Stefon Diggs' sensationeller Walk-Off-Touchdown im Spiel gegen die New Orleans Saints hätte ein Moment werden sollen, der die von bitteren Pleiten in der Postseason geprägte Franchise der Vikings in eine neue Ära führt. Verpasste, spielentscheidende Field Goals oder Shutout-Niederlagen in Conference-Championship-Spielen hätten vergessen werden sollen. Nur eine Woche nach dem getauften Wunder von Minneapolis, ungebremster Euphorie und Vorfreude auf das absolute Highlight der Saison vor heimischer Kulisse schlug aber die Realität wieder einmal zu, und das in einer Härte, die der Franchise nun einige Fragen offen lässt.
Blickt man auf die Art und Weise wie die Saison verlaufen ist, gab es nur wenige Punkte, die vor dem Spiel in Philadelphia gegen das Team von Mike Zimmer gesprochen haben. Ohne Teddy Bridgewater in die Saison gestartet verletzte sich auch Sam Bradford am Knie, in Case Keenum jedoch fand man in seinem dritten Quarterback eine Lösung, die jegliche Erwartungen bei Weitem übertreffen konnte.
Die Kreuzbandverletzung vom bis dahin bärenstarken Rookie-Running-Back Dalvin Cook konnte durch eine Kombination aus Latavius Murray und Jerrick McKinnon kompensiert werden - und mehr als das: Das Two-Men-Backfield stellte plötzlich eine komplett neue Komponente für Minnesotas Offense dar, aus der Play-Action, Screen- und Option-Plays wunderbar funktionierten. Die Fähigkeit, Rückschläge einzustecken und dennoch einen Weg zu finden, bewies man erneut und schlussendlich beim bereits erwähnten Divisional-Round-Sieg, als man eine 17:0-Halbzeitführung aus der Hand gab, nur um schlussendlich ein unerklärliches Play einzuleiten, welches in die Geschichtsbücher einging.
Schon die 21 zugelassenen Punkte in der zweiten Hälfte dieses Spiels waren aber ein Indikator, den in der Woche vor dem Conference-Final nicht allzu viele ernst genommen hatten. Zu stark agierte die Defense der Vikings in dieser Saison. Gar auf Platz 1 wurde sie vom justierten DVOA von Football Outsiders gelistet. Minnesotas Blitzing-Designs zählten zu den effektivsten der Liga. Everson Griffen und Linval Joseph konnten über die gesamte Saison enormen Druck auf Quarterbacks produzieren. Das Linebacker-Corps beherrschte Coverage- und Run-Stop-Aufgaben und die Secondary verhinderte Big Plays.
"Wir haben beschissen gespielt"
Dementsprechend überraschend war der Zusammenbruch, der am Sonntagabend stattgefunden hatte. Eagles-QB Nick Foles, der bis dato keine gute Figur in der Vertreter-Rolle von Carson Wentz abgegeben hatte, agierte wie der Foles, den man von seiner Pro-Bowl-Saison 2013 kannte. Foles hatte vor dem Spiel laut Pro Football Focus gegen Pressure ein Passer Rating von 34,0 verzeichnet, gegen die Vikings katapultierte es auf einen Wert von 152,1. Bei Third Down ließ Minnesota in dieser Saison einen neuen All-Time-Bestwert von gerade einmal 25,2 Prozent Conversion-Rate zu. Philly kapitalisierte jedoch bei 10 von 14 dritten Versuchen.
"Komplett uncharakteristisch für das, was wir in dieser Saison gemacht haben", resümierte Veteranen-Cornerback Terence Newman nach dem Spiel. Konsterniert wirkten die Vikes auch beim tiefen Pass. Missverständnisse, fehlerhafte Zuteilungen und schlichte Fehler der Defensive Backs hatten vier aufeinanderfolgende Completions von Pässen über mindestens 20 Air Yards zu Folge. Zwei davon endeten in der Endzone, unter Anderem ein 53-Yard-Score von Alshon Jeffery - der längste, den die Vikings im ganzen Jahr zugelassen haben.
Die in der Spielzeit hervorragend aufgelegten Cornerbacks Trae Waynes und Xavier Rhodes hatten ein Spiel zum Vergessen. Waynes ließ 6 von 7 Pässen in Coverage an den Mann kommen und erlaubte ein Passer Rating von 158,3. Rhodes konnte keinen der vier Pässe in seine Richtung verteidigen und erlaubte ein Passer Rating von 107,3. Rhodes' fand nach dem Spiel klare Worte: "Wir haben beschissen gespielt".
Und weiter geht die unorthodoxe Statistik-Sammlung aus dem Conference-Game: Denn ließen die Vikings in dieser Saison in der Red Zone nur bei 41 Prozent der Trips einen Touchdown zu. Am Sonntag aber wurde man bei beiden Red-Zone-Trips der Eagles geschlagen. Die 38 aufeinanderfolgend zugelassenen Punkte ohne in der Zwischenzeit selbst zu scoren waren außerdem die meisten aufeinanderfolgend zugelassenen Punkte in einem Conference Championship Spiel seit 2001, als die Giants 41 Punkte aufgelegt haben... gegen die Vikings.
