O'Sullivan wurde 2002 in der sechsten Runde des Drafts von den New Orleans Saints ausgewählt. Es war der Auftakt einer langen NFL-Reise: New Orleans, Green Bay, Chicago, Minnesota, New England, Carolina, Detroit, San Francisco, Cincinnati, San Diego, Oakland - elf Teams über neun Jahre lernte der Kalifornier kennen; zumindest in den USA.
Dazu kamen zwei jeweils einjährige Gastspiele in der NFL Europe, beide bei Frankfurt Galaxy, sowie zum Abschluss ein Jahr in der kanadischen CFL bei den Saskatchewan Roughriders. Inzwischen hat er die Seiten gewechselt und arbeitet selbst als Coach auf dem High-School-Level - auf internationalerer Ebene sorgt er zusätzlich mit seinem YouTube-Kanal für Aufsehen, auf dem er sein Wissen über Playbooks, Quarterback-Play und seine Erfahrungen in verschiedenen NFL-Situationen teilt oder auch einzelne Kurse wie über Run Pass Options gibt.
Im SPOX-Interview spricht er über die neusten Entwicklungen von Offenses und Quarterbacks, die NFL Europe, seine Erfahrungen mit Brett Favre und Tom Brady - sowie die einzigartigen Ansätze von Bill Belichick, die ihn aus seiner Zeit bei den Patriots bis heute begleiten.
Jackson, Mahomes und Co.: Der Quarterback-Typ verändert sich
Der Draft ist jetzt rund einen Monat her, über Monate wurde über Joe Burrow, Tua Tagovailoa, Justin Herbert und Jordan Love diskutiert. Sie analysieren auf Ihrem YouTube-Kanal auch College-Quarterbacks - worauf achten Sie am meisten, wenn Sie einen Quarterback unter die Lupe nehmen?
J.T. O'Sullivan: Das ist direkt eine schwierige Frage - einer der Gründe dafür, dass es so schwierig ist, Quarterbacks zu evaluieren, ist die Tatsache, dass es keine Checkliste gibt, die man einfach abarbeiten und dann sicher sein kann, dass man den Spieler richtig einschätzt. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, auch Aspekte, die man kaum so bewerten kann. Es gibt natürlich einige Standards wie Größe, Gewicht, Athletik, Arm-Talent - aber selbst hier gibt es Unterschiede.
Gerade die letzten Jahre haben das gezeigt.
O'Sullivan: Nehmen wir Joe Burrow dieses Jahr beispielsweise. Er hat nach NFL-Maßstäben eher keinen starken Arm. Aber er hatte vermutlich die beste College-Football-Saison aller Zeiten eines Quarterbacks. Man muss das Gesamtbild sehen - und dann spielt Glück eine so große Rolle. Jeder, der da etwas anderes sagt, ist nicht ehrlich. Ich denke etwa, dass es helfen kann, wenn man sich den Weg eines Spielers anschaut. Das ist einer der Gründe, warum manche Leute bei Joe zögern oder vielleicht auch zögern sollten: Er hat es zunächst (bei Ohio State, d. Red.) nicht geschafft. Dann hat er die Schule gewechselt und hatte diese eine, magische Saison - im Gegensatz zu anderen Spielern, die mehrere Jahre auf hohem Niveau gespielt haben und bei denen man jedes Jahr Fortschritte sieht. Joe war natürlich extrem gut in diesem letzten Jahr, aber man hat nicht dieses große Gesamtpaket.
Ein erheblicher Teil dieses "Glücks" ist auch die Frage danach, wo ein Spieler landet, oder?
O'Sullivan: Absolut. Das Glück spielt auf beiden Seiten eine Rolle. Glaubt die Organisation komplett an dich und baut etwas um dich auf? Aber auch Glück dahingehend, in welches Team man kommt. Es ist ja letztlich eine merkwürdige Idee, dass man das schlechteste Team auch noch belohnt - persönlich mochte ich das europäische Modell mit Auf- und Abstieg immer, das kennt hier niemand. Wir hier sagen im Prinzip: "Du bist der beste Spieler im College, Glückwunsch, du gehst zum schlechtesten Team." Damit ist man oft auch bei einer Organisation, die am unteren Ende der Liga steht, was Kaderzusammenstellung angeht, oder die Frage danach wie sie ihr Geld investiert. An sich ist man besser dran, wenn man etwas später in der ersten Runde geht, weil man dann vermutlich bei einer besseren Organisation landet. Aber mit Glück meine ich auch den Coach zu dem man kommt, wer die eigenen Mitspieler sind, wo die in ihrer Karriere stehen. Wenn man in ein älteres Team kommt, hat man nur ein kleines Fenster. Kommt man in ein Team mit einem jungen Kern, kann man längerfristig erfolgreich sein.
