"Seit fünfzehn Jahren bin ich jetzt ein Raven", sagte Terrell Suggs Minuten nachdem klar war, dass Baltimore die Playoffs verpasst hatte, am letzten Spieltag. "Das hier ist die erschütterndste Niederlage, die ich hier erlebt habe. Ich werde sie niemals vergessen!"
Suggs war sicherlich nicht der einzige, dessen Gemütslage nach dem bitteren Finale ganz weit unten war. Mit 44 Sekunden Restspielzeit verursachte ein Coverage-Breakdown in der eigenen Secondary einen 49-Yard-Touchdown der Cincinnati Bengals, dessen Folge eine 27:31-Niederlage für die Ravens war - die das überraschende Verpassen der Playoffs bedeutete.
Die Ravens waren 2017 eines der konstanteren Teams und erledigten ihre Hausaufgaben in erster Linie dank der gewohnten Stärke auf der defensiven Seite des Balls bis dahin meist zuverlässig. Vor dem letzten Spieltag hatte man sich nur eine Niederlage gegen ein Team erlaubt, welches später nicht in den Playoffs vertreten war. In einer schwachen AFC hätte dies beinahe schon für die Playoffs gereicht. Aber eben nur beinahe.
Schlussendlich war es wie schon im Vorjahr die eigentlich so verlässliche Defense, die im entscheidenden Moment zusammenbrach. Wo man 2016 aufgrund 21 zugelassener Punkte im vierten Viertel des für das Erreichen der Postseason ausschlaggebenden Duells gegen Pittsburgh verlor, war es nun erneut die Defensive, die im entscheidenden Moment nicht standhalten konnte.
John Harbaugh bleibt wohl Ravens-Coach
"Das Spiel stellt ein wenig den Verlauf unserer Saison dar", resümierte ein ernüchterter Head Coach John Harbaugh nach der Pleite. "Wir haben uns den ganzen Weg zurückgekämpft, schaffen es am Ende aber nicht, das Spiel zu beenden. Härter kann es nicht kommen."
Harbaughs Persona wurde trotz seiner beeindruckenden Gesamtbilanz von 94 Siegen und 66 Niederlagen bei den Ravens diskutiert. Eigentümer Steve Bisciotti bestätigte auf der jährlichen "State of the Ravens"-Pressekonferenz kurz nach der Saison sogar, dass eine Entlassung "auf jeden Fall in Betracht gezogen" wurde. Grund dafür ist das Verpassen der Playoffs, zum dritten Mal in Folge.
Inzwischen ist klar, dass Harbaugh auch für eine elfte Saison zurückkommt. Eine Verbesserung kann unter Harbaugh kommen, so die Evaluierung der Franchise. Vielleicht braucht es einfach mehr Glück. Zum Beispiel mit Hinblick auf die Verletzungen.
Die Ravens haben in der abgelaufenen Saison 17 Spieler auf der Injured-Reserved-Liste platziert. Unter ihnen waren schon früh im Jahr wichtige Säulen wie Guard Marshal Yanda und Cornerback Jimmy Smith. Baltimore hat im vergangenen Jahr 271 Mal Spieler als Abstinent aufgrund der IR-Erwähnung notiert. Eine Marke, die einen Höchstwert über die letzten sechs Jahre darstellt.
Ravens-Offense stagniert
Schon vor der Saison verlor die Offensive Line der Ravens Alex Lewis und Nico Siragusa. In Woche zwei kam die Verletzung von Yanda hinzu und dennoch fand man Wege, die Line durch verschiedene Kombinationen kompetitiv zu halten. Ab der zweiten Saisonhälfte spätestens gehörte die O-Line der Ravens wieder zu den besseren der Liga. Football Outsiders listet die Ravens-O-Line im Run-Blocking sogar auf dem ligaweit sechsten Platz mit 4,36 Adjusted Line Yards.
Verletzungen sind dementsprechend nicht das einzige Problem, mit welchem die Ravens gekämpft haben. Die Schwierigkeiten, die Offense zu bewegen, hatten nicht ausschließlich Verletzungen als Ursache. In Baltimore weist man auf das vorhersehbare Play-Calling, die generell langsame Offense und den fortschreitenden Leistungsabbau von Quarterback Joe Flacco hin. Manche erwähnen Running Back Alex Collins als einzigen Lichtblick in der Offense.
Flacco seinerseits hat sicherlich nicht die beste Saison seiner Karriere hinter sich. Nach neun Spielen standen 1.551 Passing Yards, acht Touchdowns und zehn Interceptions zu Buche, die erzielten Yards pro erfolgreichem Passversuch mit 5,33 waren der schlechteste Wert aller Quarterbacks zu diesem Zeitpunkt.
Das Joe-Flacco-Problem
Sein Spiel war von Ungenauigkeiten geprägt und Flacco war mit Sicherheit auch ein Grund dafür, dass Offensive Coordinator Marty Mornhinweg Woche für Woche übervorsichtig agierte. Fairerweise muss man hier allerdings auch erwähnen, dass das Receiving-Corps nur wenig Unterstützung leistete: Breshad Perriman, Benjamin Watson, Mike Wallace und Jeremy Maclin konnte allesamt nicht überzeugen und stehen nun vor einer ungewissen Zukunft.
Flacco rehabilitierte sich in der zweiten Saisonhälfte zumindest einigermaßen und sah wieder eher wie der Quarterback aus, den man seit drei Jahren vermisst hatte. Das immer besser funktionierende Running Game um Collins öffnete Möglichkeiten für Play Action. Die Downfield-Passing-Versuche nahmen mit dem ansteigenden Selbstvertrauen zu, genauso wie seine Zahlen: Er beendete das Jahr mit 3.141 Passing Yards, 18 Touchdowns und elf Interceptions.
