J.T. O'Sullivan im Interview: "Patriots waren komplett anders als jedes andere Team"

Von Adrian Franke
28. Mai 202014:54
J.T. O'Sullivan berichtet im SPOX-Interview von seinen Erfahrungen unter Bill Belichick bei den Patriots.imago images
Werbung

Er spielte unter Brady, Favre und zwei Mal in Europa - und teilt seine Quarterback-Erfahrungen heute in einem YouTube-Kanal: J.T. O'Sullivan weiß, wie NFL-Offenses funktionieren; aber wie genau analysiert man eigentlich Quarterbacks? Wie entwickeln sich Offenses? Und was ist das wahre Erfolgsgeheimnis der Patriots?

O'Sullivan wurde 2002 in der sechsten Runde des Drafts von den New Orleans Saints ausgewählt. Es war der Auftakt einer langen NFL-Reise: New Orleans, Green Bay, Chicago, Minnesota, New England, Carolina, Detroit, San Francisco, Cincinnati, San Diego, Oakland - elf Teams über neun Jahre lernte der Kalifornier kennen; zumindest in den USA.

Dazu kamen zwei jeweils einjährige Gastspiele in der NFL Europe, beide bei Frankfurt Galaxy, sowie zum Abschluss ein Jahr in der kanadischen CFL bei den Saskatchewan Roughriders. Inzwischen hat er die Seiten gewechselt und arbeitet selbst als Coach auf dem High-School-Level - auf internationalerer Ebene sorgt er zusätzlich mit seinem YouTube-Kanal für Aufsehen, auf dem er sein Wissen über Playbooks, Quarterback-Play und seine Erfahrungen in verschiedenen NFL-Situationen teilt oder auch einzelne Kurse wie über Run Pass Options gibt.

Im SPOX-Interview spricht er über die neusten Entwicklungen von Offenses und Quarterbacks, die NFL Europe, seine Erfahrungen mit Brett Favre und Tom Brady - sowie die einzigartigen Ansätze von Bill Belichick, die ihn aus seiner Zeit bei den Patriots bis heute begleiten.

Jackson, Mahomes und Co.: Der Quarterback-Typ verändert sich

Der Draft ist jetzt rund einen Monat her, über Monate wurde über Joe Burrow, Tua Tagovailoa, Justin Herbert und Jordan Love diskutiert. Sie analysieren auf Ihrem YouTube-Kanal auch College-Quarterbacks - worauf achten Sie am meisten, wenn Sie einen Quarterback unter die Lupe nehmen?

J.T. O'Sullivan: Das ist direkt eine schwierige Frage - einer der Gründe dafür, dass es so schwierig ist, Quarterbacks zu evaluieren, ist die Tatsache, dass es keine Checkliste gibt, die man einfach abarbeiten und dann sicher sein kann, dass man den Spieler richtig einschätzt. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, auch Aspekte, die man kaum so bewerten kann. Es gibt natürlich einige Standards wie Größe, Gewicht, Athletik, Arm-Talent - aber selbst hier gibt es Unterschiede.

Gerade die letzten Jahre haben das gezeigt.

O'Sullivan: Nehmen wir Joe Burrow dieses Jahr beispielsweise. Er hat nach NFL-Maßstäben eher keinen starken Arm. Aber er hatte vermutlich die beste College-Football-Saison aller Zeiten eines Quarterbacks. Man muss das Gesamtbild sehen - und dann spielt Glück eine so große Rolle. Jeder, der da etwas anderes sagt, ist nicht ehrlich. Ich denke etwa, dass es helfen kann, wenn man sich den Weg eines Spielers anschaut. Das ist einer der Gründe, warum manche Leute bei Joe zögern oder vielleicht auch zögern sollten: Er hat es zunächst (bei Ohio State, d. Red.) nicht geschafft. Dann hat er die Schule gewechselt und hatte diese eine, magische Saison - im Gegensatz zu anderen Spielern, die mehrere Jahre auf hohem Niveau gespielt haben und bei denen man jedes Jahr Fortschritte sieht. Joe war natürlich extrem gut in diesem letzten Jahr, aber man hat nicht dieses große Gesamtpaket.

Ein erheblicher Teil dieses "Glücks" ist auch die Frage danach, wo ein Spieler landet, oder?

