodell und der Welt rächen wollte, war so schmerzhaft naheliegend, dass sie prompt auch jeder aufgriff.
Vielleicht kam dadurch auch ein kleines Extra-Prozent zustande, doch wer sich mit Brady beschäftigt, merkt: So schön simpel die Geschichte auch war, so wenig Tiefgang hatte sie.
Julian Edelman im Porträt: Ein Eichhörnchen als Alleskönner
Der vierfache Super-Bowl-Champion will vielmehr schlicht immer gewinnen, egal wie die Umstände sind. Und Rache ist dabei nicht wirklich sein Antrieb. Das brachte sein Vater im Gespräch mit der New York Daily News jüngst treffend auf den Punkt: "Er hegt keinen Groll, das hat er noch nie getan. Es klingt vielleicht naiv, aber so ist er. Ich habe ihn noch nie ein böses Wort über irgendjemanden sagen hören."
Und so passt es, dass Brady seine Suspendierung auch zu einigen Momenten der Ruhe nutzte, um über den Tellerrand hinaus zu schauen und sich Zeit für andere Dinge zu nehmen: Ein Kurztrip mit seiner Frau nach Italien, Stadion-Besuche mit dem Sohn bei seinem College Michigan und Golf-Tage mit seinem Vater. "Es wirkte mitnichten so, als ginge es ihm schlecht", erzählte der weiter. "Im Gegenteil: Ich habe ihn schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Er hatte seit 25 Jahren keinen freien September mehr. Er konnte einige Dinge tun, für die er vorher nie Zeit hatte."
Avocadoeis und die gewohnte Patriots-Offense
Und so marschierte die Patriots-Offense und Rückkehrer Brady mit einer selbst für New England erstaunlichen Präzision und Effizienz durch die Regular Season. Die Dominanz der Pats flog dabei fast ein wenig unter dem Radar - einerseits, weil Atlantas Offense, wie auch jetzt vor dem Super Bowl, die Schlagzeilen gehörten. Andererseits aber auch, weil eine starke Offense aus New England inzwischen so überraschend ist, wie eine mürrische Pressekonferenz von Bill Belichick.
Doch sollten die Leistungen nicht einfach so unter den Tisch fallen. Während man Peyton Manning im gleichen Alter in der Vorsaison dabei zuschauen konnte, wie ihn sein Körper im Stich ließ, wirkt Brady so fit wie eh und je. Seine Bewegung in der Pocket ist in den letzten Jahren gar noch besser geworden, und man ist fast ein wenig versucht seinem Vater zu glauben, wenn der sagt: "Ich glaube, er kann noch fünf oder sechs Jahre spielen. Er spielt besser als jemals zuvor."
Ganz so lange muss sich die AFC East vielleicht nicht mehr mit Brady herum schlagen, trotz seiner schon absurd gesunden Ernährung: Avocadoeis ist Trumpf, unter anderem Zucker, Nachtschattengewächse, Weißmehl, Pfeffer und bestimmte Beeren sind tabu. Eine Erdbeere hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gegessen, auch Kaffee trinkt er nie.
Doch dem fünften Ring, mit dem er sich auch vor Joe Montana setzen würde, wird er bis dahin nachjagen. Nicht wegen Goodell - auch wenn Medien sowie die Fans in Foxboro die Geschichte lieben. Auf die Frage, ob er in diesem Jahr zusätzlich motiviert wäre, antwortete Brady nach dem Sieg im Championship Game also: "Das hier, die Jungs im Team, das ist meine Motivation. Deshalb sind wir hier."
Schwer zu greifen
In seiner Konsequenz ging er dabei so weit, dass er seinem Vater zum Wochenbeginn einen medialen Maulkorb verhängte. Der hatte vorher Goodell nämlich öffentlich sehr harsch kritisiert. Brady grinste den Kommentar weg und erzählte stattdessen, wie sehr er seinen Vater bewundere. Sucht man einen Ansatz für eine kritische Betrachtung, hätte man bei Bradys Verbindung zu Donald Trump wohl deutlich bessere Karten - politische Themen allerdings klammert er im Vorfeld des Super Bowls kategorisch aus.
All das führt allerdings auch dazu, dass Brady für die Öffentlichkeit schwer zu greifen ist. Während Patriots-Fans, Team-Besitzer Robert Kraft, diverse Spieler und sein Vater über Goodell und die Deflate-Gate-Sperre lautstark öffentlich schimpfen, hält sich Brady zurück. Stets voll fokussiert auf den Sport, mit möglichst wenigen Gedanken auf die Dinge drum herum. Nur selten bekommt man Einblicke in die Dinge, die ihn treiben und wie er tickt - beispielsweise aus den Erzählungen von McManus oder eben Edelman.
"Es war - alles!"
Letzterer hat mittlerweile Wes Welkers Rolle komplett übernommen, er und Brady trainieren in den Offseasons regelmäßig gemeinsam in Los Angeles. Der Receiver konnte seine Hochachtung für seinen Quarterback kaum in Worte fassen: "Es ist eine Ehre, mit einem wie ihm zusammen zu spielen. Ich habe versucht, wir er zu sein, als ich in der achten Klasse war - und jetzt spiele ich mit ihm in Super Bowls. Das ist eigentlich unglaublich. Es ist etwas Besonderes."
Diesen Tenor bekommt man auch von Bradys Mitspielern aus vergangenen Jahren. Wen man auch fragt. "Ich wurde mein ganzes Leben über gefragt, wie es war, mit Tom zu spielen. Es war - alles!", verriet etwa Ex-Patriots-Receiver Jabar Gaffney der Sports Illustrated und Austin Collie, in der 2013er Saison in New England, fügte hinzu: "Die Identität dieser Franchise sind Siege, und das beginnt mit Tom. Sie haben eine Kultur kreiert, die über eine Person läuft."
Pats-Legende und dreifacher Super-Bowl-Champion Troy Brown fasste all das mit einer kleinen Anekdote zusammen: "Ich habe nie einen anderen Rookie-Quarterback wie ihn erlebt. Er war damals der vierte Quarterback, aber wenn er im Training ran durfte, hat er es den erfahrenen Receivern sofort gesagt, wenn sie etwas falsch gemacht haben. So ist Tom. Er wollte einfach jemandem in den Hintern treten."
Nächstes Ziel dafür: die Atlanta Falcons.