Dennoch bleibt Flacco ein wandelnder Streitpunkt. Sein Vertrag limitiert die ohnehin schon begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Ravens empfindlich: Der 2013 unterzeichnete Mega-Vertrag wurde inzwischen zu geänderten Konditionen um drei Jahre verlängert - die erste finanziell vernünftige Ausstiegsoption halten die Ravens für nach der 2019er Saison. Flacco trägt 2018 einen Cap Hit von 24,75 Millionen Dollar mit sich und sieht in seinem Arbeitspapier Garantien in Höhe von 44 Millionen Dollar zugeschrieben.
Sein Preis-Leistungs-Verhältnis ist beim Team mit dem aktuell viertniedrigsten Cap Space der Liga mehr als diskutabel, doch sind Baltimore die Hände gebunden: 28,7 Millionen Dollar Dead Cap bliebe bei einer Entlassung in diesem, 16 Millionen wären es noch im nächsten Jahr und kein Team wird für Flacco mit diesem Vertrag traden. Die Ravens werden sich vorerst wohl oder übel weiter damit arrangieren, dass man Flacco bestmöglich unterstützen und dass die Defense das Team maßgeblich tragen muss.
Wie können die Ravens Cap Space schaffen?
All dies hat auch zur Folge, dass sich die Ravens mit einigen schwierigen Free-Agency-Entscheidungen konfrontiert sehen. Auf Perrimans Option für ein fünftes Jahr könnte aufgrund der ausbleibenden Leistungssteigerung verzichtet werden. Des Weiteren hat man auch die Möglichkeit, sich durch Vertragsoptionen von Maclin, Cornerback Brandon Carr und Right Tackle Austin Howard zu trennen. Dies würde insgesamt zwölf Millionen Dollar generieren.
Damit wäre schon einmal ein großes Problem der Ravens genannt: Die Wide-Receiver-Position. In der Free Agency könnten Allen Robinson und Sammy Watkins auf den Markt kommen, je nachdem wie die Jaguars beziehungsweise die Rams mit ihnen verfahren.
Man wird wohl zudem beobachten, wie sich die Dallas Cowboys im Falle Dez Bryant und die Green Bay Packers mit Jordy Nelson verhalten. Beide wären nach einem Cut der jeweiligen Teams aber Spieler, die ebenfalls nicht zu günstigen Konditionen zu haben sind. Auch Jarvis Landry wird als möglicher Trade-Kandidat in Baltimore gehandelt. Der Draft dagegen ist in diesem Jahr zumindest in der Receiver-Spitze nicht so gut besetzt, wie einige der vergangenen Jahre.
Auch eine Verstärkung in der Interior Offensive Line steht in Baltimore auf dem Programm. Die Ravens werden sehr wahrscheinlich auf Ryan Jensen und James Hurst verzichten. Außerdem herrschen aufgrund der vielen schwerwiegenden Verletzungen Unklarheiten, während Yanda im September 34 Jahre alt wird.
Ravens nun mit Defensive Coordinator Don Martindale
Weniger unklar sollte derweil die Zukunft des Gesichts der Defense aussehen: Die Ravens werden bei C.J. Mosley die Option für das fünfte Jahr in jedem Fall ziehen und sich darüber hinaus schnellstmöglich über einen langfristigen Vertrag einigen wollen. Mosley hat es in diesem Jahr bereits zum dritten Mal in den Pro Bowl geschafft.
Verabschieden könnte man sich auf der defensiven Seite wohl von Safety Lardarius Webb und Cornerback Brandon Carr. Auch diese Maßnahmen hätten Einsparungen von knapp sechs Millionen Dollar zu Folge. Nicht gänzlich geklärt ist darüber hinaus die Zukunft von Suggs. Der Linebacker tendiert zwar dazu zurückzukommen, wird sich allerdings noch einmal auf einen neuen Defensive Coordinator einstellen müssen.
Don Martindale wird künftig die Fäden bei der Ravens-D in den Händen halten. Viel zu verändern hat er hier nicht: Baltimore ist mit viel Talent auf beiden Outside-Linebacker-Positionen bestückt. Neben Suggs spielt auch Matt Judon hervorragend und so sollte man an der personellen Konstellation und der 3-4-Formation nichts verändern. Auch die Secondary gehört mit Eric Weddle, Tony Jefferson, Marlon Humphrey und einem fitten Smith zur Liga-Spitze.
Die Defense der Ravens war unter Defensive Coordinator Dean Pees zwar nie schlecht, doch tendierte sie dazu, in wichtigen Momenten Drucksituationen nicht standhalten zu können. Martindale muss hier also auch psychologische Arbeit leisten und den jungen Spielern das Selbstvertrauen geben, dass in derartigen Situationen von Nöten ist. Gleichzeitig gilt es, auf verschiedenen Positionen den Umbruch einzuleiten beziehungsweise voranzutreiben.
Situationen wie jene in der letzten Minute gegen Cincinnati dürfen nämlich nicht mehr vorkommen, wenn eine Mannschaft von einer Seite des Balles als Herzstück abhängig ist. Und auch dann nicht wenn man hohe Ziele, wie von Weddle formuliert, erreichen will: "Wir haben uns in meinen zwei Jahren hier stark verbessert. Der nächste Schritt ist es, in die Playoffs zu gehen. Nein: Die Division zu gewinnen und in die Playoffs zu gehen!"