O'Sullivan: Absolut. Das Glück spielt auf beiden Seiten eine Rolle. Glaubt die Organisation komplett an dich und baut etwas um dich auf? Aber auch Glück dahingehend, in welches Team man kommt. Es ist ja letztlich eine merkwürdige Idee, dass man das schlechteste Team auch noch belohnt - persönlich mochte ich das europäische Modell mit Auf- und Abstieg immer, das kennt hier niemand. Wir hier sagen im Prinzip: "Du bist der beste Spieler im College, Glückwunsch, du gehst zum schlechtesten Team." Damit ist man oft auch bei einer Organisation, die am unteren Ende der Liga steht, was Kaderzusammenstellung angeht, oder die Frage danach wie sie ihr Geld investiert. An sich ist man besser dran, wenn man etwas später in der ersten Runde geht, weil man dann vermutlich bei einer besseren Organisation landet. Aber mit Glück meine ich auch den Coach zu dem man kommt, wer die eigenen Mitspieler sind, wo die in ihrer Karriere stehen. Wenn man in ein älteres Team kommt, hat man nur ein kleines Fenster. Kommt man in ein Team mit einem jungen Kern, kann man längerfristig erfolgreich sein.

Gibt es für Sie bestimmte Eigenschaften bei einem Quarterback, die er zwangsläufig haben muss? Eigenscaften, die unverzichtbar für Erfolg auf dem NFL-Level sind?

O'Sullivan: Jeder der da nicht die Accuracy als einen der größten Punkte anspricht, ist denke ich ein wenig auf dem Holzweg. Und damit meine ich nicht, dass man als Drew Brees in die Liga kommen muss, aber man muss ein gewisses Level haben und den Ball konstant akkurat anbringen können. Denn die Saison in der NFL ist länger und man wird früher oder später entlarvt, wenn man das nicht hat. Man kann daran arbeiten, Lamar Jackson ist denke ich ein gutes Beispiel dafür. Aber man muss auch ein gewisses Level in dem Bereich mitbringen. Das wäre für mich der erste Punkt.

Und Punkt Nummer zwei?

O'Sullivan: Punkt Nummer zwei geht auf die Frage, wie lange sich ein Spieler halten kann: du musst in der Lage sein, konstant gute Entscheidungen zu treffen. Accuracy und Decision-Making zusammengemischt, diese beiden Dinge sind direkt miteinander verbunden. Aber wenn wir von den Top-Quarterbacks in der NFL sprechen, dann sind die wirklich präzise mit dem Ball und treffen meistens die richtigen Entscheidungen. Sie verhindern Katastrophen und sie machen aus schlechten Plays keine Desaster. Diese Kombination führt dazu, dass man Spiele gewinnen kann. Ein weiteres Element für mich, da sich die Quarterback-Position gerade verändert, ist: man muss in der Lage sein, etwas kreieren zu können, wenn das Play zusammenbricht. Diese Fähigkeit, den Ball zu werfen, wenn die Umstände nicht perfekt sind. Manche sind hier genetisch gesegnet, aber man kann auch daran arbeiten.

Würden Sie das als generellen Trend bezeichnen? Bis vor etwa zehn Jahren war der Pocket-Passer der Goldstandard für die meisten Coaches in der NFL, aber aktuell wirkt es so, als würden wir auch in der NFL weg gehen vom klassischen Pocket-Passer, hin zu mobileren Quarterbacks, die auch Plays kreieren können.

O'Sullivan: Ich würde sogar darüber hinausgehen! Es ist mehr als ein Trend. Es war ein Trend auf den niedrigeren Leveln, so vor etwa fünf bis zehn Jahren. Aber in der NFL gibt es Beeinflussung nach oben und von oben, heißt: Wir sehen in der Liga jetzt, wie sich Dinge manifestieren, die auf dem Jugend-Level und anderen niedrigeren Level bereits seit einer ganzen Weile gemacht werden.

Insbesondere auf der Quarterback-Position?

O'Sullivan: Für sehr lange Zeit war es so, dass der beste Spieler in einem Team oder einem Programm in der Regel Running Back spielen würde, wenn der Coach das von ihm wollte. Aber jetzt sieht man die Jungs in der NFL, die auch laufen können, aber auf einem sehr hohen Level Quarterback spielen - und jetzt gibt es eine größere Anzahl Jungs, die in das System kommen und es ihren Teams erlauben, im Run Game vielseitiger zu sein. Das ist auf dem niedrigeren Level inzwischen die Norm, wo man früher eben den Pocket Passer haben wollte und darauf geachtet hat, dass der möglichst wenige Hits einsteckt. Ich selbst habe das auch lange Zeit so gesehen - aber der Quarterback ist vermutlich dein bester Athlet oder einer deiner besten Athleten. Man kann ihn auch mal selbst laufen lassen. Und diese Dinge verändern gerade das ganze Modell.

Inwieweit lässt sich das auf die NFL übertragen?