Case Keenum nicht wiederzuerkennen
Doch nicht nur die defensive Seite erwischte einen rabenschwarzen Tag im Lincoln Financial Field. Selbiges muss auch über Case Keenum gesagt werden. Nach einem Opening-Drive-Touchdown adjustierte Philly schnell seine Defense und setzte Keenum bei 48 Prozent der Dropbacks unter Druck. Keenum spielte eine ganz starke Saison und schien vor allem gegen Pressure resistent, Sonntagabend allerdings brachte er in Folge eines Pick-Sixes nur noch 57,1 Prozent seiner Pässe an und warf eine weitere Interception.
Keenum wirkte nicht wie der Quarterback, der sich in diesem Jahr als verlässlicher Playcaller und mit vielen Ausreißern bei ganz starken Performances präsentierte. Er verpasste stattdessen einfache Completions und traf unter anderem beim Pick Six von Patrick Robinson schlimme Entscheidungen. "Vor dem Spiel haben wir das Turnover-Duell als besonders wichtig gepredigt", gab Keenum nach dem Spiel bekannt. "Sie haben aber auf den Ball aufgepasst und wir nicht. Natürlich waren wir zu diesem Zeitpunkt [Pick Six, Anm. d. Red.] noch im Spiel, aber in den kritischen Situationen haben wir es einfach nicht auf die Reihe gebracht."
Auch das Run Game fand für die Vikings nicht mehr statt. Nachdem Murray und KcKinnon im Opening Drive noch 29 Yards ergattern konnten waren es im weiteren Verlauf des Spiels nur noch genau so viele. "Ich werde den Spielern keine Noten geben", erklärte Coach Zimmer im Nachgang. "Es ist nicht die richtige Zeit dafür, Spieler zu kritisieren. Wenn man jemanden kritisieren will, dann mich. Mir macht das nichts aus... Ich hätte aber ein sehr viel besseres Spiel callen müssen."
Wer wird Vikings-Quarterback 2018?
Über 40 Jahre ist es nun her, dass die Vikings letztmals in einem Super Bowl gespielt haben. Die Leute, die diesen nicht mehr in Erinnerung haben werden sich in jedem Fall an die vergebene Chance erinnern, einen im eigenen Stadion zu spielen. Eine vergebene Chance, die die Vikings nun in einer langen und harten Offseason begleiten wird.
In dieser Offseason gilt es für die Vikings an erster Stelle, die Quarterback-Frage zu klären. Keenum, Bradford und Bridgewater haben allesamt auslaufende Verträge. Keenum sollte sich auch trotz dem jüngsten Deja-Vu in die Zeiten unter Jeff Fisher bei den Rams einen teuren Vertrag verdient haben. Werden die Vikings ihm teures Geld zahlen oder wird man sein Vertrauen dem wiedergenesenen Bridgewater schenken? Er jedoch trägt aber genau wie Bradford eine dicke Krankenakte mit sich herum und beide würden sich voraussichtlich mit einem Vertrag zu reduzierten Konditionen abfinden müssen.
Nicht zu unterschätzen ist bei der Quarterback-Diskussion außerdem der Abgang von Offensive Coordinator Pat Shurmur. Shurmur wird in der neuen Saison Head Coach der New York Giants und hinterlässt eine Lücke, die die Vikings wohl gerne durch eine Beförderung im eigenen Hause schließen würden. Quarterbacks-Coach Kevin Stefanski und Offensive-Line-Coach Tony Sparano sind hier die Namen, die derzeit gehandelt werden. Als externe Lösungen scheinen Mike McCoy oder Ben McAdoo zur Wahl zu stehen.
In die Free Agency wird vermutlich auch Running Back McKinnon treten. Die Vikings sind mit Cook und einem für zwei Jahre gebundenem Murray gut und nicht gerade günstig aufgestellt. Ein Vertrag für den vielseitigen Back würde wohl zu teuer kommen.
"Wir haben sie enttäuscht"
Der Großteil des Kaders wird aber auch in der kommenden Saison in lilafarbenen Trikots auflaufen, weswegen es kein weiteres Minneapolis Miracle brauchen wird, um sich von dieser Niederlage zu erholen - auch wenn der Stachel noch eine Weile sitzen wird. Niederlagen dieser Natur sind für die Vikings-Gemeinde wie gesagt kein ungewohntes Bild. Sechs Championship-Games in Folge wurden von potenten Teams in Besetzungen wie dem Randall-Cunningham/Randy-Moss-Duo 1998 oder unter Brett Favre 2009 (beide Teams verloren dramatisch in der Overtime) auf der Strecke gelassen.
Endlich schien man nach der Divisonal Round auf der richtigen Seite einer dramaturgischen Episode zu stehen und endlich schien man das Geschichtsbuch der Vielzahl an Playoff-Niederlagen beiseite legen zu können, nur um im Nachgang festzustellen, dass man nur ein weiteres enttäuschendes Kapitel geschrieben hatte. Viele in Minnesota dachten, dass das Team bereit für einen Super Bowl sei und die Gemeinde für die triste Vergangenheit sogar mit einem entschädigen würde, der im eigenen Hause stattfinden würde.
"Ich denke, dass unsere Fans es verdient gehabt hätten, uns beim Super Bowl im eigenen Stadion sehen zu können", resümierte Tight End Kyle Rudolph. "Wir haben sie enttäuscht."