Die Miami Dolphins halten kollektiv den Atem an: Ryan Tannehill droht nach einer erneuten Knie-Verletzung auszufallen. Die Dolphins könnten rund einen Monat vor dem Start der Regular Season plötzlich auf Quarterback-Suche sein. Doch wer wäre überhaupt verfügbar? Wie kam es zu der Verletzung? Und wie aggressiv sollten die Dolphins sein?
Einiges deutet darauf hin, dass die NFL eine ähnliche Situation erleben könnte, wie mit den Minnesota Vikings kurz vor dem Saisonstart im Vorjahr. Sicher, Ryan Tannehills Verletzung wird kaum auch nur ansatzweise so schlimm sein wie die von Teddy Bridgewater damals, und Miami bleibt jetzt noch mehr Zeit um zu reagieren, als das bei den Vikes letztes Jahr der Fall war.
Doch andere grundlegende Parameter lassen sich erneut anwenden: Die Dolphins haben ein talentiertes Team, das sogar aus einer Playoff-Saison kommt. Die Offensive Line ist - wenn alle fit sind - glänzend besetzt, Jay Ajayi ein aufstrebender Running Back und das Receiving-Corps mit DeVante Parker, Jarvis Landry und Kenny Stills hochinteressant. Mit Julius Thomas hat Coach Adam Gase womöglich endlich auch den Tight End, den er für seine Offense braucht.
Fragezeichen in der Secondary und im Linebacker-Corps bleiben, und doch hat Miami Playoff-Potential. Zumindest, wenn die Quarterback-Position einigermaßen geklärt ist, und das führt zum Knackpunkt: Fällt Ryan Tannehill tatsächlich länger aus oder verpasst er gar die komplette Saison, müssten sich die Dolphins um eine Quarterback-Alternative kümmern. Matt Moore genießt intern zu Recht ein hohes Standing, das aber vor allem, weil er ein sehr guter Notnagel ist. Die Rolle des Starting-Quarterbacks ist nochmals eine ganz andere.
Und so stellt sich die Frage: Wie reagiert Miami auf die Tannehill-Verletzung?
Was ist passiert?
Während eines Rollouts sowie anschließenden Scrambles zur rechten Seite im Training stürzte Tannehill, weil er das linke Bein schonte, über die Seitenauslinie - offensichtlich mit Schmerzen an jenem Bein, an dem er aufgrund der Verletzung im Vorjahr noch eine Stütze trägt. Der Vorfall ereignete sich ohne Einwirkung eines Gegenspielers.
In der Folge gab es zunächst leichte Entwarnung, die anschließenden Untersuchungen ergaben, dass im Knie nichts gerissen ist. Dennoch muss sich Tannehill infolge der Verletzung eventuell einer Knie-Operation unterziehen, was das Saisonaus bedeuten würde. Eine konservative Behandlung würde wohl eine Zwangspause von sechs bis acht Wochen nach sich ziehen. Miami könnte auch das Risiko eingehen, Tannehill nach kürzerer Pause wieder spielen zu lassen. Das ist der aktuelle Stand, die Dolphins werden noch eine zweite und dritte ärztliche Meinung einholen, ehe eine Entscheidung getroffen wird.
Tannehill hatte bereits das Ende der vergangenen Saison aufgrund einer Knieverletzung verpasst. Damals hatte er einen Anriss des Kreuzbands erlitten - sich allerdings nicht operieren lassen. Offenbar könnte ihn auch das jetzt die kommende Saison kosten. Das Kreuzband hat zwar keinen erneuten strukturellen Schaden davongetragen, möglicherweise aber ist durch den Vorfall klar geworden, dass das Knie doch operiert werden muss und ohne Eingriff nicht wieder zu 100 Prozent verheilt
Der 29-Jährige hatte in der Offseason darauf bestanden, auf eine Operation wenn irgendwie möglich zu verzichten. Tannehill unterzog sich einer Stammzellen-Therapie, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, da er unbedingt zum Start der Saisonvorbereitung fit sein wollte. Im Falle einer Operation wäre das mutmaßlich nicht der Fall gewesen.
Tannehills NFL-Statistiken im Überblick:
Jahr | Spiele | Pässe | Yards | Touchdowns | Interceptions |
2016 | 13 | 261/389 | 2.995 | 19 | 12 |
2015 | 16 | 363/586 | 4.208 | 24 | 12 |
2014 | 16 | 392/590 | 4.045 | 27 | 12 |
2013 | 16 | 355/588 | 3.913 | 24 | 17 |
2012 | 16 | 282/484 | 3.294 | 12 | 13 |
Welche Quarterbacks könnte Miami holen?