O'Sullivan: Ich denke schon, dass es da einige Unterschiede gibt. Die Spiele dauern länger, die Hits sind härter und ich bin sehr gespannt zu sehen, wie die Karrieren einiger dieser Spieler verlaufen, die so athletisch sind. Russell Wilson ist da ganz vorne mit dabei - wird er seinen Stil auch irgendwie anpassen? Einer meiner Kindheitshelden war Steve Young, ein sehr athletischer Quarterback. Er entwickelte sich in der NFL in einen echten Hybrid-Spieler, der innerhalb und außerhalb der Pocket sehr gut spielen konnte. Ich denke, das ist der Weg für die Jungs heute. Letztlich geht es darum, sich diese Qualitäten zunutze zu machen - auch wenn man seinen Quarterback, zumindest in den meisten Fällen, mal abgesehen von Lamar Jackson, nicht zehn Mal pro Spiel mit dem Ball laufen lässt. Aber das Spiel hat sich in eine Richtung entwickelt, wo man als Spieler diese Fähigkeit haben muss.

Wie verändern sich offensive Systeme in der NFL?

Da spielen generelle Scheme-Entwicklungen ja vermutlich ebenfalls eine Rolle. Auf der einen Seite haben wir die Teams, die über ihr Outside/Wide Zone Scheme kommen, auf der anderen Seite die Teams, die viel mehr Spread- und Air-Raid-Elemente einbauen, wie die Chiefs oder jetzt auch die Cardinals unter Kliff Kingsbury. Spiegelt das auch dieses Zusammenspiel wider? Reagiert die NFL mehr auf die Quarterback-Typen, die durch die Spielweise im College in die NFL kommen?

O'Sullivan: Da haben Sie jetzt viele spannende Dinge angesprochen. Und ich stimme der Grundthese zu: Auf der einen Seite haben wir diese Wide Zone Teams, basierend auf Mike Shanahans Ideen - wobei die 49ers heute deutlich vielseitiger sind - und auf der anderen Seite die Teams, die mehr auf Spread-Elemente setzen. Das fühlt sich teilweise an, als würde man in zwei Richtungen gezogen werden; vor allem wird es sehr spannend sein zu sehen, wie diese Entwicklungen weiter gehen. Denn die Liga ist in der Lage, sich sehr schnell anzupassen. Nehmen wir die Ravens als Beispiel: Baltimore entwickelte sich von einer eher klassischen Offense innerhalb kürzester Zeit in eine Offense, die wir so noch nie in der NFL gesehen haben - aufgrund eines Spielers, der neu in die Organisation kam. Ich denke, die Ravens sind dahingehend ein gutes Vorbild; nicht was das Scheme im Detail angeht, sondern die Idee, dass man sein System und seine Struktur an die Spieler anpasst. Wenn man einen Freak auf einer Position hat, sollte man das auch ausnutzen.

Also eher noch eine größere Differenzierung der Systeme?

O'Sullivan: Das kann bedeuten, dass man den Quarterback als Runner einsetzt, oder auch, dass man mehr Air-Raid-Elemente einbaut, wie es die Cardinals und Kliff machen. Es kann auch bedeuten, dass man auf ein vielseitiges Run Game in Kombination mit einer starken Defensive Line setzt, wie es die 49ers machen. All diese Teams haben philosophische Säulen, auf die sie sich stützen und um die herum sie alles aufbauen wollen. Aber es gibt nicht den einen wahren Weg und das ist ja auch der beste Part. Man kann so viele verschiedene Wege wählen. Ich finde es faszinierend, die Strukturen, die dann unter der Oberfläche sind, zu untersuchen und beispielsweise die Hintergründe der Coaches zu studieren, um zu sehen, woher sie kommen und in wie weit sie gewillt sind, sich anzupassen.

Insbesondere wenn wir von den Extremen sprechen...

O'Sullivan: Es ist viel einfacher, auf den niedrigeren Football-Ebenen Dinge zu verändern, weil man nicht direkt medial kritisiert wird. Ich selbst coache ein High-School-Team, und wenn wir etwas Ungewöhnliches ausprobieren, wird niemand darüber auf nationaler Ebene berichten. Nicht mal ansatzweise. Wir können innerhalb unseres Raums innovativer sein. wenn man in der NFL etwas ausprobiert, wie etwa ein riskantes Fourth Down auszuspielen, dann kann man ganz schnell ins Visier geraten. Da kommt die "Beeinflussung nach oben" ins Spiel. Auch die Air Raid fällt darunter, das kommt ganz klar von unten nach oben in die NFL und ich bin gespannt, wie es sich entwickeln wird.

Erwarten Sie, dass die Air Raid eine noch größere Rolle einnehmen wird?