Gibt es für Sie bestimmte Eigenschaften bei einem Quarterback, die er zwangsläufig haben muss? Eigenscaften, die unverzichtbar für Erfolg auf dem NFL-Level sind?
O'Sullivan: Jeder der da nicht die Accuracy als einen der größten Punkte anspricht, ist denke ich ein wenig auf dem Holzweg. Und damit meine ich nicht, dass man als Drew Brees in die Liga kommen muss, aber man muss ein gewisses Level haben und den Ball konstant akkurat anbringen können. Denn die Saison in der NFL ist länger und man wird früher oder später entlarvt, wenn man das nicht hat. Man kann daran arbeiten, Lamar Jackson ist denke ich ein gutes Beispiel dafür. Aber man muss auch ein gewisses Level in dem Bereich mitbringen. Das wäre für mich der erste Punkt.
Und Punkt Nummer zwei?
O'Sullivan: Punkt Nummer zwei geht auf die Frage, wie lange sich ein Spieler halten kann: du musst in der Lage sein, konstant gute Entscheidungen zu treffen. Accuracy und Decision-Making zusammengemischt, diese beiden Dinge sind direkt miteinander verbunden. Aber wenn wir von den Top-Quarterbacks in der NFL sprechen, dann sind die wirklich präzise mit dem Ball und treffen meistens die richtigen Entscheidungen. Sie verhindern Katastrophen und sie machen aus schlechten Plays keine Desaster. Diese Kombination führt dazu, dass man Spiele gewinnen kann. Ein weiteres Element für mich, da sich die Quarterback-Position gerade verändert, ist: man muss in der Lage sein, etwas kreieren zu können, wenn das Play zusammenbricht. Diese Fähigkeit, den Ball zu werfen, wenn die Umstände nicht perfekt sind. Manche sind hier genetisch gesegnet, aber man kann auch daran arbeiten.
Würden Sie das als generellen Trend bezeichnen? Bis vor etwa zehn Jahren war der Pocket-Passer der Goldstandard für die meisten Coaches in der NFL, aber aktuell wirkt es so, als würden wir auch in der NFL weg gehen vom klassischen Pocket-Passer, hin zu mobileren Quarterbacks, die auch Plays kreieren können.
O'Sullivan: Ich würde sogar darüber hinausgehen! Es ist mehr als ein Trend. Es war ein Trend auf den niedrigeren Leveln, so vor etwa fünf bis zehn Jahren. Aber in der NFL gibt es Beeinflussung nach oben und von oben, heißt: Wir sehen in der Liga jetzt, wie sich Dinge manifestieren, die auf dem Jugend-Level und anderen niedrigeren Level bereits seit einer ganzen Weile gemacht werden.
Insbesondere auf der Quarterback-Position?
O'Sullivan: Für sehr lange Zeit war es so, dass der beste Spieler in einem Team oder einem Programm in der Regel Running Back spielen würde, wenn der Coach das von ihm wollte. Aber jetzt sieht man die Jungs in der NFL, die auch laufen können, aber auf einem sehr hohen Level Quarterback spielen - und jetzt gibt es eine größere Anzahl Jungs, die in das System kommen und es ihren Teams erlauben, im Run Game vielseitiger zu sein. Das ist auf dem niedrigeren Level inzwischen die Norm, wo man früher eben den Pocket Passer haben wollte und darauf geachtet hat, dass der möglichst wenige Hits einsteckt. Ich selbst habe das auch lange Zeit so gesehen - aber der Quarterback ist vermutlich dein bester Athlet oder einer deiner besten Athleten. Man kann ihn auch mal selbst laufen lassen. Und diese Dinge verändern gerade das ganze Modell.
Inwieweit lässt sich das auf die NFL übertragen?
O'Sullivan: Ich denke schon, dass es da einige Unterschiede gibt. Die Spiele dauern länger, die Hits sind härter und ich bin sehr gespannt zu sehen, wie die Karrieren einiger dieser Spieler verlaufen, die so athletisch sind. Russell Wilson ist da ganz vorne mit dabei - wird er seinen Stil auch irgendwie anpassen? Einer meiner Kindheitshelden war Steve Young, ein sehr athletischer Quarterback. Er entwickelte sich in der NFL in einen echten Hybrid-Spieler, der innerhalb und außerhalb der Pocket sehr gut spielen konnte. Ich denke, das ist der Weg für die Jungs heute. Letztlich geht es darum, sich diese Qualitäten zunutze zu machen - auch wenn man seinen Quarterback, zumindest in den meisten Fällen, mal abgesehen von Lamar Jackson, nicht zehn Mal pro Spiel mit dem Ball laufen lässt. Aber das Spiel hat sich in eine Richtung entwickelt, wo man als Spieler diese Fähigkeit haben muss.