Sollte Tannehill tatsächlich operiert werden müssen und seine Saison damit vorzeitig beendet sein, wird es spannend - Miami könnte dann in verschiedene Richtungen gehen. Die Dolphins könnten sich für einen Trade entscheiden, sie könnten einen der verbleibenden Free Agents verpflichten oder einen der jüngst zurückgetretenen Quarterbacks aus dem Ruhestand holen. Sie könnten allerdings auch Backup Matt Moore vertrauen.
Matt Moore: Offensive Coordinator Clyde Christensen lobte jüngst: "Ich liebe Matt Moore, und es gibt einen Grund, warum wir ihn haben. Ich hoffe, dass er nicht spielen muss, aber falls doch, dann wird er bereit sein." Moore hatte im Schlussspurt der vergangenen Saison einige gute Auftritte, zeigte aber auch klar seine Limitierungen - 721 Yards und acht Touchdowns standen am Ende zu Buche, QB-Coach Bo Hardegree fügte hinzu: "Er ist ein großartiger Quarterback. Ein Profi. Ich denke, das versteht jeder."
Warum könnte Moore Sinn machen? Er wäre nicht nur die günstigste Lösung, Moore kennt auch die Offense und das Playbook. Er wäre per Definition der Platzhalter, ein nahtloser Übergang zurück zu Tannehill wäre problemlos möglich. Und mehr noch: Sollten die Dolphins noch stärker auf das Run Game setzen, könnte Moore die Rolle des unspektakulären Game Managers übernehmen. Mehr allerdings sollte man von dem Routinier nicht erwarten. Gegen gute Defenses hatte er im Vorjahr große Probleme, traf häufig falsche Entscheidungen. Und selbst wenn Moore zunächst die Chance bekommt: Verpasst Tannehill die komplette Saison, muss ein weiterer Quarterback her.
Colin Kaepernick: Der Elefant im Raum. Kaepernick ist nach wie vor auf Team-Suche, nach den Seahawks vor einigen Wochen zeigten jetzt die Baltimore Ravens als erst zweites Team ernsthaftes Interesse. Ebenfalls infolge einer Verletzung, Joe Flacco droht im schlimmsten Fall aufgrund von Rückenproblemen eine mehrwöchige Zwangspause.
Ravens-Besitzer Steve Bisciotti adressierte in diesem Zusammenhang als erster NFL-Team-Besitzer das Thema des Hymnen-Protests ganz offen: "Ich weiß, dass wir damit einige Leute verärgern. Und ich weiß, dass wir andere Leute glücklich machen, wenn wir uns dafür einsetzen. Er hat von seinem Recht Gebrauch gemacht, gewaltloser Protest ist etwas, das wir alle begrüßen. Persönlich mochte ich die Art und Weise, wie er es gemacht hat, nicht. Aber es hat mir gefallen, als er vom Sitzen (auf der Bank) zum Knien übergegangen ist."
Gemäß ESPN-Berichten gibt es intern bei den Dolphins seit Tannehills Trainingsverletzung bereits Gespräche über eine Kaepernick-Verpflichtung. Besonders spannend: Dolphins-Besitzer Steve Ross hatte zu Beginn der Vorsaison offen den Hymnen-Protest unterstützt.
Kaepernick soll im Zuge des Ravens-Interesses erklärt haben, dass er gewillt ist, als Backup zu kommen - insofern macht eine Verpflichtung doppelt Sinn, könnte Miami doch Kaep und Moore den Starter-Platz ausspielen lassen. Sportlich hat Kaepernick in der vergangenen Saison Fortschritte als Passer gezeigt, mit Tannehills Athletik kann er fraglos mithalten.
Problem: Miamis stark kubanisch geprägte Bevölkerung hat deutlich an Kaepernicks positiven Aussagen über Fidel Castro Anstoß genommen.