O'Sullivan: Ich war immer ein Fan der Air Raid. Ich habe selbst nie in dem System gespielt, aber ich glaube, dass sie sehr gut funktioniert. Eine Erklärung dafür, dass sie (die "reinere Form" der Air Raid Offense, d. Red.) auf dem NFL-Level bisher noch keine so große Rolle gespielt hat, liegt denke ich darin, dass in der NFL Präzision und Timing so enorm wichtig sind. Man hat keine Zeit, um zu warten, bis Receiver frei sind, um dann den Ball zu werfen. Spieler müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein und dann kommt der Pass mit Antizipation dorthin. Das ist schwierig für die Air Raid, wo es für Receiver so häufig darum geht, offene Räume zu finden und dort auf den Ball zu warten. Es gibt viele Anpassungen auf das Verhalten der Defense - das gibt es in dem Ausmaß in der NFL nicht. Einzelne Konzepte daraus funktionieren, aber man muss einfach häufig mit Antizipation spielen.

Wie gestaltet man eine Offense Quarterback-freundlich?

Würden Sie aber als übergreifendes Konzept zustimmen, wenn man sagt, dass ein System heutzutage in jedem Fall Quarterback-freundlich sein sollte?

O'Sullivan: Ich will nicht zu sehr für eine andere Generation sprechen, aber ich würde vermuten, dass wenn man vor 20, 30 Jahren Coaches gefragt hätte, die meisten der Meinung gewesen wären, dass ihr System Quarterback-freundlich ist. Heutzutage meinen wir etwas anderes, wenn wir von Quarterback-freundlich sprechen. Aber ja, absolut: Es ist viel einfacher, einem Spieler beizubringen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, als das elf Spielern beizubringen. Wenn man mit dem ganzen Thema Decision-Making anfängt: Das ist keine Demokratie. Du hast einen Spieler, in den du viel Geld investiert hast, viel Kapital, viel intellektuelles Kapital. Und du musst sicherstellen, dass dieser Spieler derjenige sein kann, der den Ball verteilen kann, der bei jedem einzelnen Spiel die wichtigsten Entscheidungen auf dem Feld treffen kann. Bedenkt man dann zusätzlich, wie sich das Spiel offensiv entwickelt hat, gerade mit den Spread Offenses, dann fallen viele Entscheidungen schon vor dem Snap mit Pre-Snap-Reads, mit dem Lesen einer Seite des Feldes, dem Lesen von Schlüsseln in Run Game. In manchen älteren Offenses sind die Prozesse hier simpler, man darf sich auch mal einfach umdrehen und den Ball abgeben. Das ist eine andere Art von "Quarterback-freundlich".

Gibt es denn ganz konkret praktische Anwendungen? Wenn Sie auf ihre Zeit als Spieler und jetzt als Coach schauen: Gibt es Dinge, die dem Quarterback das Leben leichter machen, unabhängig davon, welche spezifischen Stärken er hat?

O'Sullivan: Keine Frage, ja. Für mich ist es ein Prozess - zwei Spieler und erst recht zwei Quarterbacks gleichen sich nie Eins-zu-Eins, wenn es darum geht, was man strukturell aufbaut. Was ich beispielsweise mache: Ich gebe meinen Quarterbacks früh viel Material, um zu sehen, wie viel sie davon behalten und womit sie noch auf einem hohen Level funktionieren können. Ich will ihnen die bestmöglichen Werkzeuge zur Hand geben; natürlich kann man auch mit diversen Ablenkungen und Tricks auf dem Feld arbeiten, aber wenn der Quarterback unter dem Strich nicht schnell genug spielen kann, spielt das keine Rolle. Dann wären wir besser dran, mit nur zehn verschiedenen Plays ins Spiel zu gehen. Manche können mit einer Masse an Input immer noch sehr gut spielen, andere nicht. Ich hatte das Glück, viele verschiedene NFL-Organisationen kennen zu lernen, elf insgesamt. Ich habe Quarterbacks gesehen, die mit viel Input sehr gut gespielt haben und ich habe Leute gesehen, die im Meeting super waren und Fragen beantworten konnten, aber auf dem Feld war es dann zu schnell für sie.

In dem Fall muss man dann Kompromisse finden?