Wie verändern sich offensive Systeme in der NFL?
Da spielen generelle Scheme-Entwicklungen ja vermutlich ebenfalls eine Rolle. Auf der einen Seite haben wir die Teams, die über ihr Outside/Wide Zone Scheme kommen, auf der anderen Seite die Teams, die viel mehr Spread- und Air-Raid-Elemente einbauen, wie die Chiefs oder jetzt auch die Cardinals unter Kliff Kingsbury. Spiegelt das auch dieses Zusammenspiel wider? Reagiert die NFL mehr auf die Quarterback-Typen, die durch die Spielweise im College in die NFL kommen?
O'Sullivan: Da haben Sie jetzt viele spannende Dinge angesprochen. Und ich stimme der Grundthese zu: Auf der einen Seite haben wir diese Wide Zone Teams, basierend auf Mike Shanahans Ideen - wobei die 49ers heute deutlich vielseitiger sind - und auf der anderen Seite die Teams, die mehr auf Spread-Elemente setzen. Das fühlt sich teilweise an, als würde man in zwei Richtungen gezogen werden; vor allem wird es sehr spannend sein zu sehen, wie diese Entwicklungen weiter gehen. Denn die Liga ist in der Lage, sich sehr schnell anzupassen. Nehmen wir die Ravens als Beispiel: Baltimore entwickelte sich von einer eher klassischen Offense innerhalb kürzester Zeit in eine Offense, die wir so noch nie in der NFL gesehen haben - aufgrund eines Spielers, der neu in die Organisation kam. Ich denke, die Ravens sind dahingehend ein gutes Vorbild; nicht was das Scheme im Detail angeht, sondern die Idee, dass man sein System und seine Struktur an die Spieler anpasst. Wenn man einen Freak auf einer Position hat, sollte man das auch ausnutzen.
Also eher noch eine größere Differenzierung der Systeme?
O'Sullivan: Das kann bedeuten, dass man den Quarterback als Runner einsetzt, oder auch, dass man mehr Air-Raid-Elemente einbaut, wie es die Cardinals und Kliff machen. Es kann auch bedeuten, dass man auf ein vielseitiges Run Game in Kombination mit einer starken Defensive Line setzt, wie es die 49ers machen. All diese Teams haben philosophische Säulen, auf die sie sich stützen und um die herum sie alles aufbauen wollen. Aber es gibt nicht den einen wahren Weg und das ist ja auch der beste Part. Man kann so viele verschiedene Wege wählen. Ich finde es faszinierend, die Strukturen, die dann unter der Oberfläche sind, zu untersuchen und beispielsweise die Hintergründe der Coaches zu studieren, um zu sehen, woher sie kommen und in wie weit sie gewillt sind, sich anzupassen.
Insbesondere wenn wir von den Extremen sprechen...
O'Sullivan: Es ist viel einfacher, auf den niedrigeren Football-Ebenen Dinge zu verändern, weil man nicht direkt medial kritisiert wird. Ich selbst coache ein High-School-Team, und wenn wir etwas Ungewöhnliches ausprobieren, wird niemand darüber auf nationaler Ebene berichten. Nicht mal ansatzweise. Wir können innerhalb unseres Raums innovativer sein. wenn man in der NFL etwas ausprobiert, wie etwa ein riskantes Fourth Down auszuspielen, dann kann man ganz schnell ins Visier geraten. Da kommt die "Beeinflussung nach oben" ins Spiel. Auch die Air Raid fällt darunter, das kommt ganz klar von unten nach oben in die NFL und ich bin gespannt, wie es sich entwickeln wird.
Erwarten Sie, dass die Air Raid eine noch größere Rolle einnehmen wird?
O'Sullivan: Ich war immer ein Fan der Air Raid. Ich habe selbst nie in dem System gespielt, aber ich glaube, dass sie sehr gut funktioniert. Eine Erklärung dafür, dass sie (die "reinere Form" der Air Raid Offense, d. Red.) auf dem NFL-Level bisher noch keine so große Rolle gespielt hat, liegt denke ich darin, dass in der NFL Präzision und Timing so enorm wichtig sind. Man hat keine Zeit, um zu warten, bis Receiver frei sind, um dann den Ball zu werfen. Spieler müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein und dann kommt der Pass mit Antizipation dorthin. Das ist schwierig für die Air Raid, wo es für Receiver so häufig darum geht, offene Räume zu finden und dort auf den Ball zu warten. Es gibt viele Anpassungen auf das Verhalten der Defense - das gibt es in dem Ausmaß in der NFL nicht. Einzelne Konzepte daraus funktionieren, aber man muss einfach häufig mit Antizipation spielen.