Robert Griffin III:In puncto "athletischer Quarterback" steht RG3 Kaepernick und Tannehill in nichts nach, zumindest wenn er bei 100 Prozent ist. Das aber ist genau das Thema: Griffin war schon seit einer ganzen Weile nicht mehr bei 100 Prozent. Seit seiner Knieverletzung hat Griffin massiv an Explosivität eingebüßt, in Cleveland zeigte er in der vergangenen Saison wenig, das auf eine Rolle als Starter schließen lässt. Pocket-Verhalten, Timing, Passgenauigkeit - Griffin wird, wo er auch hingeht, viel Coaching und Geduld brauchen. Eine RG3-Verpflichtung würde aller Voraussicht nach bedeuten, dass Moore startet und Griffin lediglich der neue Backup ist.
Jay Cutler: Cutler ist zurückgetreten und hat inzwischen einen Job als TV-Experte, was Fragen über seinen Fitness-Zustand und seine Lust auf ein Comeback aufwirft. Eigentlich gibt es nur einen Grund dafür, dass Cutler inzwischen medial mit den Dolphins in Verbindung gebracht wird: Er kennt Dolphins-Coach Adam Gase noch aus Chicago, wo Gase als Offensive Coordinator gearbeitet hat. Somit sollte er auch mit großen Teilen der Offense vertraut sein.
Die Dolphins scheinen allerdings inzwischen tatsächlich Cutler als erste Option auserkoren zu haben. Laut NFL-Network-Insider Ian Rapoport hat Miami bereits Kontakt zu Cutler aufgenommen und über einen möglichen Deal gesprochen.
Tony Romo: Genau wie Cutler ist auch Romo zurückgetreten und auch die Cowboys haben sich offiziell von ihm getrennt. Dass Romo aber trotz Verletzungssorgen zu den Dolphins kommt, ist mehr als unwahrscheinlich.
Brock Osweiler: In Cleveland hat aktuell Rookie DeShone Kizer die Nase vorne, und auch unabhängig davon haben sich die Browns mitnichten fest an Osweiler gebunden. Der Trade für den in Houston gescheiterten Quarterback wurde primär gemacht, um einen Draft-Pick zu erhalten, das ist kein Geheimnis. Osweiler und Gase kennen sich noch aus Denver, der Quarterback zeigte in der Vergangenheit schon öffentlich seine Bewunderung für den heutigen Dolphins-Coach. Aber: Osweiler könnte zwar nach der kommenden Saison ohne Dead Cap entlassen werden, bringt jedoch für 2017 einen Cap Hit von 16 Millionen Dollar mit.
Und sonst so? Die klassischen Backup-Quarterback-Trades sind natürlich auch denkbar, Cincinnatis A.J. McCarron etwa wird hier immer wieder genannt. Ein verrückteres Szenario wäre ein möglicher Trade für Mike Glennon: Der wurde zwar gerade erst von den Bears aus Tampa Bay geholt, das war aber bevor Chicago Mitchell Trubisky draftete. Sollte Chicago nach den bisherigen Einheiten den Eindruck haben, dass Trubisky früher starten kann, könnten die Bears Glennon direkt wieder abgeben und so ein wenig Draft-Kapital zurück holen.
Fazit: Wie aggressiv sollte Miami sein?
Vorsicht ist trotz allem geboten. Ein Contender ist dieses Dolphins-Team auch mit Ryan Tannehill noch nicht. Gleichzeitig aber ist Miami in verschiedenen Bereichen zu gut besetzt, um eine Saison einfach als Übergang abzuhaken. Matt Moore ist ohne Frage einer der besten Backup-Quarterbacks in der NFL - mit Moore als Starter aber wird es für die Dolphins wohl schwer, auch nur in Playoff-Reichweite zu kommen.
All das führt in der Summe zu einem Drahtseilakt. Tannehill hat 2016 - auch wenn er teilweise noch unter dem Radar blieb - eine starke Saison gespielt. Das gilt für den Deep Ball, genau wie für sein Spiel gegen Pressure und seine Fähigkeit, seine Athletik zu nutzen und aus schwierigsten Winkeln Pässe anzubringen.
Miami wird nicht in der Lage sein, dieses Quarterback-Play zu ersetzen, verpasst Tannehill die komplette Saison. Aber sie werden reagieren müssen. Moore kann ein guter Lückenfüller sein, womöglich auch für die ersten Regular-Season-Spiele. Die Dolphins sollten nicht Haus und Hof für einen neuen Quarterback abgeben, die Situation ist hier anders als die der Vikings vor einem Jahr. Doch klar ist: Gibt es keine Wunderheilung bei Tannehill, wird Miami einen Quarterback mit Starter-Potenzial holen müssen.