O'Sullivan: Es geht darum, herauszufinden, wie wir unsere Stärken maximieren können, während wir die Balance zu dem wahren, was unser Quarterback kann. Da gibt es einige Sachen, die RPO-Möglichkeiten beispielsweise sind großartig. Aber man kann auch zu schnell zu vielseitig werden. Manchmal ist es auch gut, wenn der Quarterback für einen Snap den Ball einfach an den Running Back übergeben darf und er eine Pause bekommt. Aber in anderen Situationen werden wir dann wiederum viel verlangen. Ich denke es ist gut, reine Progression-Calls für den Quarterback zu haben, wo er einfach mit seinem Read vom ersten zum zweiten zum dritten Receiver geht, unabhängig davon, welche Coverage gespielt wird. Aber man kann dann auch ein wenig vielseitiger werden, indem man diese Reads an Fragen knüpft. Ist die Mitte des Feldes offen oder geschlossen (ein tiefer Safety im Zentrum oder zwei tiefe Safeties je auf einer Seite des Feldes, d. Red.)? Ist es Man oder Zone? Welche Coverage genau ist es? Wenn der Quarterback das erkennt oder zumindest eine Idee hat, können wir in der Art und Weise, wie wir vertikal attackieren, vielseitiger werden. Am Ende kommt man immer darauf zurück, wie viel Zeit man in die Jungs investieren kann, wie viel sie behalten können und wie schnell sie spielen können. Das gilt für die niedrigsten Level bis hin zur NFL.

Wie man ein neues Scheme lernt - und warum Adam Gase stichelte

Sie haben bereits erwähnt, dass Sie in zahlreichen verschiedenen Teams und dementsprechend auch verschiedenen Offenses gespielt haben. Haben Sie dabei - womöglich auch rückblickend - ein besonderes System oder eine offensive Idee bevorzugt?

O'Sullivan: Ich mochte viele Systeme, in denen ich gespielt habe. Die Dinge, die ich übergreifend am wenigsten mochte, war die Striktheit einiger Schemes. An irgendeinem Punkt muss man Footballspieler auch Footballspieler sein lassen und etwas Kreativität erlauben. Manche können ein Playbook exakt verinnerlichen und laufen ihre Route dann genau so, wie sie auf Papier steht. Aber in bestimmten Situationen funktioniert das vielleicht einfach nicht. Man braucht etwas Kreativität, um die Räume und Winkel zu verstehen - dieses Gespür oder Football-IQ, wie auch immer man das nennen will. In manchen Systemen wird das gefördert, in anderen unterdrückt. Ich mag Systeme, in denen es einige Kern-Prinzipien für die Struktur gibt und das "Warum?" erklärt wird. Aber dann will ich, dass die Spieler auch Plays machen können, wenn die Chance da ist. Ansonsten mochte ich es, wenn Systeme anpassungsfähig waren und sich verändern konnten. Ein System sollte so zusammengestellt sein, dass es bewusst anpassungsfähig ist und sich von einer Woche auf die nächste, von einem Drive zum nächsten oder auch von einem Play zum nächsten verändern kann. Dahin entwickelt sich das Spiel in meinen Augen. Einige Dinge aus den Schemes bleiben hängen, weil es auch einfach Konzepte gibt, die gegen alles funktionieren. Aber ich will eine Weiterentwicklung haben und neue Ideen ausprobieren.

Kann man das in ein grobes Verhältnis packen? Wie viele Systeme, die Sie kennengelernt haben, waren offener und wie viele waren strikter?

O'Sullivan: Die meisten Leute, die ihre Wurzeln in der West Coast Offense haben, denken, dass sie anpassungsfähig sind, wenn sie die Formation verändern und dann das gleiche Play spielen lassen. Das ist dann vielleicht nicht exakt das gleiche Play, aber irgendwo auch wieder schon. Dem gegenüber steht das Zahlenystem (Routes in den Play-Calls haben einzelne Zahlen, um die Route eines Receivers zu verändern muss man nur eine Zahl im Play-Call anpassen, d. Red.), bei dem man ein Play mit nur einer Ziffer komplett verändern kann. Dieser Ansatz hat mir immer besser gefallen. Aber gleichzeitig nutze ich selbst auch zahlreiche West-Coast-Konzepte nach wie vor. Am Ende ist es doch eine Mischung aus beidem. Was das Verhältnis angeht - früh in meiner Karriere war ich mehr in West Coast Offenses und kannte den Unterschied gar nicht wirklich. Aber als ich später mehr in die Zahlensysteme kam, hat mich der Ansatz fasziniert.

Wie groß sind die Unterschiede gerade in der Terminologie, wenn man von einem Scheme in ein anderes geht? Wie lange dauert es, das zu lernen?

O'Sullivan: Ich bin kein Linguist, aber ich denke, dass es da Überschneidungen zum Lernen einer neuen Sprache gibt. Es gibt diese Idee, dass die dritte Fremdsprache leichter zu erlernen ist als die zweite, weil man die allgemeinen Strukturen einer Sprache besser versteht und das dann wieder anwenden kann. Als ich in die Liga kam, war Mike McCarthy mein Offensive Coordinator und er war sehr gut darin, Football-Grundprinzipien zu lehren. Vielleicht hieß ein Play bei uns dann "Vanilla Icecream"; aber wenn es Slant/Flat ist, dann kommt man vielleicht zu einem anderen Team und das Play heißt anders - aber der Read bleibt gleich. Das wurde früh in meiner Karriere mein Ansatz: Wenn ich die Prinzipien, die dieser Protection, diesem Run Play, diesem Pass-Konzept oder was auch immer zugrunde liegen verstehen kann, dann kann ich es auch umsetzen. Egal, wie es heißt. Wenn ich in meinem Kopf die Bezeichnung übertragen kann, kann ich in jedem System spielen.

Also kannten Sie die Plays im Laufe der Zeit und haben den Play-Call jeweils für sich selbst im eigenen Kopf übersetzt?

O'Sullivan: Adam Gase (Head Coach der Jets, d. Red.) ist ein guter Freund von mir, er war bei mehreren Teams mein Quarterback-Coach. Er hat sich tatsächlich immer über mich lustig gemacht, weil wenn er mir den Play-Call gegeben hat, konnte er sehen, wie ich ein paar Mal geblinzelt habe, weil ich durch die verschiedenen Bezeichnungen die ich für das Play kannte gegangen bin, um das Play dann richtig umzusetzen. Ich habe mir gemerkt, was er mir gesagt hat, dann bin ich das Play in meinem Kopf durchgehen: Wie bezeichnen wir die Personnel-Gruppe? Wie die Formation? Was ist das Konzept? Also hab ich ein paar Mal geblinzelt und er hat dann immer gesagt: "Du siehst aus wie ein alter Computer, der etwas herunterladen muss!" (lacht) Aber für mich wurde es mit jedem neuen Team leichter. Ich musste das Play quasi immer nur durch meinen Filter jagen, aber mit der Zeit hatte ich die Terminologie jeweils schnell drauf, weil im Kern sind es letztlich doch häufig die gleichen Dinge.

Brady, Favre - und das Erfolgsgeheimnis der Patriots

Gleichzeitig haben Sie selbst auch mit einigen der größten Quarterback-Superstars zusammengearbeitet - unter anderem Brett Favre und Tom Brady. Was haben Sie daraus mitgenommen? Wo waren sie unterschiedlich?

O'Sullivan: Ja, ich hatte das Glück, mit einigen der Besten überhaupt zu arbeiten und ich habe versucht, immer - nicht nur von den Hall-of-Fame-Spielern - ein paar Details mitzunehmen. Brett war einer meiner Kindheitshelden, ich wollte so spielen wie er. Das ist natürlich etwas merkwürdig, wenn man dann mit einem seiner Helden arbeitet; aber Brett hat meine Erwartungen daran, wie er spielt und wie er trainiert, noch übertroffen. Er hat immer den Wettbewerb gesucht, dabei aber diese Freude vermittelt, die ansteckend war. Man hat sofort gemerkt, dass er das Spiel geliebt hat - und so war er jeden Tag. Das habe ich für mich mitgenommen, so zu trainieren und zu arbeiten. Ich hätte nie spielen können wie er, weil ich dafür nicht den Arm hatte. Aber auf der anderen Seite ist er ein fantastischer Geschichtenerzähler, auch in der Hinsicht ist er ansteckend und das habe ich versucht, mitzunehmen.

Und wie lässt sich das mit Tom Brady vergleichen?

O'Sullivan: Als ich Tom erlebt habe, hatten die Patriots gerade schon einiges gewonnen und er war dabei, der Beste aller Zeiten zu werden. Ich habe ihn im Training studiert, die enorm hohe Aufmerksamkeit für Details, auf die sie in New England achten - und New England generell ist in meinen Augen eine komplett einzigartige Situation. Wie Bill (Belichick, d. Red.) alles koordiniert, wie sie operieren, wie sie reden, wie sie trainieren: All das kann man nicht einfach kopieren, deshalb haben Coaches, die aus New England weg gehen, anderswo oft Probleme, weil die Patriots so einzigartig sind. Ich persönlich habe einige Dinge daraus mitgenommen, wie Bill und Tom miteinander kommunizieren und dass sie ein tiefer gehendes Verständnis für den jeweils anderen haben als die meisten Head Coaches mit ihrem Quarterback. Und ich habe gesehen, wie das entsteht, wie viel Zeit sie miteinander verbringen. Das versuche ich als Coach zu übernehmen.

Haben Sie ein Beispiel dafür, wie genau sich die Patriots im Alltag von anderen Teams unterscheiden?

O'Sullivan: Das vermutlich einfachste Beispiel ist dieses: Bill Belichick ist wahrscheinlich der einzige Head Coach, zumindest unter denen die ich erlebt habe, der ein NFL Elite Position Coach für jede Position sein könnte. Die meisten Head Coaches sind entweder in der Offense, der Defense oder im Special Teams zuhause. Ich hatte den Eindruck, dass Bill jede Position auf einem sehr hohen Level coachen könnte. In der NFL gibt es während einer normalen Trainingswoche an jedem Morgen ein Team-Meeting. Da sagt der Head Coach ein paar Worte, es geht vielleicht um ein paar Schlüsselduelle gegen den kommenden Gegner oder auch mal um logistische Details für eine Auswärtsreise. Normalerweise dauern diese Meetings etwa zehn Minuten - bei Bill war es eher eine halbe Stunde. Und er hat dabei über Offense, Defense und Special Teams gesprochen, mit Video-Beispielen zu allem. Aus dem Training, zum kommenden Gegner, aus unserem letzten Spiel. Und dann hat er uns erklärt, was wir machen müssen, um zu gewinnen. Das ging so für jede Position, und er hat dabei auch künftige Hall-of-Famer vor dem Team kritisiert. Das gibt es so bei anderen Organisationen nicht und ich denke, deshalb gibt es dieses hohe Maß an Verantwortungsbewusstsein bei den Patriots. Gleichzeitig aber sieht man deshalb vermutlich auch diese Spannungen, über die bei den Patriots immer berichtet wird. Das ganze System ist um seine Fähigkeit aufgebaut, so ziemlich jede Position coachen zu können. Und das war für mich komplett anders als bei jedem anderen Team.

Und man braucht als Coach auch ein gewisses Standing dafür, oder? Einmal das Wissen, aber eben auch das Standing, um große Spieler vor dem Team zu kritisieren. Ist das auch ein Grund dafür, dass Head-Coach-Kandidaten, die aus New England kommen, anderswo Probleme haben?

O'Sullivan: Ich denke, das ist genau richtig. Wenn Spieler die Patriots verlassen, ist es nicht selten, dass sie Dinge sagen wie: "Ich will einfach Spaß beim Football haben" - diese emotionale Befreiung, einfach weil diese permanente Spannung dort die Kultur ist. Bill kreiert das absichtlich, und natürlich hat es sehr gut funktioniert - aber ich glaube, andere Coaches haben nicht die Kapazitäten, um das umzusetzen und das ist der Unterschied: Seine Fähigkeiten zu coachen, zu lehren und zu beeinflussen.

O'Sullivan über die NFL Europe und den Umgang mit Geisterspielen

Bevor Sie zu Favre nach Green Bay kamen, spielten Sie Ihre erste von zwei Saisons in der NFL Europe bei Frankfurt Galaxy, eine Liga, die hier noch heute viele vermissen. Wie war die Atmosphäre damals aus Ihrer Sicht, was für eine Erfahrung war das für einen NFL-Spieler?

O'Sullivan: Ich hatte so viel Spaß in dieser Liga, und es macht mich auf verschiedenen Ebenen traurig, dass es sie nicht mehr gibt. Für die Fans, für das Umfeld - Frankfurt hatte tolle Fans und jede Menge Support -, aber auch für die Spieler. Insbesondere mit Blick auf die Spielerentwicklung, gerade bei Quarterbacks. Am Ende des Tages spielt innerhalb eines Teams nur ein Quarterback, und wenn man sich wirklich weiterentwickeln und verbessern will, dann braucht man eine Gelegenheit, um spielen zu können. Bei mir war es so, dass ich bei beiden Gastspielen in Europa gut genug war, dass das meinen weiteren Karrierepfad geebnet hat: Nach dem ersten Mal tradeten die Packers aufgrund meines Tapes aus Europa für mich, nach dem zweiten Mal (2007, d. Red.) war ich im Prinzip schon raus aus der NFL. Mike Martz sah mein Tape aus Europa und hat mich deshalb geholt. Das hat mir fast fünf weitere Jahre in der Liga beschert. Aber ich habe es auch persönlich unheimlich genossen. Es hat Spaß gemacht, aus diesem Amerikanismus raus zu kommen und eine globalere Perspektive zu bekommen. Als ich zum zweiten Mal drüben war, hat mein Bruder außerdem parallel Rugby in Frankreich gespielt, deshalb konnte ich viele seiner Spiele sehen und wir konnten zusammen reisen. Ich bin ein Junge aus Kalifornien, und es ist schwierig für mich, diesen schönen Ort dauernd zu verlassen. Aber das war eine tolle Zeit in meinem Leben, die ich bis heute zu schätzen weiß.

Sollte die NFL wieder mehr in eine Entwicklungsliga investieren?

O'Sullivan: Football ist einfach so teuer. Und es ist ein Sport, der unheimlich stark mit der TV-Übertragung zusammenhängt. Wenn man also keine Primetime-Liga ist, hat man nicht die Möglichkeiten, um die Einkünfte zu erzielen, die für eine Profi-Liga notwendig wären. Football ist wie gemacht für die TV-Übertragung, mit den Timeouts, mit der Zeit zwischen Plays. Wenn man sich ein Fußballspiel anschaut, ist alles so fließend und es gibt keine Unterbrechung - dann ist die Werbung irgendwo in der Ecke des Bildschirms, statt ein Spot alle paar Minuten. Football ist ideal, um hier Einnahmen zu erzielen und es ist schwierig, auf einem zweitklassigen Level darum etwas aufzubauen. Aber es wird weiterhin Versuche in der Richtung geben, einfach weil die Menschen hier Football lieben.

Und mit Blick auf die weitere Internationalisierung?

O'Sullivan: Die NFL Europe war auch deshalb so großartig, weil sie dabei helfen konnte, den Sport international wachsen zu lassen. Und das ist auch etwas, das ich jetzt bei meinem YouTube-Kanal mag: Ich kann mit Leuten aus Südamerika, Europa oder Asien kommunizieren - und es gibt einen riesigen Wissensdurst. Das Spiel wird weiter wachsen, aber ich frage mich, ob es so einen Moment geben wird, wie das "Dreamteam" bei den Olympischen Spielen 1992, das das Basketball-Interesse international auf ein komplett anderes Level gehoben hat. Ich weiß nicht, wie so etwas im Football aussehen könnte, aber das wäre faszinierend zu beobachten.

Zum Abschluss ein kleiner Ausblick: Wir könnten dieses Jahr eine sehr ungewöhnliche Saison erleben, unter anderem mit Geisterspielen. Inwieweit würde das die Spieler beeinflussen?

O'Sullivan: Ich würde es nicht in die Richtung formulieren wollen, dass die Spieler nicht gut spielen können, wenn keine Zuschauer dabei sind. Ich sehe es so: Ich hoffe, die Liga ist innovativ genug, um daraus auch Positives machen zu können. Viele Zuschauer würden nur zu gerne mehr hinter die Kulissen schauen, vielleicht etwas aus dem Huddle mitnehmen, oder offene Mikrofone an der Seitenlinie haben, womöglich Ausschnitte aus einem Meeting mitnehmen. Das wäre faszinierend. Wenn wir von der Energie in einem Stadion am Sonntag sprechen, dann ja, das ist nur schwer zu kopieren. Für viele von uns ist das gerade die neue Normalität, aber ich hoffe, dass die Liga es als Möglichkeit zur Innovation betrachtet. Und ich denke, das Spiel würde enorm davon profitieren, ein paar Blicke hinter die Kulissen zuzulassen. Dass Zuschauer womöglich sehen, wie Plays kommuniziert werden, was die XFL ja kürzlich versucht hat. Einfach neue Wege zu finden, um die Zuschauer mitzunehmen.

Also aus der Not eine Tugend machen und die Umstände nutzen, um Football zugänglicher zu machen?

O'Sullivan: Einer der Gründe, warum mein YouTube-Kanal existiert, ist, dass, als ich selbst alles über Football lernen wollte, die Informationen die ich haben wollte nicht wirklich einfach zugänglich waren. Diese Lücke will ich mit dem Kanal schließen, für Leute, die wissen wollen, was genau eigentlich auf dem Feld passiert. Was ist die Strategie? Was machen wir mit Blitzes, mit Personnel-Gruppen, mit allen möglichen exotischen Dingen? Aber wenn man ein Grundverständnis hat, ist es alles nicht mehr so kompliziert - letztlich kann man nur eine begrenzte Anzahl an Dingen mit elf Spielern machen. Ich mag den Vergleich zum Schach: Ja, die Großmeister spielen auf einem anderen Level, aber am Ende geht es darum, Muster zu erkennen. So ist es auch im Football. Und dann sieht man die Dinge mit der Zeit immer schneller. In meinen Augen gibt es den Raum für gewissermaßen eine globale Weiterbildung, aber gleichzeitig ist Football so unterhaltsam und so ideal fürs Fernsehen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es nicht auf einem hohen Level funktioniert. Selbst, wenn sie in einem Park spielen würden.